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Interview
Andriana Lagoudes besucht die documenta fifteen

Eine junge Frau steht vor einer mit Moos bewachsenen Steinmauer und blickt in die Kamera, wobei sie den Kopf leicht nach links geneigt hat und die Arme an den Seiten ruhen. Sie trägt eine runde Brille, zwei Halsketten und ein T-Shirt. Ihr dunkles, gewelltes, schulterlanges Haar hat sie nach unten fallen lassen. Sie trägt: Upcyceltes Kleidungsstück von Studio Nico Stephou Halskette von Andriana Lagoudes.
Foto (Ausschnitt): Ali Cem Doğan (instagram @alicemdogan)

Vom 26. Juni bis 2. Juli 2022 organisierte das Goethe-Institut einen Gruppenbesuch der documenta fifteen in Kassel und des Frankfurter Kunstvereins für Kurator:innen und Künstler:innen aus verschiedenen Ländern Südost-Europas. Zypern wurde von Andriana Lagoudes vertreten. Im folgenden Interview baten wir die Künstlerin, ihre Eindrücke von diesem Besuch sowie ihre Reflektionen im Hinblick auf Zypern und ihr eigenes Werk mit uns zu teilen.

Sie sind gerade von der documenta fifteen aus  Kassel nach Zypern zurückgekehrt. Was haben Sie über die Stadt Kassel erfahren?

Die Wahrheit ist, dass ich bei meinem Besuch der Stadt Kassel vollkommen in die Welt der documenta fifteen eingetaucht bin,  so dass mir kaum Zeit blieb, der Stadt selbst Aufmerksamkeit zu schenken. Diese Erfahrung hat ganz bestimmt  meinen Blick auf Kassel als eine sehr künstlerische Stadt beeinflusst, aber ich bin mir nicht sicher, dass ich nach nur drei Tagen zu einer abschließenden Meinung kommen kann.

Was hat Sie am meisten an der documenta fifteen fasziniert?

Jeder, der mich kennt, weiß, dass mir  kollektive Vorgehensweisen sehr am Herzen liegen. Da documenta fifteen durch Ruangrupa, ein indonesisches Künstlerkollektiv,  kuratiert wurde, erhielt ich Zugang zu  einer Vielzahl an  Arbeitsmodellen, die auf Künstlerkollektiven basieren. Der Ausstellungsort Fridericianum bietet eine Fülle   verschiedener Methoden, kollektiv zu lernen, Vorstellungen zu dekonstruieren und gedankliche Prozesse zu verarbeiten. Die Tatsache, dass ich neue Anhaltspunkte erhielt, wie mit Kollektiven umzugehen ist, war für mich sicher der lohnenswerteste Aspekt. Meiner Erfahrung nach bedeutet Feinabstimmung letztlich, Wertvorstellungen, Gruppendynamik, Arbeitsfluss und  Modelle der Kreislaufwirtschaft  aufeinander abzustimmen.

Die Tatsache, dass ich ausgewählt wurde, diese Reise  zu unternehmen mit einer Gruppe von Kulturschaffenden aus der Region Südosteuropa(laut Definition des Goethe-Instituts), half mir, die Visionen dieser Menschen zu verstehen,  sowohl  was  ihre Arbeit betrifft als  auch ihre Kämpfe, und mich ihnen allmählich anzuschließen. Und deshalb bin ich dem Goethe-Institut Zypern und Athen wirklich dankbar, dass sie diese Reise initiiert haben. Durch diese Erfahrung  habe ich entdeckt und darüber hinaus neu bestätigen können, dass wir noch eine Menge zu tun haben, was den  Brückenbau zu Kulturschaffenden hin betrifft, die in relativ naher Umgebung Zyperns  tätig sind. Und obendrein  müssen wir umdenken  und der Versuchung widerstehen, unsere Kulturen aus etablierter westlicher Sichtweise wahrzunehmen.

