In seinem neuen, wie immer stilistisch überzeugenden Roman treibt Christian Kracht sein literarisches Vexierspiel auf die Spitze. Das führt sowohl zu Frustration als auch Begeisterung.
Der neue Roman von Christian Kracht ist ein Rätsel – und so schwer zu fassen wie sein Titel: Air. Passend dazu bewegt sich die Handlung zwischen zwei Welten. Zwischen Gegenwart und Märchen. Zwischen der Kargheit des europäischen Nordens und einer mittelalterlich anmutenden Fantasy-Welt. Im Mittelpunkt steht der Schweizer Innenarchitekt Paul, der mit einer einäugigen Katze auf den schottischen Orkneyinseln lebt. Dort erreicht ihn ein Auftrag: Er soll die Hallen eines Rechenzentrums im norwegischen Stavanger in ein „perfektes Weiß“ streichen.Dieses Rechenzentrum ist mehr als nur ein riesiger Datenspeicher. Er steht symbolisch für die Fragilität menschlichen Wissens im digitalen Raum. Kaum hat Paul die Räume inspiziert, wird er von einer Sonneneruption erfasst und taucht in einer anderen Welt auf. Doch was löst sich hier eigentlich auf? Und in welcher Welt wacht Paul wieder auf?
Diffus fantastisch
Der Protagonist findet sich in einer vorindustriellen Welt wieder, in der er aufgrund seiner Kenntnis von Erfindungen wie Papier und Lesebrille gar als Zauberer wahrgenommen wird. Diffus fantastisch entfaltet sich fortan auch die Erzählung: Gemeinsam mit einem jungen Waisenmädchen macht sich Paul, der nunmehr als „der Fremde” firmiert, auf eine epische Held*innenreise, die immer wieder an die Artussage erinnert. Im Spiel mit literarischen Verweisen gefällt sich Kracht seit jeher, aber in Air treibt der Schweizer Autor diese Praxis auf die Spitze: Immer wieder werden Lesende und Kritiker*innen gleichermaßen auf falsche Fährten gelockt. Scheint sich eine Referenz zu konkretisieren, wird diese im letzten Moment fallen gelassen, um sich wiederum im Ungewissen zu verflüchtigen.Eine Moral der Geschichte wird man daher vergeblich suchen und muss sich stattdessen mit vielerlei Andeutungen zufriedengeben. Dieses Vexierspiel tut dem Lektüreerlebnis jedoch keinen Abbruch: Aus jedem Satz des Romans trieft die Freude des Autors an der deutschen Sprache heraus und stilistisch bewegt sich Air auf dem von Kracht seit Langem gewohnt hohen Niveau. Was bleibt jedoch, wenn man am Ende das Buch zuklappt und sich jeglicher Interpretationsansatz scheinbar in Luft aufgelöst hat?
Kracht polarisiert
Praktisch gesprochen: Frustration, Ambivalenz, Begeisterung – diese Gefühlslagen sind es, die Kracht bei seinen Leser*innen beständig hervorruft. Air ist hier keine Ausnahme. Ein Blick in die Kritiken zeigt: Auch das Feuilleton ist sich in seinen Urteilen treu geblieben. Neben positiven Besprechungen finden sich auch jene, die meinen, Kracht habe sich in seinem neuen Roman buchstäblich verlaufen – insbesondere in der mittelalterlichen Anderswelt. Dass der flunkernde Erzähler indes die desillusionierten Kritiker*innen bereits antizipiert und ihnen ihren Anspruch auf Antworten wie eine Karotte vor die Nase hält, gehört zum gewohnt provokanten Spiel Krachts. Dass diese Haltung allerdings kein Selbstzweck ist und daraus keineswegs zwangsläufig gute Literatur resultiert, ist eine Binse.Kracht bleibt einer der wenigen zeitgenössischen Autor*innen, der (meist) aufgrund von Stil und Sprache polarisiert. Entweder liebt man ihn für seine Art oder man missbilligt seine Attitüde. Wem soll man den Schweizer Autor also nahelegen in einer Welt, in der allenthalben Empfehlungen ausgesprochen werden? Vielleicht würde der Autor selbst sagen: Kracht ist für alle, die Kracht lieben.
Christian Kracht: Air. Roman
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2025. 224 S.
ISBN: 978-3-462-00457-1
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2025. 224 S.
ISBN: 978-3-462-00457-1
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe.
Juli 2025