Narges Kalhor „Nur Künstler schaffen es, das Rad zu beschleunigen“

Narges Kalhor
© Marco Müller

Die iranische Filmemacherin Narges Kalhor spricht im Interview über ihr Filmstudium in München, das Elitäre in den Künsten und darüber, wie Kunst dazu führen kann, dass sich das Rad der Gesellschaft schneller dreht.

Narges Kalhor, Sie haben an der Hochschule für Fernsehen und Film in München studiert. Gibt es eine Anekdote aus Ihrem Studium, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Obwohl ich an der Teheraner Filmhochschule studiert habe, musste ich während meines Studiums an der Filmhochschule in München (HFF) viele Pflichtkurse wiederholen. Mein Studium und meine Kenntnisse wurden an der HFF eigentlich nicht anerkannt. Es gab auch einen Fall, in dem mir in der mündlichen Prüfung vorgeworfen wurde, filmwissenschaftliche Texte auf Persisch statt auf Deutsch gelernt zu haben, weil ich nicht genau wusste, wie viel des Textes auf Deutsch war! Aber ich muss auch sagen, dass es im selben Gebäude einen Professor in der Dokumentarfilmabteilung gab, der einen sehr positiven Einfluss auf mein Leben in Deutschland, mein Wissen und die Art, wie ich Filme mache, hatte. Dafür bin ich ein Leben lang dankbar.

Sie leben seit 2009 in Deutschland. Was vermissen Sie besonders aus dem Iran?

Gute Laune! 

Inwiefern ist künstlerisches Schaffen eine soziale Praxis, die die Gesellschaft mobilisieren oder in eine bestimmte Richtung bewegen kann?

Ich sehe es als eine Kette. Ein Künstler ist ein Mensch, der in einer Gesellschaft auf die Welt kommt, von dieser Gesellschaft beeinflusst wird und sich in seiner Kunst weiterbildet und dann andere Kinder beeinflusst, die ebenfalls in der Zukunft praktizieren werden. Es ist eine Kette, die sich dreht, und nur Künstler schaffen es, das Rad zu beschleunigen. Wenn sie nicht den richtigen Input bekommen, können sie sich Künstler oder was auch immer nennen, aber das Rad dreht sich genauso langsam, wenn sie auch andere Berufe in der Gesellschaft für sich wählen.

Seit Jahrzehnten haftet vielen Künstler*innen das Klischee der in abstrakte Welten entrückten Intellektuellen an. Wie bewerten Sie diese Aussage und wie würden Sie ihre Kunst beschreiben?

Diese Kritik habe ich auch in Deutschland wahrgenommen. Aus meiner Sicht ist Kunst/Film/Kultur leider immer noch der Bereich für die Leute, die es sich leisten können, die sich überhaupt an Kunstakademien/Universitäten bewerben können und die es allein aufgrund der Finanzen schaffen können. Wenn eine bestimmte Schicht von Generation zu Generation nur in diesen Bereichen wirkt, dann entsteht ein elitäres Niveau der Kunst, das mit der Mehrheit der Menschen in der Gesellschaft und der Realität nichts zu tun hat. Von diesem Moment an, wenn die Vielfalt (diversity) in allen Bereichen ankommt, bekommt auch die künstlerische und Intellektuelle Bewegung eine andere Bedeutung für die Gesellschaft und Kraft.

Manche Kritiker*innen von sozial engagierten Künstler*innen behaupten, dass soziales Engagement den eigentlichen künstlerischen Wert der Arbeit schmälert und diese zu „Propaganda“ herabstuft. Haben Sie das selber erlebt und wie würden Sie darauf reagieren?

Das schließt an die letzte Frage an. Es geht um die Perspektive, aus der die Kunst gesehen wird. In dem Maße, wie die Kunst sich in ihrer eigenen Blase feiert und nichts mit den Menschen auf der Straße zu tun hat, kann sie auch andere Künstler aus anderen Gesellschaften so wie Sie beschreiben kritisieren. Ich sage in meinem naiv-einfachen Deutsch: Kunst kommt von Schmerz. Wenn sie das nicht erlebt, kann sie nicht tief in das Herz des Betrachters eindringen. Und sozial engagierte Künstler sind die, die bereit hierfür sind und sich bemühen, den Schmerz zu spüren.

Wie schaffen Sie den Spagat zwischen Kunst als ästhetischem Werk einerseits und Kunst als Medium für eine politische Aussage andererseits? Ist es überhaupt möglich, eine solche Balance zu erreichen?

Ja, natürlich ist das möglich. Und wir sind vor allem dazu da, es möglich zu machen. Das ist unsere Aufgabe. Unpolitisch sein ist auch heute noch politisch. Ich wirke schon seit langem im Bereich des Experimental- und Essayfilms. Ich übe immer noch und suche nach einer neuen Bildsprache und Ästhetik in meinen Filmen. Es ist ein Weg ohne Ende. Ich bin mir auch sicher, dass wir zum Beispiel im Kino viele Arten von Filmen gar nicht ausprobiert haben.

Bei den aktuellen Protesten im Iran spielen Frauen eine bestimmende Rolle. Inwieweit hat Kunst für Sie auch eine emanzipatorische Funktion?

Ich kann kurz etwas zur Filmszene sagen. Es gab mehrere Filmemacherinnen, die im Iran immer wieder inhaftiert wurden, und auch jetzt sind viele weitere verhaftet worden. Das zeigt mir, wie wichtig sie in ihrer Rolle waren und sind, diese Frauenrevolution mit bewegten Bildern zu unterstützen. Wie ich schon sagte, es ist wie eine Kette, und dieser Motor beschleunigt den Wahnsinn der Veränderung in der iranischen Gesellschaft.

Auch viele Künstler*innen engagieren sich bei der Unterstützung der Protestierenden im Iran. Welche Rolle können Künstler*innen und Institutionen in Deutschland in diesem Kontext spielen?

Wenn du dich als Künstler*in als Teil der Gesellschaft fühlst, dann unterstützt dieser Widerstand dein Selbstverständnis. Wir sind viele Kunst-, Film- und Kulturschaffende im Iran und außerhalb des Irans, die ganz selbstverständlich diese Revolution mit unserer Arbeit ohne Geld, ohne Vertrag, ohne Verpflichtung, ohne Auftrag unterstützen. Das sollte doch auch in Deutschland so sein, oder?! Warum geht es bei vielen deutschen Künstler*innen nicht über die reine symbolische Handlung (wie zum Beispiel Haare abschneiden) hinaus? Es fehlt im Kern eine politische Haltung. Aus meiner Sicht können Künstler*innen und Institutionen eine große Rolle nur dann spielen, wenn sie sich richtig mit den aktuellen Themen auseinandersetzen und diese zu ihrer eigenen Agenda machen, auch ohne externen Auftrag.