Ausgesprochen … gesellig  Nur ein Bild

Vorplatz des Hamburger Hauptbahnhofs
Der Bahnhofsvorplatz ist vor allem grau Foto (bearb.): picture alliance / imageBROKER / Joko

Der norddeutsche Winter ist grau. Vor diesem Hintergrund, in dieser Kulisse, beobachtet Maximilian Buddenbohm einen bemerkenswerten Kontrast.

Januar, Februar, eine eher öde Jahreszeit, man arbeitet die Wochen ohne Feiertage und Highlights so ab. Besonders in Norddeutschland, wo man nicht einmal den Karneval feiert, der dem Süden vorbehalten ist. Gleichförmige Wochen, Tage wie Graubrot, nicht richtig gut, nicht richtig schlecht. Graubrot mit Schmelzkäse vielleicht, man kann es essen, aber es macht keinen Spaß. So kommt man dennoch langsam durch den Winter. Vielleicht ist dieser Winter besonders sonnenlos, vielleicht ist die Wolkendecke noch dichter als in anderen Jahren, ich lese zahlreiche Klagen über die dunkle, die farblose Zeit. In den Timelines die Müdigkeitserwähnungen, die Klagen, die Sehnsucht nach Licht, Urlaub und weiter Landschaft, nach Abwechslung. In den U- und S-Bahnen zu jeder Tageszeit die Menschen, die so aussehen, als würden sie gleich einschlafen, zur Seite wegkippen.

Ich habe heute nur ein Bild für Sie, es ist wieder eines von einem Spaziergang. Es wird ein wenig klischeehaft wirken, das kann ich nicht ändern, denn so geht es eben zu, in dieser großen Stadt. Viele Klischees werden tatsächlich und täglich aufgeführt.

Ansonsten Beton

Eine Szene auf dem Bahnhofsvorplatz möchte ich Ihnen zeigen.  Es ist alles etwas schmuddelig hier und Schönes ist im Bild eher nicht zu entdecken. Kein Sonnenschein, kein blauer Himmel, kein Baum oder sonst ein Stück Natur. Nur die durchfliegenden Tauben, die für die meisten Menschen wohl nicht in die Kategorie Naturschönheit fallen. Ansonsten Beton, das Bodenpflaster mit unappetitlichen Flecken darauf, die verglaste Stahlkonstruktion des Bahnhofsvordachs. Die schmucklose Schachtöffnung einer Rolltreppe zur U-Bahn, pausenlos kommen Menschen herauf und fahren hinunter. Ein Imbisswagen, aus dem heraus Pommes verkauft werden. Im Hintergrund heranfahrende Taxis, parkende Autos. Die Doppeldeckerbusse für Stadtrundfahrten, die Fahrer stehen neben den Fahrzeugen, sie warten und rauchen Pausenzigaretten. Am Bildrand noch Hotels und Restaurants mit Leuchtbuchstaben an der Fassade, Werbung für Pizza und Döner. Ein Stück Großstadt eben, es wird leicht vorstellbar sein, nehme ich an.

Das Weiße, das nicht recht ins Bild passt, weil es so neu und sauber aussieht, ist der Zelt-Pavillon einer Kreuzfahrtgesellschaft. Der Pavillon hat keinen weiteren Sinn als den, einen Punkt zu markieren, denn genau hier sollen Koffer bei den betont freundlichen Angestellten der Firma abgegeben werden. Etliche Menschen, die vermutlich gerade eben mit Zügen oder Bussen angereist sind, stehen davor Schlange und geben ihr Gepäck auf. Ich nehme an, sie und die Koffer werden gleich weitertransportiert. Vermutlich liegt das Schiff, um das es hier gehen wird, im Hafen bereit. Etwa zwanzig, dreißig Menschen stehen da in der Schlange. Sie wirken nicht besonders ungeduldig, eher entspannt. Einen Reiseanfang sehen wir sicherlich, und so lang ist die Schlange der Leute nicht, dieser Moment schlägt ihnen nicht auf die Stimmung. Das warten sie alles gelassen ab. Man trägt Freizeitkleidung. Die Menschen in dieser Gruppe wirken vielleicht ein wenig bunter als die anderen, die schnell um sie herumgehen, um zur Arbeit zu kommen, nach Hause, zu den Terminen des Alltags. Die Koffer der Wartenden sind teils riesig, auf dieser Kreuzfahrt scheint man viel Gepäck zu benötigen.

Die Mitte der Gesellschaft

Kreuzfahrten sind schon seit langer Zeit keine unerschwinglichen Reisen mehr, wir sehen hier nicht auf exaltierten Reichtum. Da stehen irgendwelche Menschen, die könnten von den Typen her auch auf den Einlass in einem Kino oder Theater um die Ecke warten, auf die morgendliche Öffnung eines Discounters oder sonst irgendwo in einer Schlange in dieser Stadt stehen. Man kann nicht an diesen Menschen vorbeigehen und so etwas sagen wie: „Guck mal, typische Kreuzfahrtpassagiere.“ Es würde nicht stimmen, es gibt keine Merkmale.

