Postkoloniale Verantwortung „Das Abkommen ist eine Beleidigung“

Vekull Rukoro (Ovaherero Traditional Authority) legt am 07. Juli 2015 auf dem Garnisonsfriedhof in Berlin Blumen am Gedenkstein für die Opfer der deutschen Kolonialherrschaft im heutigen Namibia nieder.
Vekull Rukoro (Ovaherero Traditional Authority) legt am 07. Juli 2015 auf dem Garnisonsfriedhof in Berlin Blumen am Gedenkstein für die Opfer der deutschen Kolonialherrschaft im heutigen Namibia nieder. | Foto (Detail): Stephanie Pilick © picture alliance / dpa

Ohne die Nachkommen miteinzubeziehen, handelten die deutsche und die namibische Regierung ein Aussöhnungsabkommen zum Völkermord an den Ovaherero und Nama aus, den deutsche Kolonialtruppen Anfang des 20. Jahrhunderts verübten. Ngondi Kamatuka analysiert die Versäumnisse des Abkommens.
 

Wie stehen Sie als einer der Nachkommen der Ovaherero und Nama zu dem Aussöhnungsabkommen, das die deutsche Regierung mit dem namibischen Staat geschlossen hat?

Zunächst einmal möchte ich einige grundlegende Fakten liefern zu Otjitiro Otjindjandja, dem Wort für Genozid in der Otjiherero‑Sprache, und !Gam-#ui, dem Ausdruck für Völkermord in der Nama‑Sprache. Deutsche Siedler verübten sexuelle Gewalttaten an Ovaherero- und Nama‑Mädchen und -Frauen. Den Opfern standen keinerlei Rechtsmittel zur Verfügung. Deshalb erhoben sich die Ovaherero am 12. Januar 1904 gegen die deutschen Siedler. Die deutsche Antwort war eine von 1904 bis 1908 währende Militäraktion durch die so genannte Schutztruppe, mit etwa 14.000 Soldaten.

Das Resultat war verheerend. 65.000 Ovaherero – 81 Prozent der gesamten Ethnie – und 10.000 Nama, was 50 Prozent der Nama‑Bevölkerung entsprach, wurden ermordet. Namibia existierte in jenen Jahren des Völkermords nicht. Damit beging Deutschland Genozid an den Ovaherero und der Nama, nicht gegen den Staat Namibia.

Das Abkommen verwendet den Begriff „Aussöhnung“. Aussöhnung erfordert, dass zwei Parteien, die ihre Differenzen kriegerisch beigelegt haben, sich hinsetzen und über die Verfehlungen sprechen, für die eine Aussöhnung angestrebt wird. Bis heute hat Deutschland diese Verfehlungen an sich nicht anerkannt. Der deutsche Staat hat sich nicht in Demut vor den Ovaherero und Nama gebeugt und nicht um Vergebung gebeten. Der deutsche Staat hat das Massaker nicht als Völkermord bezeichnet. Die deutsche Regierung erklärte lediglich, dass die Ereignisse „aus heutiger Sicht“ als Genozid betrachtet werden könnten.

Was mit der Ovaherero- und Nama‑Bevölkerung zwischen 1904 und 1908 geschah, war ein Völkermord. Manche sagten voraus, dass weder die deutsche noch die namibische Regierung diese historische Tatsache in einem möglichen Abkommen anerkennen und sich stattdessen für die Verwendung von Euphemismen wie „unglückliche Geschichte“ entscheiden würden, um das Ereignis zu beschreiben und so die Tatsache zu bagatellisieren, dass das Deutsche Reich bewusst die beinahe völlige Vernichtung der Ovaherero und Nama Gemeinschaften verursachte. Das ist genau das, was bei dem Abkommen dann auch passierte.

Die Verhandlungen schlossen bewusst die Ovaherero Traditional Authority (OTA) unter Führung des kürzlich verstorbenen Oberhäuptlings und Rechtsanwalts Vekuii Rukoro sowie die von Gaob Johannes Isaack geleitete Nama Traditional Leaders Association (NTLA) aus. Deutschland, also die schuldige Partei, hat beschlossen, dass die Tötung von Zehntausenden von Ovaherero und Nama und deren gestohlenes Land 1,1 Milliarden Euro wert sind, die über einen Zeitraum von 30 Jahren ausgezahlt werden sollen. Dieses Abkommen ist eine Beleidigung für die Ovaherero und die Nama.  

Was müsste passieren oder sich ändern, damit die Ovaherero und Nama ein Abkommen akzeptieren?

