Ausgesprochen … gesellig  Spiegelungen

Ein Zettel mit der Aufschrift „Aushilfe für Küche/Verkauf gesucht“ hängt an der Scheibe einer Konditorei
„Aushilfe gesucht“ – wo sind die Leute hin, die uns jetzt fehlen? Foto (Detail): Frank Molter; © picture alliance/dpa

Die Symptome der Krisen und Katastrophen schleichen sich überall ein und hinterlassen Spuren. Maximilian Buddenbohm begibt sich auf die Suche und notiert was er während seines Urlaubs im Weltgeschehen beobachtet hat.

Wir verbringen den Urlaub auf einem Bauernhof im Hinterland der Nordseeküste. Hier ist ringsum viel Landschaft, mehr aber auch nicht. Hier ist man weit weg von allem. Jedenfalls auf den ersten Blick. Zwei Wochen bleiben wir, wir machen währenddessen auch nicht viele Ausflüge. Die Weltgeschichte und die Nachrichten finden bei uns nur noch auf den Handys statt, wenn wir überhaupt Lust haben, dort nachzusehen. Ich habe eher keine Lust.

Aber ganz ohne Weltgeschehen kommt man doch nicht durch den Urlaub. Die weltweiten Krisen und die Katastrophen, sie hinterlassen überall Spuren, sie drängeln sich überall hinein, mehr oder weniger sichtbar. Ich schreibe als Spurensucher, ich notiere, was ich beim Urlaub im Kleingedruckten der Landkarte vom Großdruck der Schlagzeilen noch finden kann.

Personalmangel

Das fängt schon am frühen Morgen an, etwa um 5 Uhr. In früheren Jahren hielt da auf diesem Hof immer ein Auto, verlässlich an jedem Tag. Ich konnte die Tür klappen hören, eilige Schritte, eine Tür, das Quietschen eines Kistendeckels - da wurden den Feriengästen frische Brötchen gebracht. Heute gibt es das nicht mehr. Es findet sich niemand, der uns noch Brötchen bringen könnte, das ist der allgegenwärtige Personalmangel. Den bemerkt man auch auf den Ausflügen. Man sieht ihn an den seltsamen Öffnungszeiten einiger Restaurants, warum machen die so früh zu, so spät auf? Man sieht ihn an geschlossenen Kiosken und Touristenattraktionen, an viel zu langen Schlangen vor den Freibadpommes und natürlich auch an den Plakaten und Zetteln, mit denen in jedem Schaufenster dringend Personal gesucht wird, das es einfach nicht gibt. Und wohl so leicht auch nicht wieder geben wird.

Der Personalmangel ist ein besonderes Problem, denn er wird von niemandem verstanden. In jedem Gespräch zum Thema kommt die Frage, wo die Leute denn seien, all die Leute, die uns jetzt fehlen. Wo sind die hin? Man weiß es nicht. In den Medien gab es erstaunlich wenige erklärende Artikel und sie haben durchweg nicht überzeugt. Es bleibt ein vages Gefühl der Unklarheit. Diese Erklärungen können doch nicht reichen, hier stimmt irgendwas nicht. Wo also sind die Leute? Man zählt die Erklärungen auf, die irgendwo genannt wurden. Die Abwanderungen in andere Branchen. Die Frühverrentungen, die Übersterblichkeit. Die jungen Leute, die weniger Stunden arbeiten wollen, die Boomer, die sich reihenweise zur Ruhe setzen. Oder die Leute sind krank, sie sind in Quarantäne, sie sind längst im Burn-Out oder sie sind mit Long-Covid beschäftigt, sie sind vielleicht die aktuelle Welle? Es fügt sich alles nicht zu einem kompletten Bild, das man ansieht und "Ach so!" sagt. Man sieht es eher an und sagt dann nachdenklich und seltsam irritiert: "Aber komisch ist es doch." 

