Koloniale Vergangenheitsbewältigung In Spanien steht sie noch aus

Kolonialzeit: Junge Rekruten im Ausbildungsbataillon in Sidi Ifni, 1963-64.
Junge Rekruten im Ausbildungsbataillon in Sidi Ifni, 1963-64. | Foto (Detail) © César Malet (AFB)

In Spanien gibt es immer mehr Kunst- und Forschungsprojekte, die gegen den kolonialen Gedächtnisverlust ankämpfen. Sie werden jedoch kaum wahrgenommen und der fehlende politische Wille zur Aufarbeitung ist eine nur schwer zu durchbrechende Mauer.

Vergangenheitsbewältigung ist in Spanien eine undankbare Angelegenheit. Die Sieger des Bürgerkriegs (1936–1939) setzten in Bezug auf die Interpretation der Geschichte ihre kulturelle Hegemonie durch. Es wurden Mythen über eine uneigennützige Kolonialisierung von Amerika verbreitet oder auch über das Testament von Isabella I., in dem die christlichen Truppen dazu angehalten wurden, die im Mittelalter mit der Rückeroberung der muslimisch beherrschten Teile der iberischen Halbinsel („Al-Andalus“) begonnene Heilsmission in Nordafrika fortzusetzen. Beim Übergang zur Demokratie wollte man die Gemüter des so genannten „soziologischen Franquismus“ nicht übermäßig strapazieren und war kaum darum bemüht, eine andere offizielle Vergangenheitsbewältigung zu entwickeln, die nicht von einer moralischen und politischen Überlegenheit des vorausgegangenen Regimes ausging. Das 1977 unter enormen politischen Spannungen verabschiedete Amnestiegesetz machte die Sache nicht einfacher, weil es das Vergessen als einzige wirksame Strategie für die Aussöhnung der Spanier propagierte. Es ist also kein Wunder, dass man im heutigen Spanien etwa der Vernichtung und Plünderung indigener Völker in der Neuen Welt oder den bescheidenen Kolonialerfahrungen in Afrika, mit denen man bis heute nicht abgeschlossen hat, wie etwa am Beispiel Westsahara zu sehen ist, unkritisch und gleichgültig gegenübersteht. Viele europäische Länder unterziehen ihre Kolonialvergangenheit und deren Hinterlassenschaften einer mehr oder weniger überzeugenden Überprüfung. In Spanien hingegen herrscht diesbezüglich weiterhin ein Gedächtnisverlust, der wohl auch in Zukunft fortbestehen wird.

Die Kunst als Motor der Aufarbeitung

Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte versuchten allerdings auch zahlreiche Initiativen, gegen das Vergessen anzukämpfen. Das Problem besteht demnach nicht darin, dass es an Projekten und Bemühungen einzelner Personen und Gruppen fehlt, sondern in deren Wahrnehmung. Eine erste Sensibilisierung für das schwierige koloniale Erbe gab es bereits seit den 1980er Jahren allerdings auf den akademischen Kontext beschränkt. Mmit Beginn des 21. Jahrhunderts erhielt die Debatte, die in anderen europäischen Metropolen zu diesem Zeitpunkt bereits intensiver geführt wurde, durch neu entstehende künstlerische Forschungsprojekte neue Impulse. Das erste dieser Projekte waren vielleicht die OVNI-Archive (Observatorio del Vídeo No Identificado), eine Idee des Centro de Cultura Contemporánea de Barcelona unter der Leitung des verstorbenen Toni Serra (alias Abu Ali), der 2006 das wegweisende Medienfestival El sueño colonial (Der koloniale Traum).