Vielleicht spüren Sie schon seit mehreren Zeilen eine gewisse Aversion gegen den Begriff Kreuzfahrt, immerhin ist das eine ökologisch nicht eben akzeptable Variante des Reisens, eher im Gegenteil. Ich weiß. Damit ich mich nicht empören muss, was ich meist als anstrengend empfinde, lege ich es mir so zurecht: Ich habe selbst schon einmal eine Kreuzfahrt gemacht. Das ist lange her und war zu einer Zeit, als ich über das Ökothema dabei noch nichts wusste oder nicht wissen wollte. Ich habe also nicht daran gedacht, überhaupt nicht. Ich fand damals andere Aspekte dieser Reiseart furchtbar, das hat mich genug beschäftigt. Aber das mit der Umwelt, das hatte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht parat. Und jetzt versuche ich, obwohl es mir etwas schwerfällt, das gebe ich zu, meine eigenen Erfahrungen auch den Passagieren hier vor mir zuzubilligen: Sie haben das mit der Umwelt immer noch nicht parat. Dann geht es für einen Moment.

Da stehen also normale Menschen, man sieht ihnen nichts Besonderes an, nur diese dezidierte Freizeitkleidung, aber die fällt nicht weiter auf. Da steht, so heißt es doch immer, die Mitte der Gesellschaft. Da könnte ich auch stehen, und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit könnten Sie das auch. Die Mitte der Gesellschaft steht Schlange vor einem weißen Pavillonzelt.

Ein kleines Lager

Direkt daneben, in etwa drei Metern Abstand, ein kleines Lager auf dem nicht eben sauberen Boden des Bahnhofsvorplatzes. Dort liegen, sitzen, hocken und stehen Obdachlose aus Osteuropa. Ich könnte sie aufgrund meiner mangelnden Sprachkenntnisse nicht sicher einem Herkunftsland zuordnen. Und selbst wenn ich etwa das Russische oder Polnische genau erkennen würde, ich wüsste dennoch nicht zuverlässig, aus welchem Land sie kommen. Das sind Feinheiten, aber ich finde sie wichtig. Den osteuropäischen Sprachraum immerhin, den erkenne ich, den höre ich. Dass etliche aus dieser Gruppe ein fortgeschrittenes Alkoholproblem haben, das erkenne ich auch, weil es theaterhaft überdeutlich vorgeführt wird. Die vollen und die leeren Flaschen, das Anstoßen, das Singen, das Torkeln, das Lallen. Es ist nicht zu übersehen.

Einige Männer aus dieser Gruppe packen gerade einen großen Koffer aus und verteilen Kleidungsstücke unter sich. Vermutlich handelt es sich um Spenden, vielleicht hat jemand gerade etwas abgegeben oder sie haben die Sachen von einer der karitativen Organisationen erhalten, die am Bahnhof unterstützen. Pullover packen sie aus, dicke Winterpullover, Zettel mit Größen daran, sie halten sie an sich, ob sie wohl passen.

Ein roter Koffer

Worum es mir aber geht: Dieser Koffer, den sie da auspacken, ist groß und rot. Und in der Schlange der Kreuzfahrtpassagiere steht ein Paar, das hat auch einen Koffer, der groß und rot ist, und wenn man etwas näher hinsieht, ist es der gleiche Koffer. Ich gehe etwas näher ran, kein Zweifel, die sind genau gleich. Die Frau, die ihren Koffer gerade einen Meter in der Schlange nach vorne schiebt, merkt das jetzt auch gerade.

Irritierte Blicke. Sie stupst ihren Mann an und zeigt auf den Koffer, der in der anderen Menschengruppe gerade ausgepackt wird, dann auf ihren eigenen. Guckt hin und her. Schüttelt den Kopf. In der Gruppe auf dem Boden merkt es auch einer und zeigt ebenfalls auf den anderen Koffer, und da haben wir auch schon das Bild. Diese Menschen in grundverschiedenen Sinnzusammenhängen vor den Koffern. Diese Menschen, die aufeinander zeigen, noch unentschlossen, ob sie lachen sollen, ob sie etwas sagen sollen, etwas Scherzhaftes vielleicht, oder was da jetzt passen mag. Die sich dann etwas unsicher angrinsen, das immerhin. Ein seit Wochen unrasierter Mann, der mit seinen Kumpels vor dem Bahnhof lagert und Kleiderspenden sortiert, eine Kreuzfahrtpassagierin, die gleich von freundlichen Menschen programmgemäß und wie gebucht weiterbefördert werden wird. Die gleiche Kulisse, das identisch aussehende Stück aus der Requisite, dieser große, rote Koffer. Zwei vollkommen verschiedene Aufführungen. Etwa drei Meter Abstand.

Mehr wollte ich gar nicht zeigen. Nur ein Bild.

 

„Ausgesprochen …“

In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im wöchentlichen Wechsel Maximilian Buddenbohm, Susi Bumms und Sineb El Masrar. Maximilian Buddenbohm berichtet in „Ausgesprochen … gesellig“ über das große Ganze, die Gesellschaft, und ihre kleinsten Einheiten: Familie, Freundschaften, Beziehungen.