Corona ist da, Corona ist nicht da 

Im Gemeinschaftsraum für die Gäste auf dem Hof und auch in Gaststätten hängen noch die Zettel, auf die längst niemand mehr achtet. Abstandsregeln, Hygienevorschriften, auch die Anweisungen, wie man sich die Hände zu waschen hat, mit den bekannten bunten Bildchen dabei, tausendmal und öfter hat man die gesehen und nimmt sie nicht mehr wahr. Im Stall sehe ich einen leeren Desinfektionsmittelspender, der nicht mehr funktionsfähig aussieht, er wirkt ramponiert. Seine Funktion vermisst niemand. In den Dörfern ringsum fahren wir an geschlossenen Testzentren vorbei, in den nächsten Städtchen gibt es noch die Hinweisschilder auf Impfzentren, die auch nicht mehr in Betrieb sind. Beim Spazierengehen über die Felder liegt irgendwo im Grün der Weiden eine blaue OP-Maske im Bild. Die hat es bis hierher verweht, ein vereinzelter Corona-Rest. Wenn man nur nach diesen Zeichen geht, scheint die Pandemie vorbei zu sein.

Die Menschen sind alle weiter im Süden 

Aber andererseits auch: Plötzliche Abreisen. Plötzlich leerstehende Ferienwohnungen. Spontane Fahrten zur nächsten Apotheke, um doch noch Schnelltests zu besorgen. Erkältete Kinder, die man lieber zwei, drei Tage kontaktlos im Zimmer lässt, man weiß ja nicht. Und alle Gäste (alle!) können erzählen, wie sie es gehabt haben, wann sie es gehabt haben, wie oft sie es schon gehabt haben. Corona ist da, Corona ist nicht da. Bei der Erwähnung des Herbstes winken alle nur ab.

Auf unseren Ausflügen sehen wir weniger Touristen als sonst. Nicht einmal die Hauptattraktionen sind voll, sogar in den attraktivsten Cafés mit den besten Torten bekommen wir problemlos einen Platz. An einem Regentag steht keine endlose Schlange vor dem besten Schwimmbad weit und breit. Die Menschen sind sicher alle weiter im Süden. Die Menschen holen die Reisen nach, die sie während Corona nicht gemacht haben. Oder sie machen sie jetzt schon, bevor sie sie im nächsten Jahr wieder nicht mehr machen können, wer weiß. Jedenfalls aber sind sie nicht hier.

Ein Feriengast braucht für einen Videocall mehr Datenvolumen und ein verlässliches Netz, er muss im Urlaub einen Tag arbeiten. Das ist auf dem Land direkt hinter der Küste nicht einfach, das Netz ist immer noch lückenhaft. Aber es gibt, wir googeln das eben, jetzt Coworking-Spaces direkt am Meer. Da arbeiten, wo andere Urlaub machen, so werben die. Die Tagesmiete für einen Platz ist gering, wir staunen: "Das geht doch!" Es ist kein Problem mehr, von hier aus Büro zu spielen. Das wäre vor Corona undenkbar gewesen. Wir reden über unsere Arbeitssituationen, über Home-Office und Mobile Work. Viele von uns könnten in so einem Coworking-Space gut arbeiten, stellen wir fest, und die Zeit vor Corona, sie muss schon Jahrzehnte her sein. So umfassend sind sie Änderungen in der Arbeitswelt. 

(Un)politische Gespräche 

Bei einem Ausflug in die nächste Stadt sehe ich am Hafen einen Fahnenmast, daran weht eine ukrainische Flagge. Es ist nur diese eine, die ich im Urlaub sehe. An einer engen Ecke in der Altstadt wird etwas unbeholfen ein SUV gewendet, vor und zurück, vor und zurück, gekonnt sieht das nicht aus. Eine Frau sitzt am Steuer und kurbelt viel, eine kleine Tochter sitzt neben ihr. Das Nummernschild zeigt, dass der Wagen aus der Ukraine kommt. Mehrere Passanten erkennen das, weisen sich darauf hin und zeigen auf das Nummernschild. Niemand kommentiert etwas, keiner pöbelt herum und beschwert sich über die mangelnden Fahrkünste der Frau. Das ist vielleicht schon viel, dieses Ausbleiben von Unfreundlichkeiten. Das ist vielleicht schon mehr, als man zunächst erwartet, das fällt vielleicht schon unter Gastfreundschaft.

