Aktuelle Musik aus Deutschland  Popcast #1/2025

Anadol & Marie Klock
Anadol & Marie Klock © Eda Arda

mit Musik von: 

Cava | Buback
Spliff | Sony Music
Anadol & Marie Klock | Pingipung
Funny van Dannen | Trikont
Wolf Biermann | Clouds Hill
Autor und Sprecher (Deutsch): Ralf Summer

© Pingipung
 
Now we’re in control, we want the power
And when you talk, we just talk louder
Cava, „Control“
 
Cava

Cava | © Merle Wagner

Als die beiden Frauen des Garagenrock-Duos Cava in Berlin aufwuchsen, revolutionierte gerade die Riot-Grrrl-Bewegung in den Vereinigten Staaten der Neunzigerjahre die Genderstruktur der Rockmusik: Die Dominanz des Patriarchats wurde geschwächt, und eine feministische Subkultur begann sich in den Musik- und Kunstszenen weltweit zu etablieren. Inhaltlich wie musikalisch konsequent setzen Gitarristin und Sängerin Peppi Ahrens und Schlagzeugerin Mela Schulz diesen Weg jetzt auf ihrem zweiten Album Powertrip fort. Geschickt, wütend und mit Blick nach vorn weben die beiden die Retro-Elemente ihrer Musik in ein aktuelles Gewand aus brachialem Rock und kämpferischer Energie. Dabei waren die beiden zunächst gar nicht zufrieden mit ihrem Werk und hatten das fertige Album kurz vor der Veröffentlichung nochmal zurück ins Studio genommen, um es neu zu mischen – es war ihnen zu poppig geworden. Jetzt fein austariert zwischen hochklassischer Produktion und rauer Live-Energie kann man nur zustimmen – so geht auch 2025 noch Garagenrock!
 
Spliff

Spliff | © SMD/Sony Music Germany GmbH


Die Berliner Band Spliff wird den meisten Menschen außerhalb Deutschlands höchstens als die Begleitband von Nina Hagen bekannt sein. Nach derer Flucht aus der DDR im Jahre 1976 (sie folgte ihrem Stiefvater Wolf Biermann, siehe weiter unten) hatte sich die damals 21-jährige Sängerin in Westberlin eine neue Band suchen müssen, und fand in der Politrock-Combo Lokomotive Kreuzberg geeignete Mitstreiter. Die Gruppe veröffentlichte 1978 das klassische Nina Hagen Band-Album, aber die Verbindung hielt nur ein Jahr lang: Die Band machte unter dem Namen Spliff weiter, und veröffentlichte in der Folge vier Alben. Geprägt durch die äußerst unterschiedlichen Einflüsse der Bandmitglieder, das konsequent verwendete (rein elektronische) Simmons-Drumset von Schlagzeuger Herwig Mitteregger und bisweilen etwas merkwürdig anmutende Albereien auf den späteren Alben ist das Werk nicht durchweg hörbar, bietet aber auf der anderen Seite, vor allem auf dem zweiten Album 85555 aus dem Jahre 1982, einige musikalische Höhepunkte deutscher Popmusik (Déja Vu, Carbonara), die von großem kommerziellen Erfolg gekrönt waren und auch heute noch zum Popmusik-Kanon der Nation gehören. Nach diesem Zweitwerk, auf dem die Band sich gefunden zu haben schien und einen eigenen Sound zu entwickeln vermochte, verstrickten sie sich in immer skurriler werdenden Experimenten und lösten sich schließlich auf. Das Gesamtwerk ist jetzt von ihrer Plattenfirma komplett wiederveröffentlicht worden.
 
Wolf Biermann

Wolf Biermann | Bundesarchiv, Bild 183-1989-1201-046 / Waltraud Grubitzsch (geb. Raphael) / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE , via Wikimedia Commons