Sowohl Deutschland als auch Namibia haben die UN‑Deklaration der Rechte indigener Völker von 2007 unterzeichnet, die Indigenen Ethnien das Recht gibt, durch Vertreter*innen ihrer Wahl an Entscheidungsprozessen zu allen sie betreffenden Angelegenheiten beteiligt zu sein. Dagegen haben beide Regierungen verstoßen.

Wir, die Ovaherero und Nama, haben das naturgegebene Recht und die Kapazität, für uns selbst zu sprechen. Die deutsche Regierung muss direkt mit der OTA und der NTLA verhandeln. Sie repräsentieren 98 Prozent der Nachfahren der Ovaherero und Nama, einschließlich der Menschen in der Diaspora.

Wir, die Nachkommen, waren schon immer der Meinung, dass die namibische Regierung unsere Interessen nicht angemessen vertreten kann, und sind zutiefst überzeugt, dass jegliche Bedingungen, die die deutsche und namibische Regierung ohne uns aushandeln, nicht letztgültig oder für Ovaherero und Nama verbindlich sein können. Die Regierung von Namibia hat kein Recht, für die Ovaherero und Nama in der Diaspora in Botswana, Südafrika, den Vereinigten Staaten und anderswo zu sprechen.

Das Abkommen muss verworfen werden. Deutschland muss direkt mit den Ovaherero und Nama verhandeln. Das ist der einzige Weg nach vorn. Jetzt ist es an den deutschen Bürger*innen, dies von ihrer Regierung einzufordern.

Die deutsche Regierung stellte klar, dass es sich bei den Zahlungen nicht um „Reparationen“ im rechtlichen Sinne handelt. Warum ist den Ovaherero und Nama die Anerkennung als „Reparationen“ wichtig?

Die Frage, die gestellt werden sollte, lautet: Was ist zu reparieren? Die Ovaherero- und Nama‑Gemeinschaften haben ohne jede Entschädigung 130.000 Quadratkilometer ihres Landes an die deutschen Kolonialisten verloren. Ein Großteil der Bevölkerung wurde ermordet.

Reparationen an die Ovaherero und Nama werden als Mittel gesehen, mit dem zumindest ein Anflug von Gerechtigkeit erreicht werden könnte.

In einer Petition verlangt eine Reihe von Sprecher*innen verschiedener Ovaherero- und Nama‑Organisationen, dass die Gelder statt an die namibische Regierung direkt an die Nachkommen gehen sollten. Warum ist es so bedeutend, dass die  Nachkommen die Gelder direkt  erhalten, und inwiefern würden sie diese anders einsetzen und verteilen?

Ich unterstütze die Petition. Zunächst einmal haben die Nachkommen nicht bekannt gegeben, wie die Gelder ausgegeben werden sollen. Aber ich bin sicher, dass unter der Schirmherrschaft von OTA und NTLA in den Ovaherero- und Nama‑Gemeinschaften in Namibia, Botswana, Südafrika und anderen in der Diaspora ein Prozess umfassender Konsultationen stattfinden wird.

Gemeinsam werden sie entscheiden, wie die Mittel eingesetzt und welche Projekte finanziert werden sollen, darunter auch der Rückkauf von Teilen des gestohlenen Landes. Korruption ist in der namibischen Regierung endemisch. Wir werden die Reparationsgelder nicht einer korrupten Instanz anvertrauen. Reparationsverhandlungen sollten zudem von Deutschland die Gewährung einer Meistbegünstigungsklausel für Namibia verlangen, um deutsche Märkte für namibische Güter zu öffnen.

Welche Reaktion wünschen Sie sich von der namibischen Regierung? Und welche weiteren Entwicklungen erwarten sie zwischen Namibia und Deutschland?

Am 26. Oktober 2006 verabschiedete die Namibian National Assembly – das Parlament – eine Entschließung, die festlegte, dass die namibische Regierung als interessierte Partei bei allen Verhandlungen mit der deutschen Regierung sicherzustellen hat, dass Ovaherero und Nama nicht ausgeschlossen werden. Hage Geingobs Regierung handelte jedoch gegen diese Entschließung.

Selbstverständlich muss sich die deutsche Regierung, bevor irgendwelche Gespräche mit den Ovaherero- und Nama‑Gemeinschaften beginnen können, über den Bundestag aufrichtig entschuldigen und um Vergebung bitten. Es muss eine echte Entschuldigung geben und dann muss der Prozess neu beginnen. Die Nachkommen der Ovaherero und Nama haben keine Angst vor Verhandlungen, werden aber niemals aus Angst verhandeln.


Dieses Interview wurde schriftlich geführt. Die Fragen stellte Juliane Glahn, Volontärin in der Onlineredaktion des Goethe‑Instituts in München.