Rosinenpicker | 10. Todestag Günter Grass  Der fatale Knorpel

Filmszene aus „Katz und Maus“ (1967): Mahlke (Lars Brandt) mit Eisernem Kreuz
Filmszene aus „Katz und Maus“ (1967): Mahlke (Lars Brandt) mit Eisernem Kreuz © picture-alliance / dpa | DB

Vor 10 Jahren starb Günter Grass. Der kürzeste Teil seiner Danziger Trilogie bietet einen zugänglichen, gleichwohl anspruchsvollen Einstieg in das Werk des Literaturnobelpreisträgers.

Am 13. April 2025 jährt sich Günter Grass‘ Todestag zum zehnten Mal. 1999, vor gut 25 Jahren, bekam der deutsche Schriftsteller den Literaturnobelpreis. Grass war Teil der Gruppe 47, die zwei Jahrzehnte lang die Literaturszene im Nachkriegsdeutschland prägte. Er wurde 1959 mit seinem Romandebüt Die Blechtrommel über Nacht berühmt und entwickelte sich zu einem der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Die Blechtrommel war der erste Teil seiner Danziger Trilogie. Während ein weiterer umfangreicher Roman, Hundejahre, 1963 den Abschluss bildete, ist der zweite Teil, Katz und Maus (1961), eine Novelle. Alle drei Werke spielen im Erinnerungsraum Danzig (polnisch Gdańsk) – in jener Stadt, in der Grass 1927 geboren wurde und aufwuchs. Seine Eltern betrieben ein Kolonialwarengeschäft im Danziger Stadtteil Langfuhr.

Ein Sonderling als Hauptfigur

Katz und Maus ist gut als Einstieg in Grass‘ Werk geeignet und um seine literarische Methode kennenzulernen. Ursprünglich als Roman konzipiert, brach Grass die Arbeit am Mittelstück seiner Trilogie ab und entschloss sich, aus einem Teil des Stoffes eine Novelle zu formen. Die Handlung spielt zur Zeit des Zweiten Weltkrieges und kreist um den Ich-Erzähler Heini Pilenz und dessen ehemaligen Schulkameraden Joachim Mahlke. Pilenz ist nach dem Krieg nach Düsseldorf gezogen, wo übrigens auch Grass in den Jahren von 1948 bis 1952 Grafik und Bildhauerei an der Kunstakademie studierte, und erzählt die Geschichte in der Rückschau.

Mahlke ist die eigentliche Hauptfigur, ein Sonderling mit durch Zuckerwasser fixiertem Mittelscheitel, der unter seinem überdimensionalen Adamsapfel leidet. ER versucht ihn unter einem Schraubenzieher am Schnürsenkel, einer Fliege, modischen Puscheln und am Ende unter dem Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes zu verstecken. Der „fatale“ Knorpel“ ist für Mahlke ein Stigma:
Konnte mich einfach nicht an das Ding da gewöhnen. Dachte, das ist eine Art Krankheit, dabei ist das vollkommen normal.
Als wäre das nicht schon sonderbar genug, stattet Grass diese Figur mit weiteren Merkwürdigkeiten aus. Mahlke ist dem Marienkult verfallen: „Natürlich glaube ich nicht an Gott. Der übliche Schwindel, das Volk zu verdummen. Die einzige, an die ich glaube, ist die Jungfrau Maria. Deshalb werde ich auch nicht heiraten.“ Als Berufswunsch gibt er Clown an, später meldet er sich aber trotz seiner Abneigung gegen „Militär, Kriegsspiele und diese Überbetonung des Soldatischen“ freiwillig und landet bei einer Panzereinheit, bei der er – begleitet von einem Marienbild – so viele russische Panzer zerstört, dass er das Ritterkreuz verliehen bekommt.

Grass: Katz und Maus (Buchcover) © dtv

Die Karikatur des Erlösers

Pilenz hat ein ambivalentes Verhältnis zu Mahlke. Zunächst beteiligt er sich auch daran, den Außenseiter zu hänseln, wenn er etwa zu Beginn der Novelle eine Katze auf den sich stets auf und ab bewegenden, einer Maus ähnelnden Adamsapfel ansetzt. Später ist er fasziniert vom „Großen Mahlke“, von dessen Mut zu Eigenwilligkeit und Andersartigkeit. Von einem Mitschüler wird er zudem aufgrund seiner Leidensmiene als Christusfigur karikiert: „Der Erlöser Mahlke war perfekt und verfehlte seine Wirkung nicht.“

Die Erzählmotivation für Pilenz ist sein Schuldgefühl. Es plagt ihn, weil er Mahlke am Ende im Stich lässt, als dieser desertiert ist und sich unter Deck eines gesunkenen polnischen Minensuchboots versteckt, wo er sich in der über dem Wasserspiegel liegenden Funkerkabine häuslich eingerichtet hatte, inklusive eines „Marienkapellchens“. Mahlke taucht im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr auf. Pilenz sucht ihn auch nach dem Krieg, findet ihn jedoch nicht mehr wieder.

