Eine Lektüre vom Rande des literarischen Spielfelds Europas  Thomas Manns Echo in Lateinamerika

 Thomas Manns Echo in Lateinamerika Foto Carlos Fuentes © Wikimedia Commons

Obgleich Thomas Manns Werke mit dem lateinamerikanischen Kontext wenig gemein zu haben scheinen, wurden sie von Autor:innen wie Carlos Fuentes, Julieta Campos und Blas Matamoro aufmerksam studiert. Manns Texte dienten ihnen als Vorbild, als Herausforderung und Referenzpunkt.

Einer der wichtigsten Vertreter der europäischen Literatur des 20. Jahrhundert war zweifellos Thomas Mann. Obgleich seine Werke auf den ersten Blick wenig mit dem lateinamerikanischen Kontext gemein zu haben scheinen, wurden sie von verschiedenen Autor:innen dieser Region — etwa Carlos Fuentes, Julieta Campos, Blas Matamoros und Juan García Ponce — aufmerksam studiert. Manns Texte dienten ihnen als Vorbild, als Herausforderung und Referenzpunkt. Ein direkter Einfluss kann vielleicht nicht verzeichnet werden, doch Manns Überlegungen bezüglich der Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft und der Spannungen zwischen Kunst und Moral hinterließen bleibende Spuren im Werk dieser Autor:innen, die sich zudem mit dem europäischen Erbe in Lateinamerika auseinandersetzten. Die Lektüre ihrer Texte öffnet einen Raum für einen feinsinnigen Dialog zweier Welten, die sich trotz der räumlichen und kulturellen Entfernung gegenseitig (an)erkennen und hinterfragen.

Sowohl die kubanische Romanautorin Julieta Campos (1932-2007) als auch der argentinische Schriftsteller Blas Matamoro (1942) waren weit davon entfernt, Mann persönlich kennenzulernen. Dennoch haben beide zugegeben, dass seine Texte einen gewaltigen Einfluss auf ihr künstlerisches Schaffen hatten. Während der mexikanische Autor Juan García Ponce (1932-2003) eine Hommage auf ihn geschrieben hat, ist Carlos Fuentes (1928-2012), ebenfalls mexikanischer Schriftsteller, ihm sogar einmal begegnet — auch wenn er ihn schließlich nur aus der Ferne beobachtete. Die Beziehung zwischen den lateinamerikanischen Autor:innen und Thomas Mann ähnelt in gewisser Weise derjenigen, die zwischen seinen Figuren Aschenbach und Tadzio besteht, denn sie basiert auf einer Mischung aus Bewunderung, Distanz und dem sehnlichen Wunsch, sich der scheinbaren Perfektion zu nähern. Doch wie in Der Tod in Venedig kommt auch in diesem Fall der Moment, in dem sich der rein beobachtende Blick nachdenklich stimmt und das bewunderte Objekt irgendwann nicht mehr bloß als Modell herhält, sondern sich in einen Gesprächspartner verwandelt.

Die Beziehung von Thomas Mann zu Mexiko ist im Gegensatz dazu bestenfalls distanziert. Während seines Exils in den Vereinigten Staaten lebte Mann in Pacific Palisades, einem Vorort von Los Angeles, der nur gut 200 km von Tijuana entfernt lag. Dafür, dass er jemals nach Mexiko oder in ein anderes lateinamerikanisches Land gereist ist, gibt es aber keinerlei Belege. Selbst das Blut, das in seinen Adern rann, konnte die geographische Distanz nicht überbrücken. Seine Mutter Julia da Silva Bruhns war zwar deutschstämmig, wurde aber in Paraty, Brasilien, geboren, wo sie bis zu ihrem siebten Lebensjahr lebte. Thomas Mann war sich seiner „Latinität“ sehr wohl bewusst, setzte aber trotzdem nie einen Fuß in diese südlichen Breiten.

