Ein Einblick von Sabine Scho
Avantgarden in der deutschsprachigen Dichtung um 2016

© Goethe-Institut

1953 eröffnete H. C. Artmann seine „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ wie folgt: „Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, daß man Dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben. Vorbedingung ist aber der mehr oder minder gefühlte Wunsch, poetisch handeln zu wollen.“

Das war weniger Koketterie als Notwehr einer später als Wiener Gruppe bekannt gewordenen Lyrik-Avantgarde, die schlicht zunächst weder Publikations-, noch Auftrittsmöglichkeiten hatte. Dichter*innen-Avantgarden, das ist 2016 nicht viel anders, finden und fanden sich zunächst jenseits der ausgetretenen Pfade. Zumal, als um 1996 bei vielen Publikumsverlagen die Mischkalkulationen fielen, große Konzerne das Ruder übernahmen und aktuelle Lyrik kaum noch verlegt wurde, war dies das Rebirthing einer Avantgarde aus Notwehr.

Neue Non-Profit-Verlage entstanden im Anschluss beinahe ausschließlich für Dichtung, allen voran Kookbooks, der von Daniela Seel zusammen mit ihrem Gestalter Andreas Töpfer gegründet wurde und jenseits der Literaturhäuser selber Lesungen und Performances an ständig wechselnden Örtlichkeiten organisierte.

Kollektive wie die G13 und Kollaborationen, die ganz neue Formate ins Leben riefen, wie die rottenkinckschow, folgten. Letzte liefert ein forschungsbasiertes Bühnenformat zur Erzeugung von Anschaulichkeit, das von den Autorinnen Ann Cotten, Monika Rinck und Sabine Scho 2008 ins Leben gerufen wurde.

Die Einmaligkeit der Themendarbietung ist darüber hinaus singulär. Man setzt, ganz entgegen künstlerischer Verwertungslogiken, auf das Prinzip der Nicht-Wiederholbarkeit.
Wer also den Lyrik-Avantgarden folgen will, muss sie zumeist auf Abwegen suchen, was nicht im Umkehrschluss heißen muss, dass ihre Protagonist*innen nicht hier und da schon zu Ruhm und Ehre gekommen wären, oder den Zug durch die Feuilletons und Goethe-Institute nicht längst angetreten hätten.
Aber selbst bekannte Vertreter*innen wie Ann Cotten, Elke Erb, Oswald Egger, Monika Rinck oder Ulf Stolterfoht sind der Off-Szene treu geblieben, lassen einige oder noch alle ihre Bücher dort verlegen, oder gründen gleich einen eigenen Lyrik-Verlag wie jüngst Ulf Stolterfoht die Brueterich Press.

Auch zur Leipziger Buchmesse, die vor allem als Lesemesse bekannt ist, zeigt die heutige Lyrik-Avantgarde sich regelmäßig unter dem Label Teil der Bewegung.
Die gewinnorientierte Buchbranche ist daran nach wie vor weniger interessiert. Avantgarden, das darf man dabei vielleicht hervorheben, zeichnen sich darum eben nicht allein durch beispielhafte Einzelleistungen und -namen aus, sondern sind auf irgendeine Weise immer durch selbstorganisierte Gruppenleistungen in Erscheinung getreten.
 
Will man den Status der Avantgarde innerhalb des gesamten Tableaus gegenwärtiger Dichtung einmal semantisch präzisieren, lassen sich vielleicht folgende, nicht zu ernst gemeinte, Differenzierungen benennen:

dichter*innen, unterteilt in fünf dichtungstypen
 
1. ich und du und müllers kuh
2. mein grimmsches wörterbuch
3. mein grimmsches wörterbuch und deleuze*
4. deleuze, du und ich im taxi
5. allein in der wüste**
 
*          gilles deleuze (1925-1995), franz. philosoph, der vor allem damit   bekannt wurde, dass er behauptete, philosophie erfinde begriffe für       probleme, die es ohne sie nicht gegeben hätte; sie ist mithin eher eine       schöpferische als eine beschreibende tätigkeit, die auf diese weise, wie
die lyrik-avantgarden, namenlose und verkannte affekte zu tage fördert.
**         eins ist die beliebteste außerbetrieblich noch funktionierende variante. zwei ist die innerbetriebliche variante.
drei ist die innerbetriebliche berlinvariante (zumindest in berlin beliebt).
vier ist die an der innerbetrieblichen berlinvariante irre gewordene und sich nach dem außerbetrieblichen wieder sehnende variante.
fünf ist die right or wrong ich bin hier der schöpfergott variante, die eins bis vier ignoriert.
 
