Brasilianische Identität „Fast eine Unmöglichkeit“
Im Kampf gegen den finsteren, den Geschichtsbüchern entsprungenen Spuk ringt Brasilien ums Überleben. Sterben wird es aber nicht, meint Cláudio do Couto und begibt sich auf die Suche nach der brasilianischen Identität.
Es ist nicht leicht, das Gefühl von Zugehörigkeit zu beschreiben, wenn man in der Diaspora eines imaginären Landes lebt. Doch das Brasilien, zu dem ich gehöre, lässt mich weiterhin nicht unberührt und wiegt mich in seinen fließenden Grenzen, sodass ich – obwohl ich das Land, das sich derzeit innerhalb der geografischen Grenzen Brasiliens befindet, gerade nicht wiedererkenne – spüre, dass ich von nirgendwo anders her sein kann. Dieses Brasilien, zu dem ich gehöre, ist weder Geografie, Sprache, noch eine Nationalität. Es ist eine Geisteshaltung, eine nicht zu fassende Mischung, fast eine Unmöglichkeit, und wenn diese Utopie wie auch immer Gestalt annimmt, wird das Land wirklicher als jeder Name in einem Pass.Dieses Brasilien, zu dem ich gehöre, ist weder Geografie, Sprache, noch eine Nationalität. Es ist eine Geisteshaltung, eine nicht zu fassende Mischung, fast eine Unmöglichkeit.
Momente der Nacht und ein rettendes Lächeln
Unterschiedlichste afrikanische Rhythmen wurden verändert, vermengten sich mit ebenso feinsinnigen Melodien von anderswoher und schufen mit der Poesie einer lateinischen Sprache, die die Bevölkerung in 519 Jahren fast nie in vollkommener Freiheit benutzen konnte, eine unendliche Quelle der Schönheit. Die Sprache, die durch ihre Feinsinnigkeit überlebt hat, durch Poesie und Metaphern, ist eine andere Sprache, die – singend – mein Land erklärt.Die Identität dieses Brasiliens, zu dem ich gehöre, erschließt sich durch Singen, durch Farben, in Momenten der Nacht, engen Gassen, in Capoeira-Runden, im Tanz, in befreiten Körpern, in einem rettenden Lächeln, und in einem bestimmten identitären Glanz in den Augen. Dieses mein Land, das sich heute versteckt, berührt mich noch und umarmt mich plötzlich irgendwo überraschend, wenn auch mittlerweile immer seltener.
Die Angst vor dem Anderen
Das, was man derzeit in den geografischen Grenzen des formalen, institutionellen, offiziellen Brasiliens erlebt, bin ich vielleicht noch nicht bereit zu beschreiben. Ich kannte dieses Land nicht und erkenne in ihm nicht meine Identität. Es nimmt die Kraft der Diversität nicht zur Kenntnis, erdrosselt die Intelligenz, es verachtet die Liebe, unterdrückt Fröhlichkeit, es zerstört Zukunft, brennt nieder, lügt, manipuliert, tötet. Als spukten plötzlich in unserer Gegenwart finsterste Gestalten aus der Geschichte – verkörpert durch Leute, die nie ein Geschichtsbuch gelesen haben. So vollendet und voller Hass wie nur jemand, der über Jahrhunderte in Vergessenheit zwischen Büchern gefangen auf Rache gesonnen hat. Es sind die Sklavenhalter der Zuckerrohrmühlen des 17. Jahrhunderts, die ihre Peitsche zurückhaben wollen; die Industriellen des 19. Jahrhunderts, die sich nach der Unterwerfung der Arbeiter sehnen, die keine andere Wahl haben; Kleinkarierte aller Jahrhunderte, die sich nach dem Elend sehnen, das es ihnen ermöglicht, sich irgendwem überlegen zu fühlen. Personen, die jeder Erkenntnis entgegenstehen und sich nach einer kollektiven Unwissenheit sehnen, die größer als ihre ist, oder sich der Gefährlichkeit kritischen Denkens bewusst sind.Leute, die Angst vor dem anderen haben, bevölkern die Geschichtsbücher fast aller Länder, und diese Länder haben auch überlebt.
Im Namen des Widerstands
Ein Land, das Pixinguinha hervorgebracht hat, Vinícius de Moraes, Chico Buarque, Edu Lobo, Carlos Drummond de Andrade, Paulo César Pinheiro, Clara Nunes, Paulinho da Viola, Guimarães Rosa, Cartola, Dona Ivone Lara, Nise da Silveira, Mãe Menininha do Gantois, Paulo Freire, Aldir Blanc, João Bosco, Milton Nascimento, Rachel de Queiroz, Lygia Fagundes Telles, Gilberto Gil, Caetano Veloso, Tom Zé und viele andere bekannte und unbekannte Genies, Fröhlichkeit in solcher Menge und so viel Schönheit, wird vor namenlosen Sklavenhaltern nicht kapitulieren.Mögen Brasilianerinnen und Brasilianer aus anderen Ländern, Pierre Verger, Caribé, Clarice Lispector, Carmen Miranda und so viele andere, mehr werden, unsere indigenen Ethnien sich auflehnen mit aller Kraft, unsere Wälder, Flüsse und Strände ihre Schönheit weitergeben, und schließlich das ätherische, fast imaginäre Brasilien die geografischen Grenzen der Föderativen Republik Brasilien in Besitz nehmen. Wenn das geschieht, wird es auch nicht mehr schwierig sein, diese Identität zu erklären. Sie wird Fröhlichkeit ausstrahlen, Toleranz, Innovation und Schönheit – in alle Ecken der Welt.