Brasilianische Identität „Fast eine Unmöglichkeit“

Capoeira auf dem Ver-o-Peso-Markt am Flussufer in Belém, Brasilien. Capoeira ist eine afro-brasilianische Kampfkunst, die Elemente von Tanz, Akrobatik und Musik verbindet. Sie wurde von versklavten Afrikanern in Brasilien entwickelt.
Capoeira auf dem Ver-o-Peso-Markt am Flussufer in Belém, Brasilien. Capoeira ist eine afro-brasilianische Kampfkunst, die Elemente von Tanz, Akrobatik und Musik verbindet. Sie wurde von versklavten Afrikanern in Brasilien entwickelt. | Foto (Detail): Rodrigo Abd © picture alliance / AP Photo

Im Kampf gegen den finsteren, den Geschichtsbüchern entsprungenen Spuk ringt Brasilien ums Überleben. Sterben wird es aber nicht, meint Cláudio do Couto und begibt sich auf die Suche nach der brasilianischen Identität. 

Es ist nicht leicht, das Gefühl von Zugehörigkeit zu beschreiben, wenn man in der Diaspora eines imaginären Landes lebt. Doch das Brasilien, zu dem ich gehöre, lässt mich weiterhin nicht unberührt und wiegt mich in seinen fließenden Grenzen, sodass ich – obwohl ich das Land, das sich derzeit innerhalb der geografischen Grenzen Brasiliens befindet, gerade nicht wiedererkenne – spüre, dass ich von nirgendwo anders her sein kann. Dieses Brasilien, zu dem ich gehöre, ist weder Geografie, Sprache, noch eine Nationalität. Es ist eine Geisteshaltung, eine nicht zu fassende Mischung, fast eine Unmöglichkeit, und wenn diese Utopie wie auch immer Gestalt annimmt, wird das Land wirklicher als jeder Name in einem Pass.

Dieses Brasilien, zu dem ich gehöre, ist weder Geografie, Sprache, noch eine Nationalität. Es ist eine Geisteshaltung, eine nicht zu fassende Mischung, fast eine Unmöglichkeit.

Ich begegne diesem Land an vielen Orten der Welt: Wenn mir eine bestimmte Art sich zu bewegen oder zu schauen von fern auffällt, die nur von diesem Brasilien sein kann, sehe ich mein Land. Und diese Art hat kein Gesicht. Das Brasilien, zu dem ich gehöre, hat der Bewegung der Körper eine Identität gegeben, die nicht ethnisch ist, aber zugleich unverwechselbar und sehr besonders. Ich begegne diesem meinem Land auch, wenn vollkommen unterschiedliche Menschen, die sich zum Teil nicht einmal kennen, spontan miteinander Musik machen und dabei feierliche, fast mythische Fröhlichkeit ausstrahlen.

Momente der Nacht und ein rettendes Lächeln

Unterschiedlichste afrikanische Rhythmen wurden verändert, vermengten sich mit ebenso feinsinnigen Melodien von anderswoher und schufen mit der Poesie einer lateinischen Sprache, die die Bevölkerung in 519 Jahren fast nie in vollkommener Freiheit benutzen konnte, eine unendliche Quelle der Schönheit. Die Sprache, die durch ihre Feinsinnigkeit überlebt hat, durch Poesie und Metaphern, ist eine andere Sprache, die – singend – mein Land erklärt.

Die Identität dieses Brasiliens, zu dem ich gehöre, erschließt sich durch Singen, durch Farben, in Momenten der Nacht, engen Gassen, in Capoeira-Runden, im Tanz, in befreiten Körpern, in einem rettenden Lächeln, und in einem bestimmten identitären Glanz in den Augen. Dieses mein Land, das sich heute versteckt, berührt mich noch und umarmt mich plötzlich irgendwo überraschend, wenn auch mittlerweile immer seltener.