Eine Gruppe von 13 Personen steht in einer Reihe auf einer Wiese. Hinter ihnen steht eine Wand aus übereinander gestapelten, gefalteten Matratzen. Foto der Gruppe vor der Multimedia-Installation des Nest Collective auf der diesjährigen documenta fifteen. Die Kulturschaffenden von links nach rechts: Eleanna Papathanasiadi, Asena Günal, Ümit Mesci,Senka Ibrišimbegović, Andriana Lagoudes, Ali Cem Doğan, Stefanie Peter, Gjorgje Jovanovik, Burçak Yakıcı, Tena Starčević, Sandra Demetrescu, Vera Mlechevska und Dorina Xheraj-Subashi. | Foto (Ausschnitt): Yorgos Prinos

Ich finde es auch extrem wichtig, die Stellung des Goethe-Instituts, eines deutschen Kulturzentrums, das zum Teil durch die deutsche Regierung unterstützt wird, zu hinterfragen und über die Rolle nachzudenken, die es im Makro-Kontext der Kultur in Deutschland spielt und inwieweit  diese Investition Deutschlands sozio-kulturelles Kapital bereichert. Für eine deutsche kulturelle Einrichtung, die den Auftrag hat, an Orten und im kulturellen Kontext anderer Nationalitäten und Ethnizitäten in der Welt zu arbeiten, ist es meiner Überzeugung nach wirklich wichtig, im Austausch zu bleiben und sich gemeinsam über die Nuancen auseinanderzusetzen, die sich bei der Entstehung eines Werks abzeichnen, so dass die kulturelle Integrität der Menschen vor Ort respektiert wird.

Worin sehen Sie den größten Gewinn oder das Highlight der gesamten Reise? Was war neu für Sie?

Auf einem vertikalen Bildschirm ist eine sitzende Frau mit ernstem und erschüttertem Blick zu sehen, die das Foto eines Mannes an ihre Bluse geheftet hat. An der Wand hinter ihr sind Porträts von weiteren Personen zu sehen. Foto vom Besuch der Gruppe in der Ausstellung Three Doors von Forensic Architecture/Forensis, Initiative 19. | Foto: Andriana Lagoudes Ein wirklich bedeutsamer Gewinn war für mich die Ausstellung Forensic Architecture/Forensis unter dem Titel Three Doors. Wir haben sie in Frankfurt im Frankfurter Kunstverein besucht.

Die Ausstellung untersucht drei Fälle rassistischer Morde in Deutschland, indem sie im Internet frei zugängliche Information zusammenstellt.  Staatliche Einrichtungen haben versäumt,  diese Fälle  zu untersuchen,  geschweige denn abzuschließen Auf ihre Art weisen die Künstler nach, dass diese Arbeit nicht auf Institutionen beschränkt ist.  Wenn Institutionen uns im Stich lassen, können wir auch die Technologie nutzen, um Information sichtbar zu machen und  zu analysieren. Und wenn die Medien sich auf die psychologische Analyse der Mörder konzentrieren, dann können wir die Wahl treffen, der Sicht des Opfers und seiner Angehörigen den Vorrang zu geben.

Was die documenta betrifft, so besteht mein  größter Gewinn zweifelsohne darin, dass es  die sich am intensivsten auf östliche und südliche Kunst konzentrierende Ausstellung  war, die ich je in der westlichen Welt gesehen habe,  und dieser Tatsache muss ich wirklich meine Hochachtung aussprechen. Ruangrupa, die ausgewählten Kuratoren, haben den Besuchern in der Tat  eine Quelle an Wissen zugänglich gemacht, die ihnen sonst verschlossen geblieben wäre.

Zugang zu bekommen zu Zeugnissen der vernachlässigten Regionen der Welt und nun in der Lage zu sein, den Kampf  von Menschen zu spüren, deren Geschichte mir bislang nicht bewusst war, das allein fühlt sich überwältigend an. Die Ausstellung half mir, mich daran zu erinnern, dass die Erde ein Ort ist, zu dem ich immer noch gehöre. Ein Ort, an dem ich mich immer noch wiederfinden kann trotz der Kräfte, die mich täglich überzeugen wollen, dass meine Sicht der Dinge  nicht wertvoll ist.

Eine Vorder- und eine Profilzeichnung des Kopfes einer schwarzen Person. Das Gesicht ist mit grauem Klebeband abgedeckt, so dass nur die Haare und der Hals zu sehen sind. Darunter befindet sich eine Zeichnung eines Fußes und einer Hand. Beispiel für die Darstellung sensibler Bilder in The Black Archives. | Foto: Andriana Lagoudes Woran liegt Ihrer Meinung nach die Bedeutung der documenta im Allgemeinen und nun documenta fifteen in Bezug auf Zypern und seine Kunstszene?

