Puzzeln, Trauerreden und ein Mafia-Kronzeuge – wie man all das und noch viel mehr in einem ebenso verzwickten wie amüsanten Roman unterbringt, zeigt uns Wolf Haas in seinem neuen Werk „Wackelkontakt".
Ein Mann namens Franz Escher, Trauerredner von Beruf, sitzt in seiner Wohnung, wartet auf den Elektriker und vertreibt sich die Zeit mit seiner Leidenschaft, dem Puzzeln. Als er damit fertig ist, tut er etwas, das er eigentlich gar nicht mag: Er denkt über sein Leben nach. So erfährt man, dass sein erstes Puzzle das Geschenk einer unglücklich verlaufenen Jugendliebe war – mit einem Motiv des Täuschungskünstlers M.C. Escher. Danach löste eine verpasste Leidenschaft die andere ab.Puzzle im Spiegel der Kunstgeschichte
Dass er so schnell mit seinem Puzzle fertig ist, liegt daran, dass es sich um ein Puzzle mit dem Motiv Die große Welle vor Kanagawa handelt, dem weltberühmten Farbholzschnitt von Hokusai. Dieses Puzzle mag Escher nicht besonders, weniger wegen der „weltweiten Verkitschung“ des Motivs, sondern weil es nur aus 500 Teilen besteht. Das ist normalerweise nicht Eschers Liga, er bevorzugt Puzzles mit 1000 Teilen. Seine „Highlights“ zeigen allesamt Werke der Kunstgeschichte: die Madonna mit dem langen Hals von Parmigianino, der Turmbau zu Babel von Pieter Bruegel dem Älteren oder Dürers Marter der zehntausend Christen.Das Warten auf den Elektriker geht weiter. Also beendet Escher das unangenehme Nachdenken über sich selbst, indem er seiner zweiten Leidenschaft frönt: dem Lesen von Büchern über die Mafia. In diesem Fall geht es um einen Mafia-Kronzeugen, der unter Zeugenschutz gestellt wird und in Deutschland ein neues Leben mit einer neuen Identität beginnen soll. Aus Elio Russo wird Marko Steiner.
Ein fataler Kurzschluss
So beginnt Wolf Haas‘ neuer Roman Wackelkontakt. Dass Elio respektive Marko ebenfalls immer wieder zur Entspannung oder Ablenkung zu einem Buch greift, das von einem Mann handelt, der in seiner Wohnung sitzt und auf einen Elektriker wartet, lässt ahnen, dass sich die beiden Handlungsstränge wie ein Puzzle Stück für Stück zusammensetzen könnten.Und so konstruiert Haas einen doppelten Roman-im-Roman, der aus zwei Teilen besteht, die lapidar „Off“ und „On“ heißen. Befinden sich die beiden Romane im ersten Teil noch in einer Off-Beziehung, wird die Beziehung im zweiten Teil auf „On“ gestellt – und die Protagonisten merken, dass tatsächlich sie im jeweils anderen Buch gemeint sind.
Haas lässt diese ineinander verwobenen Geschichten immer schneller aufeinander zurasen. Das Buch nimmt Fahrt auf, als der Elektriker endlich zu Escher kommt, aber schon bald tot in der Küche liegt, verursacht durch einen Stromstoß. Escher ist nicht ganz unschuldig daran. Zur Beruhigung liest Escher erst mal in seinem Mafia-Roman weiter. Die Handlung springt also wieder zu Marko Steiner, der gerade die erste Nacht seines neuen Lebens auf der Durchreise in einem Hotel in Rom verbringt, weiterhin in Sorge von einem Auftragskiller der Mafia ermordet zu werden.
Ins Land der Schnitzelfresser
Es geht hin und her, vom einen Roman im Roman zum anderen. Sowohl Escher als auch Marko brauchen immer wieder eine Pause von ihrem Leben und greifen zum jeweiligen Buch. Marko liest übrigens zum Deutsch lernen ein Buch seines ehemaligen Zellnachbarn Sven, einem deutschen Junkie, der ihm während des Mafia-Prozesses in die Zelle gesetzt wurde. Svens Slang führt dazu, dass Marko sich ein recht derbes Deutsch aneignet.So isst er – noch in Italien – ein Schnitzel, „vielleicht aus übertriebener Anpassung an seine zukünftigen Landsleute oder aus übertriebener Gefängnissentimentalität, weil Sven seine Landsleute abwechselnd als Schnitzelfresser und als Schnitzelfressen bezeichnet hatte. Er hatte lange gebraucht, um den Unterschied zu begreifen. In seinem Vokabelheft hatte er auch den von Sven häufig gebrauchten Ausruf ‚meine Fresse!‘ eingetragen sowie ‚Fresse halten!‘ und ‚diese Sackfresse!‘“.
Es passiert noch zu viel, um es hier wiedergeben zu können. Nur so viel sei verraten: Das Buch ist auch ein Liebesroman mit mehreren Facetten. So lernt Marko in Deutschland eine Frau namens Gabi kennen. Diese Liebe auf den ersten Blick mündet rasch in eine äußerst harmonische Ehe, deren Geheimnis darin besteht, dass sich die beiden keine unnützen Fragen stellen:
Weder sie sagte jemals, warum schaust du so, noch er sagte jemals, warum schaust du so… Es war die reine Liebe ohne sinnloses Interesse aneinander“
Verspielt und im besten Sinne originell
Haas‘ Roman wurde in den Feuilletons überwiegend begeistert besprochen und war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Dieser „knifflig verschachtelte und verspielte Roman“ sei ein „im besten Sinn originelles Werk“, so die Jury. Mit dieser Meinung ist die Jury nicht alleine, denn Haas hat generell eine große Fangemeinde. Fast alle, die ihn kennen, lieben ihn auch. Doch gerade das macht ihn für manche verdächtig und führt zu dem gängigen Vorbehalt gegen Schriftsteller*innen, die besonders populär und erfolgreich sind: Zu beliebt, um wirklich gut zu sein! Da muss es einen Haken geben!So macht etwa der Schriftstellerkollege Franzobel im Literarischen Quartett eine Einschränkung. Es fehle ihm bei den Figuren etwas „das psychologische Senkblei“, sprich: die psychologische Tiefe. Nichtsdestotrotz gesteht auch Franzobel, dass er Haas liebe, und wenn der Roman schon nicht „genial“ sei, so sei er immerhin „großartig“.
Und natürlich hat ein derart konstruierter Roman bei aller Raffinesse den einen oder anderen Wackelkontakt, doch zum literarischen Kurzschluss kommt es nicht, dazu bereitet das Buch mit seinem enormen Sprachwitz einfach zu viel Lesevergnügen. Mein Fazit: Literatur muss es gestattet sein, über das Reich der Logik hinauszugehen – nur logisch sind und handeln wir alle ohnehin nicht. Und ist das Leben im Grunde nicht eine einzige Abfolge von Wackelkontakten?
Wolf Haas: Wackelkontakt. Roman
München: Hanser, 2025. 240 S.
ISBN: 978-3-446-28272-8
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe
München: Hanser, 2025. 240 S.
ISBN: 978-3-446-28272-8
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Mai 2025