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Autorin Judith Hermann im Interview
„Ich stelle mich dem Nichts“

Judith Hermann
Foto (Detail): © S. Fischer / © Michael Witte

Das neue Buch von Judith Hermann ist da: „Daheim“, nominiert für den Leipziger Buchpreis. Ein Gespräch über ihren frühen Erfolg, große Krisen und das Rauchen.

Von Wolfgang Schütz

Frau Hermann, Ihr neues Buch beginnt überraschend: Die ersten 20 Seiten haben Sie vor einigen Jahren bereits als Erzählung veröffentlicht. Wie das? War da noch was offen?

Judith Hermann: Das Schreiben an der Erzählung und die Weiterführung der Erzählung in den Roman war ein Prozess, ja. Ich habe die Erzählung „Falle“ geschrieben und abgeschlossen und einerseits gewusst, dass das schlicht eine klassische Short Story sein könnte – und ich habe gewusst, dass ich diese Short Story ausnahmsweise gerne weiterschreiben möchte. Ich wollte wissen, wie es dieser etwas spröden Figur im Leben ergehen wird – wenn sie nicht nach Singapur reisen wird, was tut sie dann? Was macht sie stattdessen und wie führt sie ihr Leben weiter – davon wollte ich erzählen.

Judith Hermann: “Ich suche nach etwas Metaphysischem”

Zwischen Ihren Büchern vergeht relativ viel Zeit. Allerdings leuchtet beim Lesen sofort ein, warum. Es wirkt nie, als würden Sie eine vorkonstruierte Geschichte möglichst realistisch schildern wollen, sondern immer als würden Sie in der Sprache die Wirklichkeit erst schaffen und dann sehen, wohin Sie das bringt. Das kann man sich nur schwer als Arbeitspensum im Alltag vorstellen, eher als würden Sie dafür in einen Schutzraum, eine Phase gehen müssen, in der alles fraglich werden kann. Ist es so? Haben Sie sich also wieder mal ein Herz gefasst und sich dem Nichts gestellt?

Hermann: Vielen Dank für diese schöne Formulierung. Ich glaube, es ist genau so – ich fasse mir ein Herz und stelle mich dem Nichts. Bücher geschrieben zu haben, bedeutet in keiner Weise, schreiben zu können. Jedes Buch heißt Schreiben von vorne, es geht immer alles auf Anfang zurück, das leere Blatt Papier ist jedes Mal vollkommen weiß. Dieses Weiß staunt mich im übertragenen Sinne jedes Mal an. Mit jedem Buch lerne ich etwas – und ich verliere etwas, es ist ein Plus-minus-Null-Pakt, ich beginne immer wieder neu. Die vorkonstruierte Geschichte interessiert mich weniger, es freut mich, dass es Ihnen so vorkommt, als würde ich die Wirklichkeit eher in der Sprache schaffen. Ich suche nach etwas – nach etwas Metaphysischem, nach dem Ton, der zu dem Jahr und zu der Zeit gehört, in der ich einen neuen Versuch machen will.

Es liegt eine Spannung in Ihrem Erzählen, die man durch das Geschilderte eigentlich gar nicht recht erklären kann, fast eine Art Suspense, als müsste man jederzeit auf alles gefasst sein, den Tod, das Glück, sogar den Horror. Eine gewollte Wirkung? Ist es vielleicht, wie Ihre Ich-Erzählerin einmal nahelegt, dass man sich meist rückblickend und bei genauem Hinsehen eigentlich nur wundern kann, woher wir das Vertrauen ins Leben nehmen?

Hermann: Für mich ist das fast ein Lebensgefühl – diese Haltung, jederzeit auf alles gefasst zu sein, auf die schwierigen Dinge und auf die schönen auch. Ich wünschte oft, ich könnte dem Alltag mit mehr Gelassenheit begegnen, ich könnte mich „auf das Leben verlassen“. Aber mir fällt das schwer. Und natürlich ist das anstrengend – aber auf der anderen Seite bringt es eben auch eine gewisse Dichte der Ereignisse mit sich, ein mögliches magisches Moment, das sich auch auf das Allerkleinste, Allerunwichtigste legen kann. Und dadurch entsteht beim Schreiben vielleicht diese Art Suspense, nach der Sie fragen.