(die verfasserin dieses artikels, sich einen ersten überblick der gegenwärtig dichtenden verschaffend, in einem facebook-post, oktober 2016)
 
Nimmt man Position eins einmal aus, lassen sich zwei bis fünf bereits zur Avantgarde rechnen und dabei fällt auf, dass sich die Positionen zwei bis vier vor allem begrifflich selbst bestimmen.
Monika Rinck etwa betreibt bereits seit 2001 ihr fortlaufendes Begriffsstudio im Netz. Eine Sammlung verhörter, gekrümmter und dem Alltagsverständnis Haken schlagende Begrifflichkeiten und Rede-ent-wendungen, wie jüngst etwa: „Einfühlungsstutzer“, „Abschau“, oder den auf der Raketenstation Hombroich kuratierenden Kollegen Oswald Egger auf die Schippe nehmend: „Urwald Egger auf der Karatestation.“
 
Die Raketenstation Hombroich ist heute eine Art interdisziplinäre Avantgarde-Künstlerkolonie auf einem ehemaligen Nato-Stützpunkt in Nordrhein-Westfalen.
In den Neunzigern lebte und arbeitete einer der Gründungsväter der heutigen Lyrik-Avantgarde in Deutschland dort: Thomas Kling, der vor allem durch den Vortrag seiner Gedichte berühmt und berüchtigt wurde. Seine Publikationen gab man darum beim Dumont Verlag schon früh zusammen mit CDs in einem damals noch sehr ambitionierten Lyrikprogamm heraus, wo die Gedichte, von ihm selbst eingelesen, nun auch zu hören waren.
 
Position fünf hingegen erfreut sich großer Beliebtheit bei Dichter*innen, die um das sogenannte Anthropozän kreisen. Also das Zeitalter, in dem wir gerade leben und das dadurch gekennzeichnet ist, dass Menschen die Erde so nachhaltig geprägt haben, biologisch, atmosphärisch, geologisch, dass sie ohne diesen Einflussfaktor inzwischen undenk- und unbedichtbar geworden ist.
Daniela Seel oder Daniel Falb wären dort als Vertreter*innen zu nennen.
Gerade erst ist eine Anthologie dazu erschienen: all dies hier, majestät, ist deins: Lyrik im Anthropozän, Berlin 2016.
 
Die Avantgarden, Vorreiter, sieht man zumeist zuerst gesichtslos, uniformiert, in kleineren Gruppen, von hinten:
 
„ich bin patrouillen, bin mein blankes / fell“ (aus: Nico Bleutge, o. T., Sprache im technischen Zeitalter, September 2016)
 
Avantgarden denken sich als Ihr eigenes Denken, Meta ist ihr Metier:
 
„Robotomanie, nicht kompatibel mit Mythen. / Für manches Denken sind Monster zu müde. / Aber wir sind solches Denken doch nicht. / Gestützt auf unser Blech, sind wir Gewicht.“ (Martina Hefter, Ungeheuer. Stücke. Gedichte, Berlin 2016)
 
Avantgarden pflegen die Hybris en gros & en détail und verheddern sich dabei im Slapstick der selbstauferlegten Sprachgenauigkeitspflicht:
 
„Wie sagt John Giorno? “We ARE the god. We ARE Computers:” /
Ich bin vielleicht sogar der Alptraum eines Puters, // dessen Leben ich mal in einem Langgedicht beschrieb, / das abbrach, weil ich noch zu wenig wusste /
Über das Leben in einem Massenbetrieb“ (Ann Cotten, Verbannt!, Berlin 2016)
 
In den gegenwärtigen Lyrik-Avantgarden ist nicht selten der im alltäglichen Sprachgebrauch verkannte Affekt des Gesprochenwerdens hochpräsent:
 
„Es ist ein von seinem Verfasser ferngesteuertes Gedicht / auf einem trüben Löschteich, trunken, taumelnd,/ das kurz vor seinem Ende erschrickt,/
weil es ganz ohne Sprache entstanden ist / und nur aus seinen Lesern besteht.“ (Ulrich Koch, SECHSTER NOVEMBER, facebook, 2016)
 
Keine Instanz, die Ich und Wir noch als Funktionen betrachtet, wie in Position eins, „Ich und Du und Müllers Kuh“, von der aus valide Aussagen über Welt abgeleitet werden könnten. Vielleicht ist Position eins auch deshalb bei einem größeren Publikum noch so beliebt, weil sie einen wiegt: in Sicherheit.
Man weiß, oder ahnt zumindest, wer da zu wem spricht und warum: Du dort, ich hier und ein bisschen Nutztier zwischen uns.
Ein Setting, das wie die Plangrundstücke neuer Siedlungen eine künftige Vergesellschaftung und gelingende Kommunikation zwischen Sender und Empfänger verspricht, weil die Texte verlässliche Koordinaten und Sprecherinstanzen bieten. Das alles kündigen die Avantgarden auf, oder zerstören dieses – nicht selten erst selbst aufgebaute – Setting nachhaltig.
 