Kürzlich gab es im SPEL in Nikosia eine Spielzeugausstellung. Kuratiert wurde sie von der Sofia Stiftung in einer staatlichen Galerie; diese Ausstellung zeigte Bilder und Spielzeug mit Gesichtern in  übertriebenem Blackface ohne jegliche historische Einordnung. Eine Art der Kuratierung, die im augenblicklichen kulturellen Klima farbton-taub ist, dies behindert nicht nur die Antirassismus-Arbeit, die verschiedene Basisbewegungen leisten, sondern  sie kann auch uninformierte Besucher in ihrem Rassismus bestärken.

Die schwarzen Archive der documenta behandelten ein sehr ähnliches Problem auf einfache, doch höchst effektive Weise (siehe Bild). Meine einzige Hoffnung ist, dass kreative Praktiker auf unserer Insel weiterhin Möglichkeiten aufzeigen, wie wir die Traumata der vergangenen Generationen respektieren und ein Feingefühl entwickeln können für eine angemessene Art, Werke zu diesen Problemen auszustellen. Und dann fortzufahren, Druck auszuüben auf zyprische Kuratoren ebenso wie auf zyprische kurative Praktiken, um auf den gleichen Stand zu gelangen, was ethische Sensibilität weltweit betrifft.

Ich denke, ich darf  mit Sicherheit behaupten, dass sich kreative Menschen in Zypern in einem Dauerzustand der Verzweiflung befinden. Die offiziellen Infrastrukturen, die eigens  geschaffen wurden, um uns zu unterstützen, missachten und enttäuschen uns stattdessen. Nehmen Sie zum Beispiel die Unfähigkeit, die das Ministerium für Bildung, Kultur, Sport und Jugend  zur Schau stellte, indem es sich nicht entschließen konnte, wer Zypern in diesem Jahr auf der Biennale in Venedig vertreten wird.

Die Dissonanz zwischen dem Handeln des Staates und dem, was kreativ Schaffende brauchen, ist jetzt offensichtlicher als je zuvor. Was brauchen wir also, um den Zustand einer erfahrungsreichen Symbiose zu erlangen?

Die Ernte auf der documenta fünfzehn ist die durch Ruangrupa gebotene Möglichkeit, miteinander zu kommunizieren und Information zu verbreiten. Ernte-Sitzungen  haben zwei wesentliche Funktionen: zum einen künstlerische Aufzeichnungen  oder Diskussionen, zum andern einfach gemeinsame Treffen. In Prozessen wie diesen können wir Raum schaffen, um unsere Enttäuschungen zu lindern, aber auch, um Visionen für die Zukunft zu entwerfen. Und gibt es eine geeignetere Möglichkeit, dies zu tun, als bei einem gemeinsamen Essen? Die Bangladeshi Pagkor Sozialküche samt Schrebergarten-Parzelle auf der documenta lud Künstlergruppen ein, einen Platz zu buchen, das Kochen zu übernehmen und ein Gericht für andere zuzubereiten. Ist dieses Verfahren so ein ferner Traum für uns in Zypern?

Nahrung spielt eine zentrale Rolle in unserer Kultur, so frage ich mich also: Wer stellt sich der Aufgabe, auf dem Land frisches Gemüse anzubauen mit der Absicht, Mahlzeiten für die Künstlergemeinde zuzubereiten, so dass Teilen und Gedanken ernten den kulturellen Rahmen verwandeln könnten, zu dem wir gern gehören würden?

War dies Ihr erster Besuch in Deutschland? Was hat Sie an Deutschland jenseits aller Clichés am meisten überrascht? Wie waren Ihre Erfahrungen im Land selbst und Ihr Austausch mit Deutschen im Vergleich zu Ihren Vorstellungen oder Erwartungen?

Um ehrlich zu sein, war ich vor allem schockiert über die Entscheidung des documenta – Teams, Taring Padis People’s Justice (2002) abzuhängen, nachdem deutsche Politiker Druck ausgeübt hatten mit dem Argument, dass es in Deutschland inakzeptabel sei, Antisemitismus auszustellen. Ist das deutsche Schuldgefühl, das sich gegen den Antisemitismus erhebt, so fragil, dass es die Deutschen generell und das documenta-Team in diesem besonderen Fall so total daran hindert, vor Ort eine öffentliche Diskussion zu entfachen über solch ein wichtiges und komplexes geopolitisches Thema? Und all dies, während man die Gruppe Ruangrupa wählt, die die Kämpfe der Palästinenser ganz zentral ins Rampenlicht der Ausstellung bringt? Eine Ausstellung, die ca. zwölf Stunden Filmmaterial aus dem Japanisch-Palästinensischen Solidaritätsarchiv zeigt, das klar und deutlich die Grausamkeiten sichtbar macht, die das palästinensische Volk im Laufe der Jahre durch die israelischen Streitkräfte ertragen musste? Die gleiche Ausstellung, die mutwillig dort zerstört wurde, wo das palästinensische Kollektiv Question of Funding teilnahm?

