Ausgesprochen ... Berlin  Neue Berliner Zeitrechnung

Menschen stehen vor einem Berliner Club, eine Person trinkt einen Cocktail.
Das Berliner Nachtleben ist fast wieder präpandemisch - obwohl gerade für queere Menschen in den letzten zweieinhalb Jahren viel passiert ist. Foto (Detail): Tim Rimmeler © picture alliance/EPA-EFE

Nachdem wir unsere Zeit seit Jahrhunderten „nach Jesus Christus“ berechnen, sucht unsere Kolumnist*in Seyda Kurt nach einer neuen Zeitrechnung für Berlin: Sie schreibt ab jetzt hier jeden Monat über Berlin, Queerfeminismus und was wir noch alles vor uns haben!

Vor der Pandemie hatten meine Freund*innen eine eigene Zeitrechnung: „Das war nach der letzten Cocktail!“, stritten sie manchmal, „Nein, das war vor der letzten Cocktail!“ Die Cocktail steht als Abkürzung für Cocktail d’Amore und ist eine der bekanntesten, queeren Partys in Berlin. Als zeitlicher Ankerpunkt gliederte ihr Stattfinden die Erzählungen meiner Freund*innen. Und dann kam Corona.
 
Die Cocktail-Zeitrechnung ist auch nach den Pandemiejahren unangefochten geblieben. Mit dem Frühling und den Lockerungen der Hygiene- und Schutzmaßnahmen hat sie sich fast unmerklich in unseren Sprachgebrauch eingeschlichen. Die Cocktail d’Amore findet wieder regelmäßig statt, in geschlossenen Räumen, mit Dark Room und allem Drum und Dran. 

Steht also alles zurück auf Normal in dieser pulsierenden Stadt mit ihren vielfältigen und konkurrierenden Zeitrechnungen? In der Menschen manchmal ihre Zeit nach dem Stattfinden ihrer queeren Lieblingsparties, manchmal nach dem Fall der Berliner Mauer und manchmal nach der im Vorfeld von Planungsskandalen überschatteten Eröffnung eines neuen Flughafens berechnen? Ist nun letzten Endes wieder alles gut in einer Stadt, die doch so stolz auf ihre queere Szene, ihr queeres Leben und ihre queere Zeitrechnung ist?

Queere Safe Spaces bedroht

So einfach ist es nicht. Für queere Bewegungen in Berlin hat sich seit der Pandemie einiges verändert – und tatsächlich einiges verschlimmert. Für viele Menschen bedeutet Queersein in Berlin nicht nur ein schillerndes Partyleben, sondern auch unbezahlbare Mieten, prekäre Arbeitsverhältnisse, Gewalt auf den Straßen und die Ausgrenzung durch Institutionen. 

Mitten in der Pandemie, im Oktober 2020, hat die Berliner Stadtverwaltung eines der ältesten Wohnprojekte der linksanarchistisch-queeren Szene räumen lassen: den fünfgeschossigen Altbau Liebigstraße 34. Rund 1500 Polizeibeamte waren im Einsatz, um die 40 Bewohnenden unter Protesten und Blockaden aus dem Haus zu schaffen. Seit 1999 lebten hier weibliche, trans- und intergeschlechtliche Menschen und erprobten ein solidarisches und selbstbestimmtes Zusammenleben, bis der neue Vermieter, ein Berliner Immobilienunternehmer, ihnen im Jahr 2018 kündigte. Und auch ein anderes linkes Wohnprojekt, das aus einer Hausbesetzung hervorging, bleibt bis heute bedroht: die sogenannte Rigaer 94 in der gleichnamigen Straße in Friedrichshain. Seit Jahren versuchen Berliner Behörden, eine Räumungsklage durchzusetzen.  

Ich lebe seit rund fünf Jahren in Berlin. Als politische Autor*in schreibe und forsche ich über queeren, linken Feminismus. Ich beobachte seit Jahren ihre Kämpfe und Widersprüche und ich kritisiere immer wieder, wie das Adjektiv queer von Institutionen oder Unternehmen zu einer regenbogenfarbenen Lifestyleformel und Feminismus zu einem sinnentleerten Vermarktungsetikett entfremdet wird, um den eigenen Zeitgeist als besonders progressiv zu labeln.

Einen Cocktail auf die Enteignung

Queerpolitische Kämpfe bedeuten jedoch vor allem in Berlin nicht immer Glitzer und Cocktails. Unterhalte ich mich mit Menschen aus der queer-politischen Szene in Berlin, erzählen sie mir von ihrer Erschöpfung. Die Pandemiejahre haben sie ausgelaugt. Sie haben sich um Freund*innen, Mitbewohnende oder Kinder gekümmert. Sie haben im Bundestagswahljahr 2021 politische Kampagnen geführt und etwa für die Abschaffung des sogenannten Transsexuellengesetzes gekämpft, das trans Menschen, die ihren Personenstand und Namen ändern wollen, pathologisiert und sie zu kostspieligen Gerichtsverfahren und -gutachten zwingt. Laut dem Projekt Trans Murder Monitoring war 2021 das tödlichste Jahr für trans Menschen weltweit. Denn viele von ihnen sind arm, illegalisiert, von Rassismus und Polizeigewalt betroffen und häufig zu Sexarbeit gezwungen. 

Für viele queere Menschen in Berlin gibt es immer noch keinen Grund zu feiern. Auch mich haben die Pandemiejahre erschöpft, die letzte Cocktail habe ich sausen lassen. Ich suche indes nach einer neuen Zeitrechnung in dieser Stadt – eine, in der wir uns in etwa so streiten: „Das war doch vor der letzten Hausbesetzung!“ „Nein, das war nach der ersten Enteignung der größten Immobilienkonzerne, aus denen wir queere Häuserprojekte gemacht haben!“ Und darauf würde ich einen Cocktail trinken.
 

„AUSGESPROCHEN …“

In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im wöchentlichen Wechsel Şeyda Kurt, Susi Bumms, Maximilian Buddenbohm und Sineb el Masrar. Unsere Berliner Kolumnist*innen werfen sich in „Ausgesprochen … Berlin“ für uns ins Getümmel, berichten über das Leben in der Großstadt und sammeln Alltagsbeobachtungen: in der U-Bahn, im Supermarkt, im Klub.