Judith Hermann: Früher musste sie rauchen beim Schreiben. Und heute?

Ihre Ich-Erzählerin arbeitet in der einleitenden Erinnerung in einer Zigaretten-Fabrik, raucht viel, bevor sie uns dann fast 30 Jahre später in einem Dorf an der Küste wiederbegegnet, als Nicht-Raucherin. Wie ist es bei Ihnen? Sie haben mal gesagt, Sie könnten nicht schreiben, ohne zu rauchen …

Hermann: Ich habe mir das Rauchen vor über fünfzehn Jahren schweren Herzens abgewöhnt. Die ersten beiden Bücher sind rauchend geschrieben, seit „Alice“ sitze ich mit Tee, Äpfeln und japanischen Räucherstäbchen am Schreibtisch. Ich liebe Rauch – das Rauchen fehlt mir noch immer, ich glaube, man wird das nicht los, es ist eine Grundstruktur. Aber natürlich bin ich letztlich heilfroh, nicht mehr rauchen zu müssen. Die Zigaretten sind über drei Bücher hinweg aus den Texten verschwunden – und in „Daheim“ tauchen sie jetzt wieder auf. Die Figuren rauchen zum Teil viel, sie rauchen leidenschaftlich. Sie dürfen das – weil ich mich in Sicherheit gebracht habe.

“Sommerhaus, später”: “Der frühe Erfolg war Last und Glück”

Damals, Sie waren 27, galten Sie gleich mit Ihrem Debüt, dem Erzählband „Sommerhaus, später“, als Galionsfigur eines Fräuleinwunders in der deutschen Literatur. Wie haben Sie das eigentlich überstanden?

Hermann: Lauter große Worte, oder. Fräuleinwunder – heutzutage wäre das verboten –, Galionsfigur und die deutsche Literatur. Ich habe das nicht sehr ernst genommen – aus reinem Selbstschutz. Das hat mir natürlich viel Freude genommen – aber es hat mir auch geholfen, auf Abstand und bei mir selber zu bleiben. Der frühe Erfolg war Glück und Last, er prägt das Schreiben bis heute.

In Ihrem neuen Buch nun wird vor allem das fraglich, was im Titel wie eine Feststellung wirkt: „Daheim“. Brauchen wir Wurzeln? Woher wissen wir, wer wir sind? Und können wir den Erinnerungen, auf die wir unser Selbstbild bauen, überhaupt vertrauen? Jede Figur scheint dazu wie ein eigener Versuch einer Antwort zu wirken. Und doch zeichnet sich ab, was die Ich-Erzählerin so formuliert: dass wir meistens scheitern. Außer, wie sie auch sagt, wir finden als Trabanten eine Sonne, um die wir kreisen können?

Hermann: Ja, sie sagt das so – wir scheitern fast immer. Aber der Ton, in dem sie das formuliert, hat etwas gelassenes und in diesem Scheitern stecken auch immer neue Wege und ungeahnte Möglichkeiten. Mit jedem Scheitern verliert man etwas und dafür taucht etwas ganz anderes auf, etwas, das einem ohne das Scheitern nie in den Sinn gekommen wäre. Die Figuren des Buches sind mit all den Sehnsüchten und Wünschen, die sich in ihrem Leben nicht erfüllt haben, ganz einverstanden. Ein bisschen bitter, etwas wehmütig, aber trotzdem – sie sind einverstanden und sie sind, auf eine vielleicht enthaltsame Art, ziemlich gegenwärtig. Ihre Leben haben Zentren –das Zentrum der Erzählerin sind ihr Kind und ihr Mann – und diese Zentren sind unveränderbar. Aber trotzdem gibt es Begegnungen und diese Begegnungen bedeuten etwas. Sie können zärtlich sein. Stärkend und beglückend.

