Schreibwettbewerb „Identität“ Wie ein Atom

Schreibwettbewerb Identität
Schreibwettbewerb Identität Essay | Illustration: © Tobias Schrank, Goethe-Institut

Atome bestehen aus einem Kern und einer Elektronenhülle – das ist zumeist bekannt. Was hat nun dieses Modell mit der Entwicklung menschlicher Identität zu tun? Sehr viel, meint Tania Maria Roman Medina, und erzählt von ihrem Zuhause in zwei Staaten und ihrer Leidenschaft für Sprache, Sport und das Backhandwerk. 

Am liebsten beschreibe ich mich selbst als Atom. „Ist sie denn Naturwissenschaftlerin?“ fragen Sie sich jetzt vielleicht. Bin ich aber nicht. Warum bediene ich mich dann der elementaren Bausteine der Materie, um die ganze Komplexität dessen, was ich bin, zu veranschaulichen? Weil gerade darin die Schönheit liegt. Denn völlig unabhängig vom gefühlten Chaos unser aller Existenz verfügen wir über eine Grundkonstitution, um die herum wir wachsen und uns entwickeln.

Fester Kern

Über einen Zeitraum von 36 Jahren habe ich mich stetig neu aufgestellt und immer wieder neu erfunden. Ich bin in Mexiko geboren, in Kalifornien aufgewachsen und nach Mexiko zurückgekehrt, wo ich heute lebe und arbeite. Das allein sollte völlig ausreichen, um Personen dazu zu bringen, sich zu fragen wer sie sind und wo sie hingehören. Doch die vielen Stationen meines Lebens haben vor allem dazu beigetragen, meinen Nukleus, meinen Kern zu prägen. Meine Familien und Freund*innen, die Traditionen, Sprachen und Werte, die ich heute in mir trage, sind in beiden Ländern zu Hause. All die Erlebnisse meiner ersten 16 Lebensjahre haben mein Innerstes gefestigt. Wenn ich mich heute frage wer ich bin und warum ich mich auf eine bestimmte Weise verhalte, komme ich immer wieder auf diesen Kern meines Seins zurück.

Viel los in der Umlaufbahn

Meine Elektronen sind Ereignisse und Erlebnisse, Karrierewege und Lebensziele, die ich selbst gewählt habe. Sie alle umkreisen mich, sie machen mich aus und verbinden mich mit anderen, um mein Leben und das der Menschen um mich herum zu bereichern. Im Laufe der Jahre bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass unsere persönliche Entwicklung nie abgeschlossen ist und dass wir uns und andere immer wieder neu entdecken. Wir sind viel mehr als nur unsere Jobs oder unsere Rollen innerhalb unserer Familien. Es ist völlig in Ordnung, zuerst als Sportmanagerin, dann als Sprachlehrerin und schließlich als Bäckerin zu arbeiten. Wir können fitnessbegeistert sein, zwischenzeitlich die Lust am Training völlig verlieren und schließlich so entschlossen wie nie wieder durchstarten. Ganz gleich, ob unsere Träume mit unseren Partner*innen wahr oder unsere Herzen gebrochen werden, wir können immer noch hoffen, dass unsere Wünsche eines Tages in Erfüllung gehen. Vielleicht verspüren wir Wut und Groll gegen unsere Eltern oder unsere Liebsten – und finden schließlich doch einen Weg in unserem Herzen, um loslassen zu können, zu vergeben und auch Beziehungen zu erneuern. Wir denken vielleicht, dass das alles sinnlos ist, aber diese Elektronen in unserer Umlaufbahn haben einen ganz entscheidenden Einfluss auf unsere persönliche Entwicklung.

Letzten Endes besteht unsere Identität also aus fest in unseren Nukleus eingeschriebenen Eigenschaften und sich immer wieder verändernden und neuen Erlebnissen, die uns mit anderen Menschen verbinden und mit Energie erfüllen.