Der „Blaue-Reiter-Pfosten“ Auf Spurensuche von München bis Kamerun

Die Außenansicht des Museums Fünf Kontinente
Im Museum Fünf Kontinente befinden sich mehr als 200 Objekte aus Kamerun als Teil der Sammlung Max von Stettens. | Foto (Detail): Tom Kimmig © Goethe-Institut

Mehr als 200 Objekte aus Kamerun haben zwischen 1893 und 1896 ihren Weg in die Ausstellungsräume und das Magazin des einstigen Völkerkundemuseums in München gefunden. Wo kommen sie her, was ist oder war ihr Zweck? Diesen Fragen widmet sich das seit Ende 2019 laufende Forschungsprojekt „Der ‚Blaue‑Reiter‑Pfosten‘ und die Sammlung Max von Stettens (1893–1896) aus Kamerun im Museum Fünf Kontinente München“.

München, 2021: Auf der Maximilianstraße steht das imposante Gebäude des Museums Fünf Kontinente. Hier kommen Geschichten und Artefakte aus der ganzen Welt zusammen. Doch insbesondere ein Gegenstand ist auch den Mitarbeitenden bis heute ein Rätsel. Eine fast lebensgroße Holzstatue befindet sich in der Afrika-Abteilung, bezeichnet als „Blauer‑Reiter‑Pfosten“. Von oben bis unten ist er mit Schnitzereien verziert, bestehend aus Krokodilen, Gesichtern und Formen. Wo genau kommt er her? Wofür wurde er genutzt? Welche Bedeutung steckt in den Schnitzereien?

Kamerun, 1890er-Jahre: Als Offizier und späterer Kommandeur der kolonialen Schutztruppe des deutschen Kaiserreichs gelangt Max von Stetten ins heutige Kamerun. Anfangs geht er in der Gegend von Duala und des vulkanischen Kamerunbergs mit einer militärischen Expedition gegen die Bevölkerungsgruppen Abo und Bakwiri vor, durchquert die Region und führt in den nächsten Jahren Strafexpeditionen an. Bis zu seinem Austritt aus der Schutztruppe 1896 durchquert von Stetten so fast das gesamte Gebiet, welches das heutige Kamerun bildet. Dabei nimmt er zahlreiche Gegenstände in seinen Besitz, die er später unter anderem der Königlich Ethnographischen Sammlung des Staatlichen Museums für Völkerkunde in München vermacht, dem heutigen Museum Fünf Kontinente.
 
  • Objekte der Sammlung Max von Stettens Tom Kimmig © Goethe-Institut
    Die Sammlung Max von Stettens besteht aus Objekten verschiedener Herkunftsgesellschaften.
  • Detailansicht eines Holzrohrs Tom Kimmig © Goethe-Institut
    Gebrauchsspuren können einen Hinweis darauf geben, ob ein Objekt geraubt oder vielleicht sogar für Europäer*innen angefertigt wurde.
  • Archivalien zur Sammlung Max von Stettens Tom Kimmig © Goethe-Institut
    Eingangsbücher, Briefe und Listen zu der Sammlung Max von Stettens können unter anderem Informationen zur Ankunft der Objekte im Museum liefern.
  • Ein Objekt aus Holz aus der Sammlung Max von Stettens Tom Kimmig © Goethe-Institut
    Schriftliche Quellen über die Region können Hinweise auf das Vorkommen und den Nutzen von Gegenständen liefern.
Die wissenschaftliche Mitarbeiterin für Provenienzforschung Dr. Karin Guggeis, die die Gesamtleitung des Forschungsprojekts innehat, arbeitet und forscht im Museum Fünf Kontinente. Auf einem Tisch liegen Pfeil und Bogen, Büschel und Rohre aus verschiedenen Materialien, die aus dem Magazin gebracht wurden. Dies ist nur ein kleiner Teil der Objektsammlung, die sich im Besitz des Museums befindet.

