Zu seinem 100. Geburtstag erinnern wir an Ernst Jandl – bekannt vor allem durch seine experimentelle Lyrik. Seine Gedichte waren vieles: politisch, komisch, drastisch, schwermütig. Und niemand konnte sie so gut vortragen wie Jandl selbst.
1. August 1925: Ernst Jandl kommt in Wien zur Welt. Dort stirbt er auch am 9. Juni 2000. Berühmt wurde Jandl durch seine Gedichte, in denen er in vielerlei Richtungen experimentierte. Er schrieb Konkrete Poesie, in der die Sprache selbst Zweck und Gegenstand des Gedichts ist, er verfasste Visuelle Poesie, bei der die visuelle Darstellung des Textes im Vordergrund steht, und er erdachte Lautgedichte wie schtzngrmm (1957), ein Sprechgedicht, das seinen Inhalt erst durch den Vortrag offenbart. Schriftstellerkollege Helmut Heißenbüttel (1921-1996) bezeichnete Jandl als einen „der ersten Autoren, deren Ruhm sich nicht in Büchern begründete, sondern im gesprochenen Wort“.Jandl schrieb in einer bewusst stark reduzierten, am Alltagsgebrauch orientierten Sprache. Im Rahmen seiner legendären Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1984/85 sprach er von einer „heruntergekommenen Sprache“. Ein weiteres Stilmerkmal ist die nahezu konsequente Kleinschreibung, die er bereits seit der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre anwandte, um die Grenzen zwischen den Wortgattungen weiter zu verwischen. Auch von seinem Sinn für Typografie, der Gestaltung und Anordnung der Schriftzeichen, war Jandls Werk stark geprägt. Als Vorbilder nannte er etwa Gertrude Stein oder Hans Arp. Stefan George schätzte er zwar als Dichter, doch beeinflusst habe dieser ihn nicht, „so fremd war mir seine weltsicht und sein aristokratisches gehaben“.
Evergreens in heruntergekommener Sprache
Zu den bekanntesten Gedichten des Georg-Büchner-Preisträgers (1984) zählt wien: heldenplatz (1962). Darin thematisiert Jandl den „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im Jahr 1938. Er demaskiert die Adolf Hitler bejubelnde Menschenmenge mit mehrdeutigen Wortneuschöpfungen, die die religiös und sexuell aufgeladene Stimmung wiedergeben. Die „männchenmenge“ lauscht dem „gottelbock“, den Frauen ist „pfingstig“ zumute, als „ein knie-ender sie hirschelte“.Ein weiterer Evergreen ist natürlich ottos mops (1963), eines der heiteren Gedichte Jandls, an dessen Ende der Hund seinem Herrchen vor die Füße kotzt. Durch den slapstickartigen Humor sowie die einfache Sprache ist das Gedicht bestens geeignet, um es bereits kleinen Kindern vorzulesen. Auch Klaus Wagenbach (1930-2021), dessen Verlag 1968 eine Auswahl von Gedichten aus Jandls Gedichtband Laut und Luise (1966) als Schallplatte herausbrachte, erkannte, dass diese Platte „ein Hit unter Kindern“ war.
Lieblingsgedichte zum 100.
Zum Jubiläum hat der Luchterhand Literaturverlag, Jandls Hausverlag, das Büchlein Ernst Jandl zum 100. herausgebracht. Darin haben 20 zeitgenössische Autor*innen ihr jeweiliges Lieblingsgedicht ausgewählt und mit einem kurzen literarischen Text darauf reagiert. Christoph Peters wählte älterndes paar. ein oratorium, ein erbarmungsloses und obszönes Gedicht über den körperlichen Verfall und seine Auswirkungen auf das Liebesleben. Peters las das Gedicht mit Anfang 20 als junger Liebender und war schockiert über dieses niederschmetternde Liebesgedicht, glaubt nun aber, dass es „allem Abscheu, der Hässlichkeit, dem unumkehrbaren Verfall zum Trotz“ vielleicht dem „innersten Wesen der Liebe … womöglich viel näher war, als mein ganzes junges, hübsches, makelloses Glück“.Das kürzeste Lieblingsgedicht besteht aus sieben „nein“ und hat den (Unter)Titel (beantwortung von sieben nicht gestellten fragen). Benjamin Quaderer hat es ausgewählt. Quaderer nennt seine Replik „Befragung sieben nicht gegebener Antworten“, sinniert darin zunächst über Schönheit und Widerspenstigkeit des Wortes Nein („Die Ns, könnte man sagen, umgeben das Ei wie eine Schale. Sie schützen das fragile Innere“), um schließlich – nicht ganz ernst gemeint – festzustellen, dass sich Jandl mit diesem Gedicht „auf außersprachliche Weise“ gegen Heidegger und dessen „elegisch und erpresserisch einlullenden Ton“ in Stellung gebracht habe.
jandln für alle
Jandls Gedichte lassen sich wieder und wieder lesen, manchmal entfalten sie durch wiederholtes Lesen erst ihren (Un)Sinn oder legen eine andere Deutung als beim erstmaligen Lesen nahe. Und viele seiner Gedichte sind das, was gerne angestrebt, aber selten erreicht wird: ein niedrigschwelliges Angebot. Jandl ermutigt durch seinen formalen Anarchismus, selbst experimentell mit Sprache umzugehen. Das führte dazu, dass sich das Verb „jandln“ verbreitete, sogar an der Hochschule für Musik in Würzburg im Fach Elementare Musikpädagogik in dem Projekt jandln - mit Sprache spielen. Jandl hätte vermutlich seine Freude daran gehabt, dass eine der beiden Projektleiter*innen Hasenhündl heißt.Zum Abschluss eines meiner Lieblingsgedichte, das sich wohl noch auf keiner Glückwunschkarte findet, aber wer weiß:
glückwunsch
wir alle wünschen jedem alles gute:
daß der gezielte schlag ihn just verfehle;
daß er, getroffen zwar, sichtbar nicht blute;
daß, blutend wohl, er keinesfalls verblute;
daß, falls verblutend, er nicht schmerz empfinde;
daß er, von schmerz zerfetzt, zurück zur stelle finde
wo er den ersten falschen schritt noch nicht gesetzt –
wir jeder wünschen allen alles gute
Ernst Jandl zum 100. Lieblingsgedichte – ausgewählt und kommentiert von Luchterhand-AutorInnen
München: Luchterhand, 2025. 176 S.
ISBN: 978-3-630-87806-5
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe.
In unserer Onleihe finden Sie auch die von Jandl selbst gelesenen Hörbücher Laut und Luise / hosi + anna sowie him hanflang war das wort.
München: Luchterhand, 2025. 176 S.
ISBN: 978-3-630-87806-5
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe.
In unserer Onleihe finden Sie auch die von Jandl selbst gelesenen Hörbücher Laut und Luise / hosi + anna sowie him hanflang war das wort.
Juli 2025