Miss- und Desinformation Der spielerische „Kampf ums Netz“

Das Kartenspiel „Fight for the Net“ zeigt auf, wie und warum Falschinformationen im Netz verbreitet werden. Die Entwickler*innen Elena Falomo und Matthias Kettemann verraten mehr über die Ziele und Hintergründe des Spiels.
Ihr Kartenspiel „Fight for the Net“ soll Spieler*innen ermutigen, einen Blick hinter die Kulissen von Fehlinformationen, Falschmeldungen, Online-Betrug und Verschwörungstheorien zu werfen. Wie ist die Idee für das Spiel entstanden?
Elena Falomo: Die Idee ist während und nach dem Onlinedialog „Online Correspondences on the EU’s Digital Futures“ entstanden, der Wissenschaftler und Kreative digital zusammenbringt.Eine Woche lang sprachen wir über Themen wie Fehlinformation, Desinformation, Hoaxes und Online-Betrug. Matthias und ich waren beide sehr daran interessiert, diese Themen insgesamt zugänglicher zu machen, wir wollten die Öffentlichkeit in ein Gespräch über die Methoden und Motive derjenigen einbinden, die beispielsweise Fehlinformationen verbreiten. Anfangs wollten wir mit den Karten von „Fight for the Net“ nur zusammenfassen, worüber wir während des Onlinedialogs gesprochen haben. Später beschlossen wir, sie in ein vollwertiges Spiel zu verwandeln, das zum Nachdenken darüber anregen soll, was öffentliche und private Akteure tun können, um demokratische Rechte im Internet zu wahren.
„Fight for the Net“ ist das Ergebnis Ihrer Forschung, Herr Kettemann, und Ihres kreativen Talents, Frau Falomo. Können Sie uns ein wenig darüber erzählen, wie Sie beide zusammenarbeiten?
Elena Falomo: Ich denke hauptsächlich über die Spielmechanik und die Charaktere nach. Dann überlegen wir zusammen, wie wir die akademische Forschung so in die Spielstruktur übersetzen können, dass sie für die Öffentlichkeit wertvoll und umsetzbar wird und den Menschen auch außerhalb des Spiels einen Mehrwert bringt.
Matthias Kettemann: Deshalb nennen wir Elena die Designforscherin und mich den Forschungsdesigner. Wir fanden es wichtig zu zeigen, wie man der Öffentlichkeit durch Gamifizierung relevante Erkenntnisse überbringen kann. Der deutsche Inlandsgeheimdienst, das Bundesamt für Verfassungsschutz, nutzt ein Kartenspiel mit Hackergruppen und Cyberkriminellen – warum sollten wir nicht auf die gleiche Weise das Bewusstsein der Öffentlichkeit für Desinformation schärfen? Es hat sich gezeigt, dass Online-Fahrsimulatoren die Reaktionszeiten von Autofahrer*innen verkürzen. Warum sollte man Menschen dann nicht auch in einer sicheren Umgebung mit den Akteuren hinter Desinformationen experimentieren lassen? Das Bewusstsein dafür ist wichtig, weil schlechte Informationsakteure eine Gefahr für unsere individuellen Rechte und den freien Informationsraum darstellen.
Das Spiel soll dieses Frühjahr veröffentlicht werden und befindet sich bereits in der Beta-Testphase. Können Sie uns mehr über die Spielmechanik verraten?
Elena Falomo: Ein wichtiges Element des Spiels sind die Policy-Karten, die reale Gesetze und Richtlinien widerspiegeln, die eingeführt wurden, um die Meinungsfreiheit und den demokratischen Diskurs im Internet zu wahren. Im Spiel können Spieler*innen mit schlechten Absichten diese Richtlinien zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzen. Genau wie in der realen Welt können Richtlinien mit einer eigentlich guten Intention für Schlechtes genutzt werden. So wie das europäische Datenschutzgesetz, die DSGVO, das die Daten und die Privatsphäre aller schützen soll, jetzt von den Reichen und Mächtigen genutzt wird, um die Online-Spuren ihrer Vergangenheit umzuschreiben.
Was möchten Sie mit „Fight for the Net“ erreichen – zeigt das Spiel auch Möglichkeiten auf, wie ein „besseres Internet“ aussehen könnte?
Elena Falomo: Das Spiel soll zum Gespräch über die Gegenwart anregen und zum Handeln animieren. Es zielt darauf ab, Menschen die unterschiedlichen Strategien und Vorgehensweisen derer, die Fehl- und Desinformationen verbreiten, Online-Betrug begehen et cetera, verständlich zu machen – und ihnen Strategien und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie reagieren können.
Der „lügende Präsident“ und der „digitale Verbrecher“: Spielkarten aus „Fight for the Net“. | Foto: © Elena Falomo
Im Spiel gehören zu den Akteuren, die Fehlinformationen verbreiten, etwa der „lügende Präsident“, der die Realität mit Fake-News verzerrt, um seine eigenen politischen Ziele voranzutreiben, oder die „Online-Karen“, deren digitale Waffe der Share-Button ist. Ein naheliegender Ansatz zur Einschränkung von Desinformation ist Zensur, die allerdings mit der Idee und dem Ideal des freien Internets kollidiert. Wie sehen Sie das? Sollten im Internet strengere Regeln gelten oder sollen sich die Nutzer*innen selbst besser schützen?