Die Angst vor dem Anderen

Das, was man derzeit in den geografischen Grenzen des formalen, institutionellen, offiziellen Brasiliens erlebt, bin ich vielleicht noch nicht bereit zu beschreiben. Ich kannte dieses Land nicht und erkenne in ihm nicht meine Identität. Es nimmt die Kraft der Diversität nicht zur Kenntnis, erdrosselt die Intelligenz, es verachtet die Liebe, unterdrückt Fröhlichkeit, es zerstört Zukunft, brennt nieder, lügt, manipuliert, tötet. Als spukten plötzlich in unserer Gegenwart finsterste Gestalten aus der Geschichte – verkörpert durch Leute, die nie ein Geschichtsbuch gelesen haben. So vollendet und voller Hass wie nur jemand, der über Jahrhunderte in Vergessenheit zwischen Büchern gefangen auf Rache gesonnen hat. Es sind die Sklavenhalter der Zuckerrohrmühlen des 17. Jahrhunderts, die ihre Peitsche zurückhaben wollen; die Industriellen des 19. Jahrhunderts, die sich nach der Unterwerfung der Arbeiter sehnen, die keine andere Wahl haben; Kleinkarierte aller Jahrhunderte, die sich nach dem Elend sehnen, das es ihnen ermöglicht, sich irgendwem überlegen zu fühlen. Personen, die jeder Erkenntnis entgegenstehen und sich nach einer kollektiven Unwissenheit sehnen, die größer als ihre ist, oder sich der Gefährlichkeit kritischen Denkens bewusst sind.

Leute, die Angst vor dem anderen haben, bevölkern die Geschichtsbücher fast aller Länder, und diese Länder haben auch überlebt.

Und wenn der einzige Weg, diese Leute wieder zurück in die Bücher zu verbannen, darüber führt, diese Bücher zu öffnen, mögen aus diesen auch solche Gestalten heraustreten, die in der Lage sind, das Brasilien entstehen zu lassen, das sein kann und sollte. Man öffne auch Schallplatten, Bilder, die Volksliteratur des Cordel, Kultstätten des Candomblé, Partituren. Möge Machado de Assis mit der Perfektion seines Schreibens gegen die Sklavenherren vorgehen, Jorge Amado mit seinen Büchern Bahia beschreiben so wie Dorival Caymmi das mit seiner Musik tut. Möge Villa-Lobos uns staunen lassen über seine Mischung von Klängen der Salons und der Wälder, João Gilberto Gitarre und Gesang neu erfinden, Tom Jobim mit Dissonanzen eine besondere Art zu gehen erläutern. Mögen Trommeln unser Herz mit Liebe füllen, auch Cavaquinhos und Klavier. Möge der Bauer mit seinen schwieligen Händen König des Congado werden, die afrikanischen Götter, die im Synkretismus zu katholischen Heiligen wurden, die zu seltsamen Christusfiguren verkehrten Dämonen austreiben. Möge ein Schwall von Intelligenz noch mehr auf Wissenschaft treffen, und was immer schon an der Schwelle zum Seienden war, endlich sein.

Im Namen des Widerstands

Ein Land, das Pixinguinha hervorgebracht hat, Vinícius de Moraes, Chico Buarque, Edu Lobo, Carlos Drummond de Andrade, Paulo César Pinheiro, Clara Nunes, Paulinho da Viola, Guimarães Rosa, Cartola, Dona Ivone Lara, Nise da Silveira, Mãe Menininha do Gantois, Paulo Freire, Aldir Blanc, João Bosco, Milton Nascimento, Rachel de Queiroz, Lygia Fagundes Telles, Gilberto Gil, Caetano Veloso, Tom Zé und viele andere bekannte und unbekannte Genies, Fröhlichkeit in solcher Menge und so viel Schönheit, wird vor namenlosen Sklavenhaltern nicht kapitulieren.

Mögen Brasilianerinnen und Brasilianer aus anderen Ländern, Pierre Verger, Caribé, Clarice Lispector, Carmen Miranda und so viele andere, mehr werden, unsere indigenen Ethnien sich auflehnen mit aller Kraft, unsere Wälder, Flüsse und Strände ihre Schönheit weitergeben, und schließlich das ätherische, fast imaginäre Brasilien die geografischen Grenzen der Föderativen Republik Brasilien in Besitz nehmen. Wenn das geschieht, wird es auch nicht mehr schwierig sein, diese Identität zu erklären. Sie wird Fröhlichkeit ausstrahlen, Toleranz, Innovation und Schönheit – in alle Ecken der Welt.