  • Projektion eines Schwarz-Weiß-Fotos von zwei Männern, die im Freien auf dem Boden sitzen. Einer von ihnen trägt einen Kopfhörer und scheint den anderen zu interviewen. Foto: Andriana Lagoudes
    Filmausschnitte aus dem subversiven Film Japan – Palästina-Solidarität, der im Rahmen der documenta fünfzehn im HÜBNER AREAL gezeigt wurde.
  • Eine Projektion, die einen Fotorahmen mit blauen und weißen Mustern zeigt, auf dem das Foto einer Frau mit dunklem Haar und Kopftuch zu sehen ist. Foto: Andriana Lagoudes
    Filmausschnitte aus dem subversiven Film Japan – Palästina-Solidarität, der im Rahmen der documenta fünfzehn im HÜBNER AREAL gezeigt wurde.

Sehen wir es einmal so: Wir lassen Fälle rassistischer Morde durch  einen forensischen Apparat   untersuchen, wobei sich Verantwortungsgefühl in staatliche Bürokratie auflöst. Aber im Fall der Ausstellung von People’s Justice fand das Verantwortungsgefühl ein klares Ziel und traf den Entschluss, den status quo der deutschen Regierung zu befriedigen. War das documenta-Team nicht darauf vorbereitet, für die Dinge einzutreten, denen Ruangrupa mutig Raum gewährte? Und liegt hier vielleicht der ernste Fall einer Institution vor, die ihr Fähnlein nach dem Wind schwenkt, die Künstlerkollektive romantisiert, aber in Wirklichkeit nicht die Fähigkeiten besitzt, die Revolution zu unterstützen, die einige Kollektive begonnen haben, den östlichen und südlichen Ländern dieser Welt zu bringen?

Schließlich galt meine größte Enttäuschung der Unfähigkeit, die das documenta-Team zur Schau stellte, indem es keine wesentlichen Diskussionen über People’s Justice anbot, um so die aufgeworfenen Streitpunkte anzusprechen und auf  diese Weise zu differenzieren zwischen dem indonesischen historischen Kontext und gegenwärtiger deutscher Politik.

Eine Reihe von Schildern, auf denen Hände in einer in Flammen gehüllten Faust dargestellt sind, werden mit Holzstöcken in den Boden gesteckt. Teil der Ausstellung im Hallenbad Ost im Rahmen der documenta fifteen, in der das Kollektiv Taring Padi sein Archiv von Kunstwerken aus zweiundzwanzig Jahren präsentiert, darunter großformatige Transparente, Holzschnittplakate und Wayang Kardus (lebensgroße Kartonpuppen). | Foto: Andriana Lagoudes

Ich, Andriana Lagoudes, bin eine Künstlerin auf dem Weg der Erinnerung an die Zukunft unserer Vergangenheit.

Indem ich über die Vergangenheit recherchiere, erkenne ich die Werte, nach denen ich den Anker für die Zukunft auswerfen will; sie sollen uns leiten, gemeinsam unsere Ressourcen für die nächsten Generationen einzusetzen.

Meine Vorgehensweise kommuniziere ich durch folgende Elemente: erahnendes Denken, Schreiben, Illustration und Photographie, Produzieren und Strategie, während sich meine Recherchen auf Wissenschaften wie Ökologie und Ethnographie konzentrieren.

Was meine Arbeit betrifft, so bin ich Service Designerin für Comuzi und im täglichen Leben fließe ich mit Flut und Ebbe auf den Wellen kreativer Streifzüge und durch queere Communities. Ich bin Mitglied der Fakultät Freedom and Balance (GB) und der Honest Electronics Family (Zypern). Ich habe am London College of Fashion unterrichtet und war hauptverantwortliche Mentorin für Not a School, einem alternativen Bildungsprogramm von Samsung GB an der Schnittstelle von Ethik und Technologie.

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