Matthias Kettemann: Wir müssen zwischen staatlichen und privaten Akteuren unterscheiden. Private Akteure können niemanden zensieren – das kann nur der Staat. Plattformen wie Facebook haben ihre eigenen Regeln und normativen Ordnungen entwickelt und setzen diese durch algorithmische Werkzeuge und menschliche Moderation durch. Wir beobachten seit langem, wie privatisierte Kommunikationsräume daraufhin optimiert werden, dass sie Menschen länger online halten. Desinformation ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, denn sie hält die Nutzer*innen online. Unternehmen werden erst jetzt von Staaten dazu animiert, Desinformation stärker zu bekämpfen, müssen dabei aber auch darauf achten, dass sie nicht zu viel löschen. Demokratische Staaten hingegen haben nur sehr begrenzte rechtliche Möglichkeiten, um Desinformation zu bekämpfen – was gut ist, denn die Meinungsfreiheit ist ein wichtiges Recht.
Elena Falomo: Zensur ist die falsche Antwort. Alle Probleme ergeben sich aus der Tatsache, dass wir das Netz als ein wesentliches und notwendiges Werkzeug für die menschliche Kommunikation betrachten, aber die zugrunde liegende Infrastruktur privatisiert und daher meistens undurchsichtig ist. Die Politik muss mehr Transparenz und den Schutz der Rechte des Einzelnen und der Gemeinschaft gewährleisten. Aber wir müssen auch in die digitale Bildung der Öffentlichkeit investieren, damit diese Themen und Instrumente für die Bürger*innen zugänglich sind und sie sich an der Neugestaltung und somit an der unmittelbaren Zukunft dieser Infrastruktur beteiligen können.
Der deutsche Satiriker Jan Böhmermann schlug kürzlich vor, Facebook zu verstaatlichen. Was halten Sie von dieser Idee?
Matthias Kettemann: Ich glaube nicht, dass die Verstaatlichung von Unternehmen Innovation fördern würde. Stattdessen sollten wir darüber diskutieren, wer in der Online-Kommunikation die Regeln festlegt und wer die Macht ausübt. Wie werden demokratische Prozesse heute sichergestellt? Wer darf sagen, was wir online sagen können? Mit dem Spiel versuchen wir zu zeigen, dass so viele verschiedene Akteure beteiligt sind und so viele unterschiedliche Interessen auf dem Spiel stehen, dass es wichtig ist, die Debatte zu komplexieren. Gut, dass die Staaten jetzt ein bisschen aufgewacht sind, und die Rechte ihrer Bürger*innen gegenüber privaten Unternehmen und anderen Internetnutzer*innen stärker schützen wollen. Wir können nicht zulassen, dass Facebook und andere Plattformen die Regeln für demokratischen Diskurs festlegen. Und wir können nicht zulassen, dass Übeltäter*innen Technologie verwenden, um der Gesellschaft zu schaden. Wir müssen sicherstellen, dass Onlineräume so offen und so frei wie möglich bleiben. Anstatt also darüber zu sprechen, Plattformen zu verstaatlichen, sollten wir versuchen, einen nicht-kommerziellen digitalen Raum zu schaffen, in dem wir unsere Meinung zu bilden und ausdrücken können – globale, kommunikative Gemeingüter für eine bessere Demokratie.
Elena Falomo: Wir sollten auch über den Konsens und seine Geschwindigkeit sprechen. Der demokratische Prozess funktioniert durch Konsensbildung und dieser Prozess hat sein eigenes Tempo. Wenn wir uns die digitale Welt und die Arbeit der Plattform-Betreiber ansehen, soll alles beschleunigt werden: „Move fast and break things“ ist ihr Motto, das nicht gut zu Gemeinschafts-orientierten und öffentlichen Prozessen passt. Was wäre, wenn wir digitale Plattformen etwas langsamer umgestalten würden? Was würde passieren, wenn Entwickler*innen mehr Zeit für Reflexion und Rationalität einräumen würden? Was wäre, wenn digitale Schnittstellen nicht darauf optimiert wären, mit unserer Emotionalität und polarisierten Sichtweise zu spielen? Die Art und Weise, wie Informationen rund um Covid-19 verbreitet wurden, hat viele Vorurteile, aber auch viele Mängel im Design dieser Schnittstellen gezeigt. Bevor wir also über Verstaatlichung sprechen, müssen wir auch über das Design sprechen.
„EU Digital Futures“
Um einen Austausch über Grenzen und Disziplinen hinweg zu fördern, veranstaltete das Projekt „Generation A = Algorithmus“ des Goethe-Instituts im Mai und Juni 2021 zusammen mit dem Grassroots-Thinktank Polis180 und mit Unterstützung des Auswärtigen Amts einen fünfwöchigen digitalen Dialog zur europäischen Digitalpolitik unter dem Motto „EU Digital Futures“. Fünf Tandems mit jeweils einem oder einer Vertreter*in aus den Bereichen Datenwissenschaft und Kunst widmeten sich in einem freien Format einem wöchentlich wechselnden Schwerpunktthema. Die Idee zu „Fight for the Net“ entstand in einer der Arbeitsgruppen.
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