Rosinenpicker | Literatur  Harter Weg in die Königsklasse

Lena Cassel hält ein Mikrofon mit dem Logo von Streaming-Anbieter DAZN
Moderiert seit 2023 Übertragungen der Fußball Bundesliga der Männer und Frauen © picture alliance / Chai von der Laage | Gladys Chai von der Laage

„Lena Cassel präsentiert die Höhepunkte der Champions League.“ Bis dieser Satz so dastehen konnte, musste die Sportjournalistin und Fußballexpertin viele Widerstände überwinden – äußere und innere.

Alles beginnt in der F-Jugend des Turn- und Sportvereins Schladern, einem Örtchen nahe Köln, aber doch ziemliche Provinz. Genau hier schießt die achtjährige Lena – redselig, verträumt, mit Vokuhila-Frisur – ihr erstes Tor! Das Dorfpublikum ist hingerissen, am meisten aber Opa Herbert. Er drückt der überwältigten Torschützin 50 Euro in die Hand. Was kann man sich nicht alles dafür kaufen! Zum Beispiel neue Fußballschuhe, von Lenas Mutter mit Goldfarbe eingesprüht für den Adidas-Predator-Look. Ein Meilenstein, resümiert die erwachsene Lena Cassel in ihrem autobiografischen Buch Aufstiegskampf: Vom Seitenrand in die Primetime. Heute weiß sie: „An jenem Samstagnachmittag im April 2002 auf dem Ascheplatz […] habe ich mein erstes Geld mit Fußball verdient. Das war der Startschuss für alles, was folgen sollte […]. Dieses Tor war kein One-Hit-Wonder. Es war der Anfang.“

Ausgangsposition: schwierig

Es war der Anfang einer allmählichen Bewegung weg vom „Seitenrand“ – nicht nur bezogen auf die Abmessungen des Fußballplatzes. Lenas Familie hat wenig Geld, die Mutter arbeitet in Nachtschichten, um die Kinder durchzubringen, der Vater ist unzuverlässiger Alkoholiker. Die Kleidung der Schwestern stammt aus Second-Hand- oder Billig-Läden, die Nachmittage verbringen sie mit Trash-TV. Als Pubertierende merkt Lena, dass sie sich ausschließlich in Frauen verliebt. Gleichzeitig erlebt sie, wie wenig Wertschätzung dem Frauenfußball entgegengebracht wird: Bekam doch 1989 die deutsche Fußballmannschaft der Frauen ein Kaffeeservice (!) als Siegprämie für den Gewinn der Europameisterschaft. Von der kaum vorhandenen Akzeptanz von Frauen im Mediengeschäft rund um den Fußball ganz zu schweigen.

Das Cover des Buchs "Aufstiegskampf" von Lena Cassel zeigt sie selbst. © Klett-Cotta

Und dennoch ist es der Fußball, der dem Mädchen Lena hilft, sich zugehörig zu fühlen. Fußballvereine sind für sie die wahren Schulen des Lebens: „Hier geht es nicht nur um das nächste Tor. Es geht um Zukunft, Teilhabe, Verantwortungsgefühl, Werte und Engagement.“ Irgendwann führt sie ihr Spieltalent bis in den Drittliga-Verein SC Fortuna Köln – die Ablösesumme muss sie selbst aufbringen. Und auch sonst erweist sich das Fußballerinnen-Dasein als hartes Brot. Wegen der körperlichen Anforderungen, aber vor allem wegen der strukturellen Benachteiligung der Frauenmannschaft. Lena Cassel zahlt Lehrgeld: „Wir waren die am höchsten spielende Mannschaft im Verein und wurden behandelt wie Amateure. Von uns wurde professionelle Hingabe gefordert, was wir bekamen, war das Gegenteil davon. Und das nur, weil wir keinen Penis hatten.“  

Bewährungsproben

Die Konsequenz: Lena Cassel kehrt einer möglichen Bundesliga-Karriere den Rücken. Aus der Beinahe-Profifußballerin wird nun nach und nach eine Sportjournalistin. Zunächst aber gilt es, Studium und Nebenjobs unter einen Hut zu bringen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Bald öffnet sich für sie die Tür zum Archiv der altehrwürdigen Fernsehsendung Sportschau. Sie heuert dort als Werkstudentin an und merkt recht schnell: In dieses Umfeld passe ich nicht rein – zu männlich, zu elitär, zu alt. Sie wiederum sei „zu laut und zu bunt“ für die Arbeit, wie ihr bescheinigt wird. 

Aber es gibt dennoch den Fußball als einende, sinnstiftende Kraft, und so findet Lena Cassel für längere Zeit ihren Platz bei der Sportschau, steigt in eine andere Abteilung auf, welchselt zu Stern-TV, hat allerlei Nebenjobs und muss irgendwann im Rahmen einer Live-Reportage einem Nilpferd im Zoo die Zähne putzen. Die Folge: Burnout. Rettung bringen unter anderem ein Umzug zur Freundin nach Berlin und ein Kommunikationsjob beim Verein Hertha BSC. Nach weiterer harter Arbeit ist es dann so weit: Prime Video bietet ihr an, durch die Highlight-Show nach den Champions-League-Spielen zu führen. Ein Erfolg zieht schließlich den nächsten nach sich. Bald folgt die Bundesliga-Moderation beim Sportsender DAZN sowie diverse höchst populäre Podcasts. Angekommen in der Primetime.

Spiegel der Gesellschaft

Lena Cassels Aufstiegsgeschichte ist lebendig, authentisch, anekdotenreich und auch amüsant geschrieben. Das allein ist schon eine Empfehlung. Aber das Buch ist mehr als eine Aneinanderreihung von Geschichten um die verbindende Kraft des Fußballs. Alles, was ihr widerfährt, bringt die Autorin direkt und ohne akademische Umschweife mit gesellschaftlichen Gegebenheiten in Verbindung. Und sie nimmt einiges kritisch unter die Lupe: die Scham und die aufgezwungene Randständigkeit, die mit prekären Familienverhältnissen einhergehen, die verunsichernde Suche nach Zugehörigkeit als lesbische junge Frau ohne Schubladenaufschrift, die Herabwürdigung und strukturelle Benachteiligung des Frauenfußballs, den Kampf um eine adäquate Position in der männerdominierten Sportberichterstatterwelt.

Vorbildlich

Man erfährt in diesem Buch, welchen – oft hohen – Preis Lena Cassel zahlen musste. Man liest aber auch mit Vergnügen und Anteilnahme, wie viel Spaß und Befreiung ihr all die Anstrengungen und Kämpfe gebracht haben, wie sehr die immerwährende Liebe zum Fußball stets ihr Rückhalt und Motor gewesen ist, wie sich auch wegen Personen wie ihr die Dinge langsam, aber sicher verändern. Und ist es nicht ein Erfolg, wenn sie nun sagen kann: „Zu laut und zu bunt ist jetzt mein Markenzeichen“? Eine inspirierende Lektüre – für Fußballfans ebenso wie für alle, die erfahren wollen, wie es jemand schafft, die zu werden, die sie ist.
Lena Cassel: Aufstiegskampf. Vom Seitenrand in die Primetime
Stuttgart: Klett-Cotta, 2025. 224 S.
ISBN: 978-3-608-50268-8
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