Ein Leitbild für Ethik, Stil und die Funktion des Schriftstellers

Nichtsdestotrotz verwandelte sich Thomas Mann — engagierter Intellektueller, akribischer Stilist und Symbol des Widerstands gegen den Totalitarismus — für einige lateinamerikanische Schriftsteller:innen des 20. Jahrhunderts in eine Art Vorbild. Die kubanische Romanautorin Julieta Campos bezeichnet Mann als eine der großen literarischen Stimmen, die sie in ihrer schriftstellerischen Karriere beeinflusst haben. Die Buddenbrooks, Doktor Faustus und besonders Der Zauberberg hätten Campos’ Auffassung von Literatur geprägt:
Die Lektüre von Thomas Manns Werken eröffnete mir eine neue Perspektive, die erst viel später in meine literarische Arbeit einfließen sollte.
Julieta Campo, Letras Libres, 2012.
In Argentinien, wo die ersten Übersetzungen von Manns Romanen bereits 1930 erschienen, sticht der Autor und Übersetzer Blas Matamoro als eifriger Leser und Vermittler seiner Texte hervor. Ein Großteil seiner Arbeit ist dem Studium von Manns Tagebüchern und seiner Verbindung zur spanischen Literatur gewidmet, was besonders seine Vorliebe für den Don Quijote miteinschließt. In seinem Essay „Thomas Mann y la música” (Thomas Mann und die Musik) von 2009 untersucht er, wie die Musik Manns Texte nicht nur begleitet und in Szene setzt, sondern gleichzeitig alle fundamentalen Aspekte seiner Erzählungen strukturiert und symbolisiert. In diesem Zusammenhang untersucht er Werke wie den Doktor Faustus, in dem die Musik metaphorisch für die deutsche Seele und die in ihr ausgefochtenen Konflikte steht.

Juan García Ponce ist seinerseits dafür bekannt, bis dahin unbekannte europäische Autoren einem mexikanischen Publikum näherzubringen. Darunter fallen Robert Musil, Georges Bataille und eben auch Thomas Mann, dem er in seinem Essay „Thomas Mann vivo“ (1972) ein Denkmal gesetzt hat. Einige Jahre zuvor, 1965, hatte er ihm bereits einige Worte anlässlich seines zehnten Todestages gewidmet. In diesem Text verneigt sich García Ponce vor der mitreißenden Macht seiner Erzählungen und Romane und kommt zu der Schlussfolgerung, dass die wahre Magie von Manns Texten in seiner Fähigkeit liege, Grenzen zu durchbrechen — seien sie nun physischer, linguistischer oder kultureller Natur, da seine Literatur die empfindlichsten Saiten des Menschen anschlage:
 
Hinter dieser großen und großartigen Literatur verbirgt sich der Wille, die Möglichkeit schöpferischen Tuns zu bewahren, und zwar im allerwahrsten Sinne des Wortes und trotz der kritischen und zerstörerischen Kräfte, die es bedrohen und seine Unmöglichkeit fast als moralische Pflicht darstellen. Dabei ist es doch gerade diese Pflicht, die den Künstler aus dem Bereich des reinen Geistes ins Leben führt.
Juan García Ponce
Einer der bedeutungsvollsten Momente in der Wechselbeziehung zwischen Thomas Manns Deutschland und Lateinamerika ereignete sich jedoch vermutlich bereits einige Jahre zuvor: Im Jahr 1950 kam es in Zürich zu einer flüchtigen Begegnung zwischen Carlos Fuentes und dem deutschen Schriftsteller. Fuentes, damals 21 Jahre alt, beobachtete Mann – der sich bereits im Spätherbst seines Lebens befand – zwar nur aus der Ferne, erkannte in ihm aber sogleich dessen literarische Größe und seinen tiefgreifenden Einfluss auf die Weltliteratur.
Mit den „Buddenbrooks“, seinen großen Novellen und dem „Zauberberg“ hatte Thomas Mann unsere lateinamerikanische Faszination gegenüber der europäischen Literatur verankert.
Carlos Fuentes
Jahrzehnte später beschrieb Fuentes dieses Ereignis in einem Essay mit dem Titel „Un encuentro lejano con Thomas Mann“ (Eine entfernte Begegnung mit Thomas Mann), der 1998 in El País erschien. Auch wenn er es in jenem Moment nicht gewagt hatte, sich seinem Idol zu nähern, hatte er ihn nachhaltig beeindruckt. In seinen Augen verkörperte Mann nicht nur ein schriftstellerisches Berufsethos, sondern eine ganze Weltauffassung:
 
Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich trotz der großen Unterschiede zwischen seiner und der unseren Kultur die Literatur auf beiden Seiten — ob nun in Europa, Lateinamerika, Zürich oder Mexiko-Stadt — letztlich durch eine Verknüpfung der sichtbaren und unsichtbaren Welten des Erzählens behauptet, also der Nation und der Narration.
Fuentes brachte Mann nicht nur Bewunderung entgegen, sondern sah in ihm das Ideal des Autors als kritisches Gewissen seiner Zeit. Diese Bewunderung war nicht nur persönlicher Natur, sie schlug sich auch in seinen Werken nieder. In seinem Roman La muerte de Artemio Cruz (Der Tod des Artemio Cruz) von 1962 finden sich einige Themen, mit denen sich auch Mann intensiv beschäftigt hat: Dekadenz, Krankheit, Erinnerung, Macht und Schuld. Dazu kommen stilistische Eigenheiten, die weder vor inneren Monologen und dem Spiel mit den Erzählzeiten noch vor der Entwicklung von Figuren zurückschrecken, die eine Konfrontation zwischen dem Individuellen und dem Historischen verkörpern. So wie Der Zauberberg und Der Tod in Venedig ist auch sein Artemio Cruz eine Erzählung des Verfalls: der eines Körpers, der einer sozialen Klasse und vielleicht sogar der eines ganzen Landes.

Moderne und Dekadenz

In La muerte de Artemio Cruz greift Carlos Fuentes gleich mehrere der Hauptthemen Thomas Manns auf, um sie im Anschluss kritisch auf den mexikanischen Kontext anzuwenden. Wie im Zauberberg ist die Krankheit nicht bloß ein körperlicher Zustand, sondern eine Metapher für eine kriselnde Gesellschaft. Der ans Totenbett gefesselte Artemio Cruz lässt aus einem im Verfall begriffenen Körper heraus sein Leben Revue passieren. In gleicher Weise steht das Waldsanatorium von Davos für ein dekadentes Europa, das sich auf dem Weg in die Katastrophe befindet. Wie schon in Der Tod in Venedig ist der Protagonist aus Fuentes’ Roman eine ambivalente Figur: ein Mann, gefangen zwischen Sehnsucht, Schuld und körperlichem Verfall, dessen persönliche Geschichte mit dem Niedergang einer Epoche zusammenfällt. In beiden Werken verläuft die Zeit nicht linear: es wird bruchstückhaft erzählt und an Vorhergegangenes erinnert, alles wir rückbezogen und dreht sich um die eigene Achse.Fuentes macht sich dieses Wechselspiel der Zeiten zu eigen — ein Markenzeichen Manns —, und entwirft eine Geschichte, in der sich die Erinnerung zum moralischen und ideologischen Schlachtfeld auswächst. Artemio Cruz ist also keine bloße Imitation, sondern eine Neugestaltung des Themas aus südlicher Perspektive: Fuentes bedient sich des Vermächtnisses Thomas Manns und entwickelt daraus ein Instrument für die Auseinandersetzung mit der unruhigen Geschichte Mexikos.

Die Rezeption von Thomas Manns Werken und ihr Einfluss auf lateinamerikanische Autoren zeugen von der anhaltenden Wirkungskraft seiner Literatur, gleichzeitig aber auch von dem komplexen Dialog, den Lateinamerika mit der europäischen Gedankenwelt unterhält. Mann übt vielleicht keinen direkten Einfluss auf die lateinamerikanische Literatur aus, gilt aber als eine Figur mit kultureller Resonanz: Sein Werk weckt Bewunderung, ermöglicht aber auch eine kritische Lektüre vom Rande des literarischen Spielfelds Europas aus. Sein Werk spiegelt wider, was Lateinamerika zu erben und was es zu verändern sucht. So wird die Literatur zur Brücke — und zur Grenze — zwischen den Zeiten, Kulturen und Weltanschauungen.
 

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