„Das Projekt ist ein postkoloniales Provenienzforschungsprojekt“, erklärt Dr. Guggeis. Wichtig sei dabei vor allem, dass Forscher*innen aus dem Herkunftsland der Objekte an der Erforschung beteiligt sind und ihre Expertise mit einbringen. Die Projektleitung in Kamerun liegt bei Professor Albert Gouaffo aus der frankophonen Region des Landes, wissenschaftliche Mitarbeiter*innen sind unter anderem Professor Joseph Ebune und Dr. Ngome Elvis Nkome aus der anglophonen Region.
Tom Kimmig © Goethe-Institut

Auf die genaue Bezeichnung kommt es an

„Darüber hinaus spielt die Bezeichnung der Gegenstände eine wichtige Rolle.“ Dr. Karin Guggeis deutet auf ein kleines, kopfförmiges Objekt, das mit inzwischen brüchigem Leder überzogen ist. „Wenn beispielsweise in einem Brief steht, dass eine Maske mit Menschenhaut überzogen war, dann muss man das natürlich abklären lassen: Ist das jetzt tatsächlich Menschenhaut oder ist das nur koloniale Propaganda?“, sagt die Forscherin. Als Teil postkolonialer Provenienzforschung werden auch Begriffe, die heutzutage als abwertend gelten, überprüft, verworfen und schließlich Objekte neu bezeichnet.

Für nahezu jedes Objekt muss eine detaillierte Recherche erfolgen, um bisherige Beschreibungen zu prüfen, zu korrigieren oder zu vervollständigen. „Zu Beginn des Projekts habe ich zuerst die Archivalien verglichen, also die Listen, die es zu den einzelnen Sammlungen zu Max von Stettens gab, und die Informationen in den Eingangsbüchern“, sagt Dr. Guggeis. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin zieht einige Mappen und Ordner hervor. In ihnen sammeln sich leicht vergilbte Seiten mit handschriftlichen Notizen, die angeben, wann welche Objekte in den Besitz des Museums gelangten.

Schriftliche Quellen und Gebrauchsspuren liefern Hinweise

Über den ursprünglichen Zweck oder die genaue Herkunftsgesellschaft der „Sammlung Max von Stetten“ geben die Bücher allerdings keine Auskunft. Hier geht die detaillierte und oft langandauernde Provenienzforschung weiter. Schriftliche Quellen über die Region können durch Beschreibungen und Bilder Hinweise auf das Vorkommen und den Nutzen diverser Gegenstände liefern. Des Weiteren können Objekte, deren Form oder Verzierungen den zu erforschenden ähneln, ebenfalls auf den Zweck oder die Herkunft deuten. Im Falle des Kopfs hat sich bei einer Analyse des Materials feststellen lassen können, dass das verwendete Material Tierhaut ist, nicht Menschenhaut, wie behauptet.
 
  • Kopfmaske Beate Kränzle © Museum Fünf Kontinente
    Die Kopfmaske ist mit Tierhaut überzogen und nicht mit Menschenhaut, wie ursprünglich zur Kolonialzeit behauptet.
  • Kopfmaske Detailaufnahme vom Hinterkopf Beate Kränzle © Museum Fünf Kontinente
    Als Teil postkolonialer Provenienzforschung werden die Bezeichnungen genau überprüft und das Material analysiert.
  • Detailaufnahme der Haut der Kopfmaske mit Tierhaar Beate Kränzle © Museum Fünf Kontinente
    Durch eine Analyse des Materials und einer Detailaufnahme konnte die Restauratorin Tierhaut und -haare nachweisen.
Aber unter welchen Umständen gelangten die mehr als 200 Objekte ins Museum? Wurden sie alle von der Kolonialmacht Deutschland und dem Kommandeur Max von Stetten geraubt? Schenkten ihm lokale Gemeinschaften möglicherweise manche dieser Gegenstände? Oder wurden sie vielleicht als Tauschgegenstände von Max von Stetten während seiner Expeditionen erworben?

Teilweise können aufgrund der Gebrauchsspuren Vermutungen angestellt werden – wenn manche Objekte scheinbar brandneu sind und keine Abnutzungsspuren aufweisen, deutet es darauf hin, dass diese Gegenstände Europäer*innen geschenkt oder sogar speziell für sie angefertigt wurden. „Auch in der Kolonialzeit gab es zahlreiche Neuanfertigungen für Europäer. Da ist ein großer, neuer Markt entstanden, den die kamerunischen Handwerker oder Handwerkerinnen auch schnell und gut bedient haben“, sagt Dr. Guggeis.