 
Olle Kamellen sind das nur
Es sind die alten Lieder
Am Alex an der Weltzeituhr
So trifft man sich wieder
Wolf Biermann „Am Alex an der Weltzeituhr“, interpriert von Haiyti
Die Biografie Wolf Biermanns ist selbst für die Nachkriegsgeneration Deutschlands außergewöhnlich. Der 1936 in Hamburg geborene Künstler, Sohn eines in Ausschwitz ermordeten jüdischen Arbeiters, entschied sich16-jährig, damals überzeugter Kommunist, dazu, in die DDR umzusiedeln. Er studierte Philosophie und Mathematik, begann Gedichte und Lieder zu schreiben, und wurde kurz darauf, Anfang der Sechzigerjahre auch als Theaterautor bekannt. Aufgrund seiner kritischen Haltung gegen das diktatorische Regime des ostdeutschen Staates erhielt er dort einige Jahre später Auftrittsverbot und wurde schließlich 1976 ausgebürgert, um seine Karriere als Singer/Songwriter in Hamburg fortzusetzen. Sein reicher Katalog von rund 300 Songs wurde jetzt vom Hamburger Künstler und Produzenten Johann Scheerer (The Mars Volta, Pete Doherty) aufgekauft. In Zusammenarbeit mit Wolf Biermann selbst entstanden für das Album Wolf Biermann Re:Imagined – Lieder für Jetzt ! 22 Coverversionen seiner Songs der unterschiedlichsten Künster*innen, zum Beispiel vom Rap-Veteranen Torch, der Trap-Ikone Haiyti, der Deutschrock-Legende Wolfgang Niedecken oder der Schauspielerin Meret Becker. Die Stück, in denen es um Themen wie soziale Gerechtigkeit, Kritik an der DDR und Diktaturen im Allgemeinen, Freiheit, Demokratie, um Umwelt und Frieden, aber auch um ganz persönliche Introspektionen geht, klingen in ihren modernen Interpretationen auf unheimliche Weise aktuell. Dieses umfangreiche und mit großer Liebe zusammengestellte Projekt ruft einen der wichtigsten politischen Künstler der deutschen Nachkriegszeit ins Gegenwartsgedächtnis und erinnert an einen der wertvollsten und relevantesten Kataloge politischer Kunst in Deutschland seit Bert Brecht.
 
Anadol & Marie Klock

Anadol & Marie Klock | © Eda Arda

 
Certaines conditions sont rarement remplies
[Bestimmte Bedingungen werden selten erfüllt]
Anadol & Marie Klock, „Sonate au jambon“
Auf dem tollen, liebevoll inhabergeführten Hamburger Label Pingipung ist La grande accumulation erschienen, eine verspielte Pop-Kollaboration zwischen Anadol aka Gözen Atila und Marie Klock, zwei Künstlerinnen aus Paris und Istanbul, die sich gegenseitig zu immer größeren Höhen der Skurrilität zu treiben scheinen. Die Grenzen zwischen analogem und elektronischem Instrumentarium werden konsequent verwischt, was für eine Rolle spielt es schon, ob ein Piano oder eine alte Orgel, ein Software-Synthesizer oder ein sanftes Pfeifen die kleinen, französischsprachigen Geschichten aus einer fernen, fantastischen Welt begleiten. Selbst der Wind darf eine Melodie beitragen, wenn Marie Klock von Sammlerinnen, Schinken und nächtlichen Exkursionen erzählt, und der Zauber ihrer Popkleinode wirkt noch lange nach.
 
Funny van Dannen

Funny van Dannen | © Paula Janssen

Wenn der Krieg vorbei ist, wird es wieder schön.
Dann können alle ohne Angst wohin sie wollen geh’n.
Die Himmel werden wieder blau sein,
und der Lippenstift so rot.
Und die Lippen so voll und die Liebe so toll,
Nur die Toten sind immer noch so tot.
Funny van Dannen, „Wenn der Krieg vorbei ist“
Songs to Go wird Funny van Dannens letztes Album sein. Der Buchautor, bildende Künstler und Liedermacher, ehemals Gründungsmitglied der Lassie Singers, verlässt die Bühne mit einem sicheren Gefühl, wie er selbst sagt. Seine Geschichten voll zartbitterer Ironie und unglaublicher Absurditäten, immer voller Humor und Poesie, haben seit 1995 die deutsche Musiklandschaft geprägt und hinterlassen eine Lücke, die wohl nicht gefüllt werden kann. So wie auch dieses letzte Album überwiegend live aufgenommen, hat sich Funny van Dannen meist nur selbst auf der Gitarre begleitet, ein Meister der leisen Töne, ein „Genie des Trivialen“, wie Die Zeit ihn einmal nannte, wurde aber auch viel zitiert und insbesondere von Punkbands wie Dackelblut oder Rantanplan gecovert. Mit den Toten Hosen, einer der größten deutschen Rockbands, auf deren Label er den Großteil seiner Alben veröffentlich hat, verbindet ihn eine tiefe Freundschaft. Songs to Go zeigt einen Künstler auf der Höhe seines Schaffens, der, geschuldet dem „albernen Faible meiner Generation für Selbstbestimmung, oder vielleicht auch dem Eindruck, dass übermäßige Produktion etwas von Wahnsinn oder Hysterie hat“ mit gänzlich erhobenem Haupt abtritt.
 

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