“Ein schlechtes Gewissen, weil Corona meinen Alltag nicht viel verändert”

Ist es ein Buch über die existenzielle Einsamkeit in der Moderne und unseren Strategien, mit ihr zu leben oder auch ihr entkommen zu können?

Hermann: Vielleicht wird es das sein? Das Buch ist eindimensional, wenn ich es schreibe. Wenn es gelesen wird, wird es wach – es wird interpretiert, verstanden, missverstanden, eingeordnet und belebt. Es kann sein, dass es ein Buch über existenzielle Einsamkeit ist – auch wenn ich in diesen Begriffen schreibend nicht gedacht habe.

Wie geht es Ihnen mit der vielen Zeit „daheim“ wegen Corona?

Hermann: Ich habe oft ein schlechtes Gewissen, weil sich an meinem Alltag durch Corona auf eine Weise nicht viel ändert – ich bin viel „daheim“, ich bin viel alleine, ich schreibe was, ich lese, ich gehe lange spazieren, ich rede mit mir selber. Keine Veränderung eigentlich – und natürlich stimmt das nicht. Mir fehlen meine Eltern, meine Familie, die einfachen Begegnungen, die Berührungen, Umarmungen. Feste. Große Essen. Nachmittage im Kino. Theaterbesuche, Reisen, eine volle Straßenbahn und eine riesige Party. Die Sorglosigkeit, das einfache Leben. Das, was uns allen fehlt.

Obwohl Sie wieder sehr genau über die Menschen schreiben in einer Zeit, die auch die unsere ist, käme man auch bei diesem Buch nie auf die Idee, es einen Gesellschaftsroman zu nennen. Die Nachbarin der Ich-Erzählerin ist die Einzige, die überhaupt Probleme wie die Umwelt- und Klimakrise anspricht – was aber sofort verpufft. Vermeiden Sie die Bedeutungsschwere des größeren Bildes bewusst oder löst es sich im Blick auf den Einzelnen auf?

Hermann: Ich empfinde es so, wie es der Bruder der Ich-Erzählerin formuliert – er sagt, man könne über diese Dinge nicht reden. Es sei wichtig, sie wahrzunehmen, sie mit ins Leben zu nehmen – das Reden würde nichts ändern. Etwas daran ist mir nah. Und trotzdem wollte ich, dass die Figuren über diese bedeutungsschweren Bilder miteinander sprechen. Ich wollte sie verorten, ich wollte sie zeitlich ganz klar festlegen: sie sind hier, sie sind mit uns, und sie sind – so wie wir alle – Teil des Problems. Sie haben an der Krise ihren Anteil, so wie wir einen Anteil daran haben.

“Dann werde ich weg und die Welt im Krieg um Wasser sein”

Wie leben Sie selbst, auch als Mutter, in dieser Zeit, die so voll scheint von großen Krisen, bereits gegenwärtigen, aber auch sich ankündigenden?

Hermann: Tja. Wie lebe ich. Ich zähle die Jahre und dann zähle ich die Jahre meines Sohnes, und wenn er so alt ist, wie ich es jetzt bin, werde ich vermutlich weg und die Welt wird im Krieg ums Wasser sein. Wie lebe ich damit? Es ist unvorstellbar. Und wird trotzdem stattfinden. Ich höre meinem Sohn und seinen Freunden zu, sie reden unentwegt über diese Dinge und vielleicht gelingt ihnen, was ich für unmöglich halte, weil ich alt bin: vielleicht ändern sie die Welt, die wir ihnen so wortlos überlassen.

Sie sind mit dem Roman für den Leipziger Buchpreis nominiert, haben – obwohl sie als „eine der größten zeitgenössischen deutschen Autorinnen gelten“ – weder diesen, noch den Deutschen Buchpreis bislang gewonnen. Etwas Besonderes für Sie?

Hermann: Die Stimmung meinen Texten gegenüber ist oft angespannt und vielleicht ratlos, bisweilen ziemlich aggressiv. Ich bin ausgesprochen glücklich über diese Nominierung. Sie hat dem Buch einen so warmen und freundlichen Start ermöglicht, es kommt auf eine für mich sehr friedliche Weise in die Welt.

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