Der „Blaue-Reiter-Pfosten“

Der „Blaue-Reiter-Pfosten“ wirft bei den Forscher*innen weiterhin viele Fragen auf. Nach circa zwei Jahren Forschung ist immer noch nicht viel über das Objekt bekannt. Selbst der derzeitige Name stammt nicht aus seiner Heimat. „Er heißt so, weil er im Almanach Der Blaue Reiter von Wassily Kandinsky und Franz Marc abgebildet ist“, erläutert Dr. Guggeis. Durch sein Erscheinen in einer Münchner Veröffentlichung erhielt er eine große Resonanz in der Münchner Lokalgeschichte.

Neutral bezeichnet Dr. Guggeis den Pfosten manchmal auch einfach beschreibend als „Holzblock“. Aber die Hoffnung, eines Tages den ursprünglichen Namen durch das Auffinden der ursprünglichen Herkunftsgesellschaft erörtern zu können, bleibt bestehen.

Die Forscherin geht inzwischen davon aus, dass der Holzblock nicht während einer militärischen Aktion erworben wurde, sondern während einer Erforschungsreise zur Station Baliburg, ein Kolonialstützpunkt im späten 19. Jahrhundert im Nordwesten des Landes. Sie vermutet zudem, dass er aus dem Waldland im Westen des Landes stammt – die Herkunftsgesellschaft bleibt jedoch weiterhin unbekannt.
 
  • Ein Holzblock mit Schnitzereien. Tom Kimmig © Goethe-Institut
    Der „Blaue-Reiter-Pfosten“ befindet sich in der Afrika-Abteilung im obersten Stockwerk des Museums.
  • Der Holzblock mit dem Titel „Blaue-Reiter-Pfosten“ Tom Kimmig © Goethe-Institut
    Der „Holzblock“ ist mit verschiedenen Elementen verziert.
  • Verzierung in Form einer menschenähnlichen Figur. Tom Kimmig © Goethe-Institut
    Die Vorderseite ist mit Symbolen verziert, die ihren Ursprung in verschiedenen Regionen Kameruns haben.
  • Krokodilförmige Schnitzereien Tom Kimmig © Goethe-Institut
    Die krokodilförmigen Schnitzereien kommen im Kameruner Grasland vor und symbolisieren dort Fruchtbarkeit.
  •  Rückseite des „Holzblocks“ mit Schnitzereien Tom Kimmig © Goethe-Institut
    Auch die Rückseite des „Holzblocks“ ist mit Schnitzereien verziert.
  • Verzierung in Form einer menschenähnlichen Figur. Tom Kimmig © Goethe-Institut
    Es ist möglich, dass die Verzierungen in verschiedenen Gesellschaften unterschiedliche Bedeutungen haben.
Im obersten Stockwerk des Museums befindet sich die Afrika-Abteilung. Direkt in Eingangsnähe steht der „Blaue‑Reiter‑Pfosten“. Die Rückseiten sind ebenso wie die Vorderseite verziert. Was sie jedoch genau symbolisieren, das ist nicht offensichtlich. Für die krokodilförmigen Schnitzereien haben die Forscher*innen nachweisen können, dass diese auch im Grasland Kameruns, der Savannenregion im Nordwesten, vorkommen und dort Fruchtbarkeit symbolisieren. Es ist aber nicht auszuschließen, dass ähnliche Symbole in unterschiedlichen Gesellschaften verschiedene Bedeutungen gehabt haben und damit diese Interpretation für den „Blaue-Reiter-Pfosten“ nicht einfach übernommen werden kann.

Das Provenienzforschungsprojekt wird im Januar 2022 nach circa zweijähriger Laufzeit abgeschlossen. Die Ergebnisse werden auch der Öffentlichkeit vorgestellt, um dem Thema Provenienzforschung und der „Sammlung Max von Stetten“ eine größtmögliche Plattform zu bieten. Durch die Zusammenarbeit mit den kamerunischen Forscher*innen sowie den Museumsmitarbeiter*innen wird der Diskurs diversifiziert, ein bedeutsamer Ansatz der postkolonialen Provenienzforschung. „Ganz wichtig ist hier auch die Mehrstimmigkeit, die Polyfonie, dass die Besucher*innen die unterschiedlichen Perspektiven sehen, die es auf einzelne Objekte gibt“, sagt Dr. Guggeis. Bis zum Ende des Projekts forschen die Mitarbeitenden stetig weiter – und kommen so der Herkunftsgeschichte des „Blaue-Reiter-Pfostens“ immer mehr auf die Spur.