Posthum muss er sich diese Geschichte vom Leib schreiben, sie kommt einer Beichte gleich. „Ich schreibe, denn das muss weg“, erklärt der Protagonist an einer Stelle. Zwanghaft hält er seine Erinnerungen fest, doch das Schreiben bringt keine Erleichterung, schon gar keine Erlösung. Es gehe in der Novelle „um das Erinnern und das Vergessen von persönlicher Schuld, um den Widerspruch von Mitteilungszwang und Mitteilungsversagen in der deutschen Erinnerungsproblematik“, schreibt Hans Zimmermann in seiner Grass-Biografie. Das Erinnern ist vielleicht auch eine Art Katz-und-Maus-Spiel. So wie die Maus keine Chance hat, der Katze zu entkommen, entkommt auch der Mensch seiner Geschichte nicht, mag er auch noch so verzweifelt versuchen, sie in Erinnerungen „aufzuarbeiten“.

Onanie an der Ostsee

Berühmt-berüchtigt ist Grass' ausufernd beschriebene Gruppenmasturbationsszene der Jugendlichen an Deck des gesunkenen Minensuchboots. Eine Clique, unter ihnen Pilenz und Mahlke, schwimmt regelmäßig hinaus zu diesem Kahn, einem Zufluchtsort, an dem herrschende Normen außer Kraft gesetzt sind. Die Jungen onanieren, angefeuert von einem Mädchen namens Tulla Pokriefke, das sie bisweilen begleitet und davon erregt wird:
Als das Zeug endlich kam und auf den Rost klatschte, begann sie erst richtig zappelig zu werden, warf sich auf den Bauch, machte enge Rattenaugen, guckte guckte, wollte ichweißnichtwas entdecken.
Auch in dieser Hinsicht ragt Mahlke im wörtlichen Sinne hervor:
Mahlkes war erstens eine Nummer dicker, zweitens um eine Streichholzschachtel länger und sah drittens viel erwachsener gefährlicher anbetungswürdiger aus. Er hatte es uns wieder einmal gezeigt und zeigte es uns gleich darauf noch einmal, indem er sich zweimal nacheinander etwas – wie wir es nannten – von der Palme lockte.

Danzig ist (fast) überall

In Grass‘ Novelle sind viele typische Elemente seines Schreib- und Sprachstils zu entdecken: Sein spielerischer bis experimenteller Umgang mit der Sprache, der häufige Wechsel zwischen Mundart und Hochsprache, der enorme Reichtum an Andeutungen, sodass ein komplexes Symbol- und Motivgeflecht entsteht. Auch Grass‘ Hang zur Obszönität und zur ausführlichen Beschreibung von körperlichen Besonderheiten bis hin zu Abnormitäten wird nicht nur in der obigen Szene deutlich.

Zudem wird der Lesende oft im Unklaren belassen, daher sind unzuverlässige Erzähler – wie Pilenz in Katz und Maus – gang und gäbe. Und schließlich ist ein hohes Maß an Intertextualität typisch für Grass, auch und gerade zwischen seinen eigenen Werken. Die Figuren aus seinem Danziger Kosmos begleiten einen durch sein Œu­v­re, so taucht in Katz und Maus der kleinwüchsige Blechtrommler Oskar Matzerath mehrfach auf – Pilenz und Tulla Pokriefke haben dagegen ihre Auftritte in Hundejahre. Und selbst in späteren Werken wie der Novelle Im Krebsgang (2002) begegnen einem bestimmte Figuren immer wieder. Danzig ist eben (fast) überall.
 
Günter Grass: Katz und Maus. Eine Novelle
Göttingen: Steidl, 2011. 159 S.
ISBN: 978-3-86930-237-9 (gebundene Ausgabe)
München: dtv, 2014. 160 S.
ISBN: 978-3-423-14347-9 (Taschenbuch)
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