Sprechstunde – die Sprachkolumne  Excuse me, wir haben 2023

Illustration: Eine Person auf einem Mobilgerät, Sprechblase mit der Aufschrift „Excuse me“
„Excuse me, wir haben 2022“ – ein sogenanntes Meme © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Die „Sprechstunde“ wird digital: In den kommenden Beiträgen spricht unser neuer Kolumnist Dirk von Gehlen über von der Netzkultur inspirierte Sprachformen. Wie entstehen eigene Slang-Formen, welche Rolle spielen Abkürzungen und Emojis? Und warum kann all dies schwerwiegende gesellschaftliche Probleme lösen?

Die Tiktok-Nutzerin Linnea Sky hat der deutschen Sprache im und mit dem Jahr 2022 ein Geschenk gemacht. Das war ihr zunächst gar nicht aufgefallen. Erst als zahlreiche andere Nutzer:innen auf Tiktok in sehr großer Zahl mit einem Video der jungen Frau interagierten, stellte sie fest: Sie hat mit ihrem Satz „Excuse me, wir haben 2022“ einen sogenannten viralen Hit gelandet. Ursprünglich entstammt der Satz einem Clip. Darin echauffiert sie sich über die Frage, ob man im Jahr 2022 als Frau einen BH tragen müsse.

Ihre Antwort: Natürlich nicht. Denn: „Excuse me, wir haben 2022.“

Gemacht für den Moment

Außerhalb von Tiktok würde man sagen, der Ausspruch wurde zu einem geflügelten Wort. Innerhalb der Plattform hob er ab und verselbstständigte sich. Wann immer jemand (etwas affektiert) seine oder ihre eigene Gegenwärtigkeit in Abgrenzung zu einer vermeintlich rückständigen Ansicht Ausdruck verleihen wollte, kam der Satz zur Anwendung. Ab dem Sommer (der Ursprungsclip wurde im Juli hochgeladen) lief dieses Spiel – bis zum Silvester-Fest. Dort wurde der Satz erst kurz im ZDF zitiert und dann von einer Sekunde auf die nächste unbrauchbar. Weshalb Linnea Sky ihn noch in der Neujahrsnacht aktualisierte – und eine „Excuse me, wir haben 2023“-Fassung veröffentlichte.

Alles an dieser Geschichte eines vermeintlich kleinen Internetvideos liefert Stoff für eine eigene Saison Sprechstunde. In den nächsten Folgen wird es hier um Internetsprache bzw. um von der Netzkultur inspirierte Sprache gehen – und Linnea Skys Clip ist zum Start nicht nur wegen des noch jungen Jahres äußerst passend. Er ist ein sogenanntes Meme, ein Beispiel für „kreative Ausdrucksformen mit vielen Beteiligten, durch die kulturelle und politische Identitäten kommuniziert und verhandelt werden“ wie Limor Shifman in ihrem Buch Meme, die häufig als Internetwitzchen missverstandenen Phänomene beschreibt. Sie sollen diese Sprechstunden-Saison bestimmen.

Der Excuse-me-Satz ist dafür ein besonders guter Einstieg, weil er mindestens vier Aspekte illustriert, die in den folgenden Sprechstunden thematisiert werden: Er steht erstens für eine erstaunliche Sprachform, die weder richtig Englisch, noch richtig Deutsch, aber dennoch im Netz sofort verständlich ist. Diese Sprache lebt zweitens sehr deutlich von Intonation und Imitation (also aktiver Nutzer:innen-Beteiligung) und drittens trägt sie (nicht nur wegen der Jahreszahl) ihre eigene zeitliche Begrenzung in sich. Es ist eine Sprache auf Abruf, gemacht im und für den Moment. Denn dort entwickelt sie ihre Distinktion, die vierte wichtige Eigenschaft der Netzsprache. Wie alle Sprachformen hilft auch sie, in innerhalb und außerhalb zu definieren: Wer das versteht, gehört dazu.

Anschlussfähig

Beginnen wir mit der Kombination von englischem Einstieg und deutschem Ausklang des Zitats. Sie signalisiert einerseits Weltläufigkeit und gleichzeitig sprachliche Begrenzung. Denn „Wir haben 2022“ verstehen vermutlich nur wenige, die in der muttersprachlichen Excuse-Me-Welt sozialisiert sind. Aber um die geht es auch nicht. Der Erfolg und die Reichweite des Zitats basieren auf der Anschluss- und Imitationsfähigkeit im deutschen, digitalen Sprachraum. Wer hierzulande aktiv das Netz nutzt, ist mit englischen Begriffen so vertraut, dass sie/er sich eingeschlossen und vielleicht sogar zum Mitmachen animiert fühlt. Die Sprache auch selbst zu sprechen, ist in der Prosumenten-Welt des Web bedeutsam. Das vormals passive Publikum wird selbst aktiv – und imitiert Linnea Skys sonderbare Aussprache. Das ist lustig und zeitgemäß, für den Moment. Dass das Zitat sein eigenes Verfallsdatum in sich trägt, macht es besonders illustrativ für die Aspekte der Internetsprache. Denn die Distinktion, die sich aus der Kenntnis und Nutzung des Zitats ergibt, ist immer auch zeitlich begrenzt. Nichts ist uncooler als das verspätete Wissen um einen Trend.

Auf all diese Aspekte wird die digitale Sprechstunde in den nächsten Folgen eingehen. Aber – excuse me, wir haben 2023 – natürlich nicht ohne Sie als Leserin und Leser dieser Kolumne zu integrieren. Über welchen Aspekt der digitalen Sprache möchten Sie hier lesen? Schreiben Sie mir Ihre Themen und Vorschläge: sprachkolumne@goethe.de. Welche Aspekte der Internetsprache sind für Sie besonders interessant? Welche verstehen Sie gar nicht?

Ich werde versuchen, Ihre Wünsche und Fragen zu integrieren!
 

Sprechstunde – Die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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