Sie gehen voran, mit dem Rücken zum Publikum und machen dabei klar:
Geht man auf einer Weltkugel voran, dreht sie sich selbst darunter rückwärts.
Sprich, die Voranschreitenden misstrauen ihrer Vorreiterrolle:
 
„und da sitzen und nichts er warten und nichts wollen & da raus fühlen den /
neuen gesang dass er kommt nach all den v heerungen und störungen“ (Andre Rudolph, körper, fahrung mit sang, randnummer. literaturhefte, Juni 2016)
 
Ein wenig verhalten Avantgarden sich wie inverse Frisuren, man muss sie sich ständig aus dem Blickfeld streifen, um etwas zu sehen. Das macht sie nicht gerade beliebter bei einer eher durchblicksorientierten Leserschaft.
Zuweilen sehen sie dabei aber enorm gut aus, was dann auch schon mal hartgesottene Verständlichkeitspragmatiker*innen anlockt.
Die Poesiepose ist Avantgarden nicht unwesentlich. Nicht unbedingt als Provokation, ganz sicher aber als Setzung, die sich wenig vorschreiben lässt.
Und nichts ist ja so appealing, wie überzeugend vorgetragene Freiheitsattitüden.
Wer einmal ein Gedicht von Simone Kornappel betrachtet hat, die den Kontrakt mit der Normtastatur gleich ganz aufkündigt und, – den Mikrographen jüdischer Handschriften nicht unähnlich – ihre Texte eher zeichnet als schreibt, versteht schon besser, wohin sich der Tross bewegt. Selbstredend lässt er sich am Besten in eher flüchtigen Medien aufspüren, wie z. B. in der Literaturzeitschrift randnummer, die Kornappel mit begründet hat und herausgibt und von der man nie weiß, wann sie wieder erscheinen wird und in welcher Aufmachung.
Ganz zu schweigen von denen, die ihre Gedichte gleich auf den Social-Media-Plattformen posten, noch bevor sie gedruckt sind, oder es je werden.
Daneben haben sich ganze Verlage allein den tastend Vorandichtenden verschrieben, wie z. B. Brueterich Press, Edition Azur, Edition Korrespondenzen, die schon erwähnten Kookbooks, Parasitenpresse, Roughbooks, Verlagshaus Berlin, Reinecke & Voss, sowie die leider inzwischen abgewickelten Luxbooks.
 
So wie Corbusier einst die Wohnmaschine ins Leben rief, ließe sich von der Lyrik-Avantgarde heute sagen: Die Denkmaschine Gedicht denkt sich nichts aus, sie bildet sich etwas ein. Sie formt und formiert sich.
 
„Nicht ich und Gedicht entsprechen einander, das Gedicht und ich verschweigen einander, und was ich nicht sein will und das Gedicht nicht sein mag, hüllt uns  beide ein, mit Bewandtnissen, die uns zwar ummantelten, allein mein Gedicht soll überhaupt nicht gedacht werden, es soll nicht von Sinnen und gar nicht auszudenken sein!“ (aus: Oswald Egger, Was nicht gesagt ist. Berliner Rede zur Poesie, Göttingen 2016)
 
Die Denkmaschine Gedicht persifliert Paranoia als poetisches Prinzip:
 
„vorsicht, / siehst du nicht diesen adler? / er fixiert deine jugend. / entdeckt in ihren methoden einen gefährlichen subtext. / sobald du dich daran gewöhnt hast, hört er auf.“ (aus: Yevgeniy Breyger, Flüchtige Monde, 2016)

 
Letztlich besticht die Vorläufigkeitseuphorie der Vorausgehenden auf alles Vorangegangene, so dass mit Daniel Falb vage avantgardistisch zu sagen bleibt:
 
„– es könnte so gewesen sein –
 
            Enjoy!“
 
(Daniel Falb, aus: all dies hier, majestät, ist deins. Lyrik im Anthropozän. Anthologie, Berlin 2016)