Schwarze Frauen in der Bibliothek Warum nicht auch Schwarze Schriftstellerinnen lesen?

Carine Souza und Juliane Sousa, Koordinatorinnen von „Mulheres Negras na Biblioteca“
Carine Souza und Juliane Sousa, Koordinatorinnen von „Mulheres Negras na Biblioteca“ | Foto (Detail): © Guilherme Menezes

Wie viele Schwarze Autorinnen haben Sie schon gelesen? Die Frage ist eher als Einladung der Gruppe „Mulheres Negras na Biblioteca“ (Schwarze Frauen in der Bibliothek) zu verstehen, die sich 2016 gründete. Ziel ist es, Literatur brasilianischer und ausländischer Schriftstellerinnen zu verbreiten, die in Brasilien – einem Land, in dem mehr als die Hälfte der Bevölkerung afrikanischer Abstammung ist – historisch gesehen nicht sichtbar sind. Carine Souza, auf deren Initiative das Projekt zurückgeht, spricht über die Herausforderung, solche Werke in den Bestand öffentlicher Bibliotheken und an Leser*innen zu bringen.

Frau Souza, wie stellten Sie fest, dass in Bibliotheken die Werke Schwarzer Autorinnen fehlen?

Bevor ich die Ausbildung zur Bibliothekarin machte, studierte ich schon Literaturwissenschaft und fragte in einem Seminar über afrikanische Literatur den Dozenten nach Schwarzen Autorinnen – Frauen – und er sagte, er kenne keine. Das beunruhigte mich dermaßen, dass ich andere Schwarze Studentinnen zusammenrief, und wir beschlossen nach Autorinnen zu recherchieren und einen Lesekreis über Schwarze Dichterinnen zu gründen, an dem sich schließlich mehr als 800 Personen beteiligten. Später begann ich die Ausbildung zur Bibliothekarin und suchte nach dieser früheren Erfahrung in der Bibliothek nach Werken Schwarzer Autorinnen. Ich suchte nach bekannten Namen wie Carolina Maria de Jesus, Maria Firmina dos Reis, Conceição Evaristo ... und fand keine davon. Also tat ich wieder dasselbe: Ich rief die Schwarzen Kolleginnen zusammen und wir setzten uns dafür ein, Bücher in die Bibliothek zu bekommen und zum Lesen dieser Autorinnen zu animieren.

Fällt diese Wahrnehmung zusammen mit Ihrem eigenen wachsenden Bewusstsein dafür, Schwarz zu sein? Wie war das?

Während des Studiums und meiner Ausbildung war ich mitten in diesem Prozess, mich selbst als Schwarz zu begreifen. Ich bin eine Schwarze Frau mit heller Haut, die von der Gesellschaft als Schwarz oder nicht Schwarz angesehen wird, je nach Situation. Ich suchte nach meiner Identität, suchte überall nach Schwarzen Frauen und lebte in diesem Unbehagen, keine Schwarzen Autorinnen zu kennen und keinen Zugang zu ihnen zu haben. Ich besuchte viele Diskussionen über Rassismus, Negritude und das Verhältnis der Hautfarben in Brasilien. So kam ich auf das Thema der historischen Auslöschung Schwarzer Frauen und der Unsichtbarkeit der Erzählungen Schwarzer Frauen im Allgemeinen und in der Literatur.

Sie haben in einer wissenschaftlichen Studie die Abwesenheit Schwarzer Autorinnen in öffentlichen Bibliotheken in São Paulo nachweisen können. Wie rechtfertigten sich diese Institutionen?

Das städtische Bibliothekennetz von São Paulo hat uns geantwortet und seine Kriterien für die Zusammenstellung von Sammlungen genannt, wie zum Beispiel, dass Werke auf Bestsellerlisten stehen oder bei großen Verlagen erscheinen. Kriterien, die aus meiner Sicht eher Hindernisse darstellen, denn sie sind Ausdruck des Buchmarkts und nicht einer Politik der Inklusion. Ich kenne Autorinnen, die selbst drucken lassen, in kleinen Verlagen erscheinen oder ihre Bücher von Hand herstellen, heften, einbinden. Diese Bücher kommen nie in die Bibliothek. Was mich aber am meisten alarmierte, war die Antwort, dass es keine Nachfrage gebe nach diesen Autorinnen. Natürlich nicht! Denn das Publikum, das sich am meisten für diese Bücher interessieren würde, also Schwarze Frauen, sieht sich in der Bibliothek nicht repräsentiert. Das Publikum kennt diese Autorinnen überhaupt nicht.

Lässt sich eine Veränderung feststellen in den Beständen und beim Publikum, jetzt, wo „Mulheres Negras na Biblioteca“ aktiv sind?