In einem Halbsatz beim abendlichen Smalltalk an der Feuerschale erwähnt jemand die Waffenlieferungen an die Ukraine. Niemand geht darauf ein. Es ist einen Moment still, dann fällt endlich ein Satz zu einem anderen Thema, das Gespräch geht unpolitisch weiter.

Oder jemand fragt, wo man hier E-Autos nachladen kann. Er hat kein E-Auto, also noch nicht, er fragt nur aus Prinzip. Es ist eine Frage, die jetzt naheliegt. In dem einen Dorf dahinten, da soll es so etwas geben. Das wird dann wohl bald mehr werden, nimmt man allgemein an, das wird bald viel mehr werden. Man wird doch laden müssen.

Die Sache mit dem Klima ist am schwersten zu greifen. Das Klima kommt im Erleben nur als Wetter vor, und über das Wetter reden wir immer. Jetzt mit einem neuen Unterton der Besorgnis, ist es denn einfach nur Wetter? So heiß war es hier doch früher nicht, oder doch? Guck mal, die Schafe mit dem dicken Pelz in der Sonne, das ist doch furchtbar. Aber ohne die Wolle würden sie Sonnenbrand bekommen. Nein, mit Gesprächen über das Wetter kommt man nicht weiter.

So lange bauen wir eben Häuser 

Interessanter als der Wetter-Smalltalk ist vielleicht die Baustelle dort am Dorfrand. Da werden Häuser für Familien gebaut. Nach etlichen Szenarien der Klimaforscher sind wir gerade in einer Gegend, die keinen Bestand haben wird, sie wird dem steigenden Meeresspiegel zum Opfer fallen. Und so lange wird es auch nicht mehr dauern, je nach Modell. Dieses Land hier, es wird vielleicht nicht zu halten sein, es liegt unter dem Meeresspiegel.

Aber ein Datum dafür gibt es nicht. Und so lange bauen wir eben Häuser, so kann man es wohl zusammenfassen. So kann man vielleicht auch unsere Haltung zum Klimawandel generell zusammenfassen. In den lokalen Medien sehe ich, dass die Immobilienpreise hier wieder deutlich steigen. Ab und zu gibt es in den Zeitungen auch Meldungen zum Deichbau und zu den Inseln vor der Küste, die von den Sturmfluten schon deutlich stärker als früher bedroht werden. Man baut weiter dagegen an.

Was noch? Die Teuerung, die Inflation. Man weiß manchmal, was im letzten Jahr billiger war, der Kuchen hier, der Eintritt dort, das Parken. Dann auch dieses leichte Zögern beim erneuten Buchen für das nächste Jahr - man weiß doch noch gar nicht, wie das alles werden wird. Wobei man es auch so sehen kann, dass sich alle Krisen in diesem einen Satz bündeln: Man weiß doch nicht, wie es werden wird. Man schüttelt den Kopf, man hat Fragezeichen in den Augen. 

Und dann bucht man eben doch. Irgendwie wird es schon weitergehen, und Urlaub wird man sicher brauchen. Von welchen Krisen auch immer.
 

„Ausgesprochen …“

In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im wöchentlichen Wechsel Maximilian Buddenbohm, Susi Bumms, Sineb El Masrar und Şeyda Kurt. Maximilian Buddenbohm berichtet in „Ausgesprochen … gesellig“ über das große Ganze, die Gesellschaft, und ihre kleinsten Einheiten: Familie, Freundschaften, Beziehungen.