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Andreas Gardt: Diskussionsbeitrag
Mehrsprachigkeit und Identität – wie viel Kultur steckt in der Sprache?

Kultur und Identität
© Colourbox

Die Sprache ist ein wichtiger Teil unserer Persönlichkeit. Er sagt direkt, woher jemand kommt, und erzählt damit einen Teil seiner Geschichte. Aber kann sie auch unsere Identität beeinflussen? Und was bedeutet das für diejenigen, die mehrsprachig sind?

Von Andreas Gardt

Sprache und Identität gehören untrennbar zusammen, das eine bedingt das andere. Das gilt für jede Sprachgemeinschaft, sowohl für den Einzelnen wie auch für Gruppen innerhalb des Ganzen, schließlich auch für das Ganze (der Deutschen, der Schweden, der Türken...) selbst.

Wer etwa als individueller Sprecher wiederholt aggressiv oder vulgär daherredet, wird nicht nur als jemand wahrgenommen, der aggressiv oder vulgär spricht, sondern als jemand, der oder die so ist.

Auch Gruppen innerhalb einer Sprachgemeinschaft bestimmen sich zum großen Teil über ihre Sprache. Jugendliche sprechen anders als Ältere, Sächsinnen anders als Bayern und wohl die meisten von uns sprechen mit Freunden in einem Fitnessstudio oder Fußballstadion anders als mit Vorgesetzten im Beruf.

Wir alle verfügen über unterschiedliche Identitäten, wählen unsere Formen des Sprechens passend aus und signalisieren unsere jeweils aktuelle Identität durch unsere Sprache. Die Linguistik spricht hier von „innerer Mehrsprachigkeit“ und meint damit das Nebeneinander unterschiedlicher Erscheinungsformen innerhalb einer Gesamtsprache.

Dabei erweist sich die oben gewählte Formulierung, die identitätsbildende Dimension von Sprache gelte „schließlich auch für das Ganze (der Deutschen...)“ tatsächlich als unzureichend. Denn Deutsch wird auch in anderen Staaten Europas gesprochen.

Deutsch ist nicht gleich Deutsch

Man denke nur an Österreich: Dialektgeographisch ist das dort gesprochene Deutsch zwar eine Variante des Bairischen, aber dennoch steht in den offiziellen Dokumenten der Europäischen Union dort, wo etwa von Kartoffeln die Rede ist, immer auch das in Österreich übliche Erdäpfel. Das gilt auch für etliche andere Austriazismen aus dem gastronomischen Bereich, und eine Umfrage hat schon 1991 gezeigt, dass über 50% der Österreicher angaben, ihre Sprache könnte auch als Österreichisch bezeichnet werden, müsse also nicht zwingend Deutsch heißen.

Wer Deutsch spricht, besitzt also keineswegs automatisch ‚deutsche Identität‘. Und umgekehrt: Man kann deutscher Sprachbürger sein, ohne umfassend Deutsch sprechen zu können.

All das zeigt, dass Sprache und Identität zwar in enger Verbindung stehen, dass es aber keine einfache Entsprechung gibt (wie bekanntlich auch nicht für Schweden und das Schwedische, das auch in Finnland eine offizielle Amtssprache ist, während in Schweden unter anderem das Finnische als Minderheitssprache anerkannt ist). Bei dem, was als Nationalsprache und als Ausdruck von nationaler Identität gilt, spielen also politische und gesellschaftliche Überzeugungen eine ganz entscheidende Rolle.

Nationalsprachen als kulturelle Konstruktionen spiegeln nicht einfach eine bereits vorgegebene Identität, sondern tragen zur Bildung und Festigung dieser Identität in hohem Maße bei.
Hinter all dem steht die die Überzeugung, dass die Sprache unser Denken, ja schon unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit maßgeblich prägt. Dieser Gedanke begegnet spätestens seit dem 17. Jahrhundert und schlägt sich in philosophischen Reflexionen ebenso nieder wie in der ganz aktuellen Diskussion darüber nieder, wie wir beim Gendern angemessen vorgehen sollten: Wenn wir gesellschaftliche Gruppen auf eine bestimmte Weise bezeichnen, charakterisieren wir sie immer auch, weisen wir Ihnen eine bestimmte Identität zu.

Das gilt nicht nur für heftig umstrittene Größen, sondern für sämtliche Phänomene unserer Lebenswelt. Vor allem der Wortschatz einer Sprache lässt erkennen, was ihre Sprecher wissen, wollen und empfinden, spiegelt also die gesamte Kultur dieser Sprachgemeinschaft und trägt zugleich dazu bei, diese Kultur im Bewusstsein der Sprecher zu verankern.

Englisch – das Tyrannosaurus Rex der Sprachenwelt

Spätestens an dieser Stelle kommt der Gedanke der Mehrsprachigkeit ins Spiel. Denn wenn eine Sprache spezifischer Ausdruck einer Kultur ist, dabei auch der Zuweisung verschiedener Identitäten dient, dann spiegeln und entwerfen unterschiedliche Sprachen unterschiedliche Kulturen und Identitäten. In klassischer Weise hat das im 19. Jahrhundert der unter anderem als Sprachwissenschaftler wirkende Wilhelm von Humboldt formuliert: „In jeder Sprache liegt eine eigentümliche Weltansicht“.

Noch in der Frühen Neuzeit wurde diese Vielfalt der Sprachen als Strafe gesehen. Durch ihre Hybris hatten die Menschen die einheitliche Sprache des Paradieses verloren und waren durch den Turmbau zu Babel zudem mit sprachlicher Vereinzelung geschlagen. Hinzu kam und kommt die Auffassung, dass die Konfrontation unterschiedlicher Sprachen mit ihren unterschiedlichen „Weltansichten“ die Identität der jeweils eigenen Sprache und Kultur gefährden könne.

Aus deutscher Sicht galt das bis ins 20. Jahrhundert für das Französische, ist mittlerweile international auf das Englische übertragen worden, das aufgrund seiner starken Präsenz gelegentlich als Tyrannosaurus Rex der Sprachenwelt bezeichnet wurde.

Aber das Nebeneinander unterschiedlicher Sprachen und der damit einhergehenden Kulturen und Identitäten ist nun einmal aufgrund globaler Migrationsbewegungen und zunehmender medialer Vernetzung zu einer nicht hintergehbaren Realität unseres Alltags geworden. Ebenso wird das Englische zunehmend zur weltweiten Lingua Franca. Wir sollten das nicht als Strafe begreifen, sondern als einen Gewinn.

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