Kolonialismus überwinden Latitude: Zurück zum Punkt Null
In Yvonne Owuors Roman „The Dragonfly Sea“ sinniert eine junge kenianische Studentin darüber, dass sie sich als Bürgerin eines der 13 Länder, durch die der Äquator verläuft, am „Mittelpunkt der Welt“ befindet. Dieser geografischen Realität widersprechen ihre tagtäglichen Erfahrungen als ausländische Studentin, wenn sie immer wieder daran erinnert wird, welch geringe Bedeutung die Unermesslichkeit der Geschichte, des Wissens, der Weisheit und der Erfahrungen ihres Volkes innerhalb der geopolitischen Machthierarchien der Welt hat.
Dazu passt die Definition von „Latitude“ (Breitengrad) in Kiswahili – „mstari wa kidhahani“ (wörtlich: imaginäre Linie) – und die Art und Weise, in der solche Demarkationslinien durch unsere kollektive Vorstellungskraft zur Realität werden. Bei „Latitude“ denkt man an Entfernung. Es geht darum, zu messen, wie weit man sich von einem zentralen Punkt und von anderen Punkten außerhalb dieses Punktes fortbewegt. Nicht nur dafür machen wir einen Unterschied zwischen „Nord“ und „Süd“. Wir können uns auch Entfernungen von einem durch den Äquator dargestellten Mittelpunkt – dem Punkt Null – vorstellen. Latitude beschreibt zudem die endlosen Möglichkeiten der Vorstellungskraft, die Freiheit (oder fehlende Freiheit) des Denkens und damit des Handelns und des Seins. Und schließlich regt uns Latitude aus der Perspektive des Äquators zum Nachdenken darüber an, was es bedeutet, im Mittelpunkt zu stehen.Diese Dimensionen machen für mich die wesentlichen Schwerpunkte des Postkolonialismus in dieser historischen Ära aus, in der es um die Überwindung des Kolonialismus geht. Um das zu erreichen, benötigen wir unsere ganze Vorstellungskraft: uns eine Welt außerhalb der Weltordnung einer hegemonialen Hierarchie vorzustellen, unser Verständnis und unsere Wahrnehmung des Vertrauten infrage zu stellen und die Monozentralität zugunsten einer Vielzahl von „Punkten Null“ hinter uns zu lassen.
Im Visier: Hierarchien und Hegemonien
Auf Landkarten dienen „Breiten“ dazu, sich in der Welt zu positionieren und, metaphorisch und wörtlich betrachtet, die Entfernung zwischen einem bestimmten Standort und anderen Standorten darzustellen. In der Vergangenheit war so ein klares Konzept – des gegenwärtigen Zeitalters – der Globalisierung möglich, durch die allen Teilen der Welt auf Grundlage eines globalen Systems der imperialen Eroberung, das wir als Kolonialismus bezeichnen, bestimmte Rollen zugewiesen wurden.Komfortzone verlassen
Der erste Schritt zur Überwindung des Kolonialismus besteht darin, die durch ihn institutionalisierten ungleichen hierarchischen Strukturen endgültig und vollständig abzubauen und zu ersetzen. Beim Übergang von der Dekonstruktion zur Schaffung einer neuen Wirklichkeit stoßen wir auf eine alternative Bedeutung des Begriffs „Latitude“ und auf seinen Zusammenhang mit dem Konzept der Freiheit. In seiner positivsten Ausprägung geht es darum, auf den Flügeln der Fantasie die Grenzen des Vertrauten zu überwinden. In vielen Nationen des globalen Südens besteht die gelebte Realität in der „postkolonialen“ Ära in Teilen darin, die dem Kolonialismus zugrunde liegende Logik zu übernehmen und zu normalisieren. Paradoxerweise hat dies eine weitere Ausbreitung des Übels zur Folge, auch wenn die Unabhängigkeit die äußere Fassade in einen vermeintlich gutartigen Schatten verwandelt hat. Damit soll nicht dem Kolonialismus die Schuld für all das gegeben werden, was in diesen Ländern schiefgelaufen ist. Vielmehr soll aufgezeigt werden, in welcher Form strukturelle Ungleichheiten, Hierarchien und Hegemonien die Zeit überdauern konnten.Vielfalt gelebter Realitäten
Beim zweiten Schritt zur Überwindung des Kolonialismus geht es darum, die Grenzen zu hinterfragen, die unser Denken und Handeln einschränken, wo und wer auch immer wir sein mögen. Ungeachtet der Tatsache, in welcher Form diese Grenzen festgelegt und/oder beibehalten wurden, replizieren sie kolonialistische Denkmuster, Prozesse, institutionelle Rahmenbedingungen und Privilegien. Paradoxerweise stammen viele der Protagonist*innen, die heute für die schlimmsten Exzesse dieser kolonialen Ordnung stehen, aus den in die Unabhängigkeit entlassenen Gebieten. Eine Überwindung des Kolonialismus setzt voraus, dass wir die Reichhaltigkeit und Vielfalt der gelebten Realitäten anerkennen, die über seine engen Grenzen hinaus weiterbestanden und sich ausgebreitet haben. Es bedeutet, dass wir uns erneut den Geschichten und kollektiven Erinnerungen zuwenden, die vernachlässigt, ignoriert, falsch dargestellt oder heruntergespielt wurden.Es bedeutet auch, uns von Praktiken zu verabschieden, die Privilegien begünstigen, auch wenn sie das Gegenteil bezwecken, wie die unnötige Etikettierung von geschichtlichen Ereignissen oder Diskursen als prä‑ oder postkolonial.
„Eine Überwindung des Kolonialismus setzt voraus, dass wir die Reichhaltigkeit und Vielfalt der gelebten Realitäten anerkennen, die über seine engen Grenzen hinaus weiterbestanden und sich ausgebreitet haben.“
Dafür ist es entscheidend, genauer zu definieren, was wir wissen und woher wir es wissen, und die Realitäten und Möglichkeiten zulassen, die den vereinfachenden Dualitäten trotzen, welche dem Begriff „Latitude“ häufig anhaften. Wir werden gezwungen, auf unser eigenes Wissen zurückzugreifen, anstatt das Recht auf eigenes Denken und Handeln an andere abzutreten, deren Erfahrungen, Wahrnehmungen und Auffassungen möglicherweise nicht mit unseren übereinstimmen. Auf diese Weise erkennen wir, wie komplex die schönen und wertvollen Dinge in dieser Welt sein können, die nun erneut unseren Punkt Null verkörpert.