Aus Initiativen werden Netzwerke

Die OVNI-Ausstellung war die Speerspitze verschiedener seitdem häufiger anzutreffender Initiativen. 2010 organisierte das Centro de Arte Reina Sofía (MNCARS) in Madrid die Gemeinschaftsausstellung Principio Potosí (Das Potosí-Prinzip) mit einer Vielzahl spanischer und internationaler Künstler. Ihnen allen war es ein Anliegen, im Einklang mit der Strömung des Dekolonialismus die Gemeinplätze zu überdenken, welche die Entstehung des Kapitalismus mit der industriellen Revolution in Großbritannien in Verbindung bringen. Stattdessen werden andere Aspekte und das 16. Jahrhundert stärker in den Vordergrund gerückt, wie der Abbau der Rohstoffvorkommen im Zuge der spanischen Kolonialisierung, etwa in den berühmten Silberminen von Potosí in Bolivien. Die reichhaltigen Erfahrungen aus der Ausstellung Principio Potosí und die weltweite Wahrnehmung von Debatten zum Thema Kolonialismus führten vielleicht dazu, dass das MNCARS 2012 die Grupo Península organisierte und sich mit dem Netzwerk Red de Conceptualismos desde el Sur zusammenschloss. In den darauffolgenden Jahren beteiligten sich beide Teams an zahlreichen Aktivitäten des Museums. So entwickelte sich das Centro de Arte Reina Sofía zur wichtigsten spanischen Institution, die Debatten zum Thema Kolonialismus organisierte, wobei der Schwerpunkt auf den Erfahrungen in Lateinamerika lag, während in Barcelona die Kolonialversuche der Moderne in Afrika scheinbar größeres Interesse wecken.

Peru, Ikunde, Ifni

Die katalanische Hauptstadt unterhielt in der Kolonialzeit bedeutende Handelsbeziehungen zu Äquatorialguinea. Ab 2015 wurde vermehrt die Rolle des katalanischen Bürgertums im spanischen Kolonialreich und seine städtebaulichen Spuren kontrovers diskutiert. Ein Beispiel hierfür sind die Aktionen der Künstlerin Daniela Ortiz – zum letzten Mal 2019 im Virreina Centre de la Imatge unter dem provokanten Titel Esta tierra jamás será fértil por haber parido colonos (Dieses Land wird niemals fruchtbar sein, weil es Kolonisten hervorgebracht hat) – oder die Ausstellungen im Rahmen des Projekts Barcelona, metròpoli colonial (Kolonialmetromole Barcelona), die das Team des Observatori de la Vida Quotidiana (OVQ) im Museu Etnològic i de Cultures del Món organisierte. Sie beschäftigten sich mit dem Zentrum für die Akklimatisierung von Tieren, das die Stadtverwaltung von Barcelona in Kontinentalguinea eröffnete (Ikunde, 2016) und mit den Erlebnissen katalanischer Rekruten, die in die Kolonialenklave Ifni geschickt wurden, um dort ihren Militärdienst zu leisten (Ifni: la mili africana de los catalanes, 2018).

Zu diesen Aktivitäten sind in den vergangenen Jahren weitere hinzugekommen, wobei sich die Initiativen vervielfältigt haben und geprägt sind von einer immer größeren Dezentralisierung: Die Aktionen von Inés Plasencia im Kulturzentrum Tabakalera in San Sebastián (The day after. Imagen y memoria de la España colonial (Der Tag danach. Bild und Erinnerung des kolonialen Spaniens), 2016) oder von Juan Valbuena (Ojos que no ven, corazón que no siente (Augen, die nichts sehen, Herz, das nicht fühlt), 2016) oder erst kürzlich die Retrospektive zu Ariella Azoulay in der Fundació Tàpies in Barcelona (Errata (Druckfehler), 2019) sind gute Beispiele für diese zunehmende Stimmenvielfalt. Es mangelt nicht an Projekten und Erfahrungen, sondern an politischem Willen, ihnen mehr Geltung zu verschaffen, um dazu beizutragen, dass ein allzu selbstgerechter Umgang mit der Vergangenheit revidiert wird und in Spanien bisher fehlende grundsätzliche kritische Debatten geführt werden, etwa über die Rückgabe von Objekten, die in der Kolonialzeit geplündert wurden.