Es ist eine Arbeit der kleinen Schritte. Aber unter dem Strich ist die Entwicklung positiv. 2018 hat uns das städtische Bibliothekennetz von São Paulo eingeladen, an einer Veranstaltung teilzunehmen. Im Gegenzug baten wir darum, die Bücher aus unserer Liste Schwarzer Autorinnen zu erwerben, fast 200 Titel, und sie sind der Bitte nachgekommen. Unsere ganze Aktivität richtet sich darauf, das Lesen dieser Bücher zu vermitteln. Wir veranstalten Leseklubs, haben 14.000 Follower*innen auf Instagram, haben die Rückmeldung von zahlreichen Bibliothekarinnen, die sagen, dass sie von uns angeregt eigene Projekte durchführen.
Rassismus – Gesprächsrunde des Projekts „Mulheres Negras na Biblioteca“ Gesprächsrunde des Projekts „Mulheres Negras na Biblioteca“ | Foto (Detail): © Guilherme Menezes ‚Wie viele Schwarze Autorinnen haben Sie schon gelesen?‘ – die Frage ist ein Instrument der Vermittlung. Leute, die sich nie darüber Gedanken gemacht haben, fangen an nachzudenken. Manchen mag das nicht gefallen, sie sagen: „Wenn ich lese, denke ich nicht an die Hautfarbe oder an das Geschlecht der Person, die da schreibt; das sind doch Vorurteile.“ Und wir sagen: „Dass du dir diese Gedanken nicht machst, ist genau das Problem. Du merkst nicht einmal, dass du diese Autorinnen nicht liest und weißt nicht einmal, dass es sie gibt.“ Man muss den Blick auf die Autorinnen und Autoren richten, auf ihre ethnische Zugehörigkeit, ihre Zeit und ihr Land, um die Lektüre in einen Kontext stellen zu können.

Eine Studie hat kürzlich festgestellt, dass mehr als 70 Prozent der zwischen 2004 und 2014 von großen brasilianischen Verlagen veröffentlichten Schriftsteller*innen männlich und zu 97 Prozent weiß waren. Haben wir da, wie Chimamanda Ngozi Adichie sagt, die „Gefahr einer einzigen Geschichte?“

Chimamanda Ngozi Adichie warnt, dass die Gefahr der aus einer einzigen Perspektive erzählten Geschichten das Entstehen von Stereotypen ist. Die von Regina Dalcastagnè von der Universität Brasília koordinierte Studie hat außerdem gezeigt, dass nur 6,9 Prozent der in Romanen beschriebenen Figuren Schwarze sind und nur 4,5 Prozent tatsächlich Protagonist*in des Romans. Regelmäßig befinden sich Schwarze Frauen in Situationen der Unterwürfigkeit und Schwarze Männer sind in kriminelle Aktivitäten involviert. Wenn ich immer nur dieses Bild sehe, glaube ich irgendwann daran. Alle verinnerlichen diese Stereotype. Das ist sehr gefährlich.

Können Sie uns drei Schwarze Autorinnen nennen, die wir als Referenzen in der brasilianischen Literatur ansehen können?

Ich beginne mal mit Maria Firmina dos Reis, die nicht nur die erste Schwarze Schriftstellerin, sondern die überhaupt erste Frau in Brasilien war, die einen Roman schrieb, im 19. Jahrhundert, Úrsula (1859). Das war ein Meilenstein, aber es reichte nicht, um im Unterricht behandelt zu werden. Das ändert sich mittlerweile. Wir haben Carolina Maria da Jesus, die mit Quarto de Despejo (1960, Tagebuch der Armut) in Brasilien einen Bestseller geschrieben hat und eine der meistgelesenen brasilianischen Autorinnen im Ausland ist. Sie ist eine sehr wichtige Referenz für Schwarze Frauen, die schreiben, weil sie keinem der Schriftsteller*innen-Stereotype in Brasilien entspricht: Sie wohnte in der Favela, litt Hunger und schrieb auf Papier, das sie aus dem Müll sammelte. Und wir haben Geni Guimarẽs, die mit ihrem Erzählband A cor da ternura (1989) – ein autobiografisches Buch, in dem es um Rassismus geht – die wichtigste Auszeichnung für brasilianische Literatur, den Prêmio Jabuti, bekam.

Die Schriftstellerin Cidinha da Silva sieht ihre Einordnung als Schwarze Schriftstellerin kritisch. Wie hoch ist das Risiko, dass die Initiative Schwarzer Frauen in der Bibliothek als Projekt angesehen wird, das diese Autorinnen alle in eine Schublade steckt?

Die Frage ist berechtigt. Cidinha da Silva schreibt über alle möglichen Themen aus unterschiedlichen Perspektiven, und es stört sie, in diese Schublade gesteckt zu werden. Jamaica Kincaid, eine Schriftstellerin aus Antigua und Barbuda, die in den USA lebt, äußert sich ähnlich. Als sie in den 1990er‑Jahren in Brasilien ihren Roman Lucy veröffentlichte, sagt sie einer Zeitung, sie wolle nicht, dass die Leute sie lesen, weil sie Schwarz ist, sondern eine gute Autorin. Die  US‑Amerikanerin Toni Morrison dagegen beansprucht diese Position als Schwarze Schriftstellerin, was ebenso legitim ist. Ich finde diese Debatte sehr wichtig, denn wenn wir unterschiedliche Schwarze Autorinnen zusammen in einer Bibliothek hervorheben, dann, um eine historische Korrektur dieser Literatur zu bewirken. Wir behaupten gar nicht, es sei alles dasselbe, sondern zeigen lediglich, dass es auch Schwarze Frauen gibt, die schreiben. Wir sagen den Leuten auch nicht, sie sollen nur noch Schwarze Schriftstellerinnen lesen, sondern eher: warum nicht auch einmal Schwarze Schriftstellerinnen? Schon einmal darüber nachgedacht?


Das Interview führte Tânia Caliari.