Amel Zen

Sajrat Ulili


Cover Amel Zen - Sajrat Ulili © Amel Zen
Amel Zen stammt aus der bergigen Küstenregion von Dahra دهرة, aus der algerischen Stadt Tipasa. Die Reichhaltigkeit einheimischer Kulturproduktionen aufgreifend, konzentriert sie sich auf die wenig dokumentierte Musikrichtung des Daynane.

In der Regel entweder von Männern oder Frauen (niemals von beiden zugleich) gesungen, ist der Daynane Teil der amazighischen Bevölkerung der Region und eine althergebrachte kulturelle Praxis. Die Musik ist eng mit sozialen Ereignissen wie Tod, Geburt und Hochzeiten verbunden und berührt dabei häufig auch Tabus wie Liebe oder Sex. Die Texte des Daynane sind offen und direkt. Obwohl ihn einige männliche Bands aus der Region auch auf den Bühnen der Region vortragen, bleiben Aufführungen von Frauen gewöhnlich auf gesellschaftliche Ereignisse beschränkt. 
 
Nach einigen erfolglosen Versuchen, Aufnahmen von Daynanen zu finden, die vor den 1970er-Jahren entstanden sind, musste die Künstlerin schließlich auf das Internet und die Arbeit mit Open-Source-Archiven zurückgreifen. So wählte sie eine Live-Aufnahme der in den 70er-Jahren zum Symbol gewordenen Amazigh-Band Ichenwiyen, die als eine der ersten Musikgruppen (nach Chikh Tanga, von denen leider keine Aufnahme zu finden war) angefangen hatten, diesen Musikstil aufzunehmen. Die Aufnahme trägt den Titel Sajrat Ulili (Der Oleanderbaum). Der Text des Stückes stammt vom berühmten algerischen Amazigh-Denker und Dichter Abdallah Bendaoud. 

Bei der Aufarbeitung im Studio kombinierte die Künstlerin die alte Aufnahme mit eigenem Gesang und ihrer eigenen Instrumentierung und schuf so einen lebendigen Dialog zwischen zwei künstlerischen Generationen, die sich nie begegnet sind und doch dieselbe Botschaft teilen: die Suche nach Freiheit und Identität. Ihre Arbeit bringt erstmals in der dokumentierten Geschichte dieser Stilrichtung männliche und weibliche Daynane-Künstler zusammen und eröffnet damit die Debatte um Geschlechtervielfalt. Die Musik stellt über Text und Instrumentierung starke Bezüge zur Natur her, die auch in den Klängen der Ajaaboubte anklingen, einem alten amazighischen Windinstruments, das aus der Ghalim-Pflanze hergestellt und in Westalgerien und Teilen von Marokko neben Schlaginstrumenten aus Holz und Tierhäuten genutzt wird.

Durch die Einbindung von Elementen aus dem Electro Pop passte Amel das Stück auch an ihre eigenen musikalischen Vorlieben an, erhielt jedoch den ursprünglichen Refrain und Klang. Dabei bleiben die Unterschiede zwischen den verschiedenen Aufnahmegenerationen durch die Mischung von Sound und Musik hörbar und verleihen dem Daynane seine Kontinuität. 

Nach der Arbeit an diesem Projekt und ihren Nachforschungen über den Daynane berichtet Amel von ihren Erkenntnissen aus dem Prozess: 

Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, kulturelle Praktiker dazu zu bringen, sich innerhalb ihrer Lebenszeit –dann, wenn es noch möglich ist– für ihre eigene Arbeit einzusetzen. Die Bedeutung des kulturellen Erbes sollte auch in der kollektiven soziokulturellen Erinnerung verankert sein. Erbe muss nicht notwendigerweise alt sein; es wird jeden Tag neu geschaffen und definiert. Niemand ist qualifizierter, sich zu ihm zu bekennen, als diejenigen, die es bewahren.”  
Amel Zen


Dauer: 3’27
Komposition: Ichenwiyen إيشنوين
Arrangement: Amel Zen, Mohamed Cherif Lahoubi
Ursprüngliche Instrumentierung: Gitarre, Mundharmonika, Banjo
Text: Abdellah Bendaoud
Instrumentierung:  Synthesizer, E-Gitarre und Bass
Ursprüngliche Entstehung: späte 1970er-Jahre
Aufnahme: Juni 2021


 

Daynane

Amel Zen – Interview mit Abdellah Bendaoud, dem Verfasser des Textes von Sajrat Ulili    

Während der Arbeit an Sajrat Ulili führte Amel ein Interview mit Abdellah Bendaoud, dem Verfasser des Originaltexts, um die Bedeutung und den Kontext des Daynane weiter zu beleuchten. Durch den Mangel an verfügbaren Materialien über das musikalische Erbe des Daynane, der in der Region mindestens seit dem 19. Jahrhundert präsent ist, war ihr dieser Schritt besonders wichtig. Die Nachforschungen zu diesem Musikstil gestalteten sich so als Herausforderung. 
  
In diesem Interview wollte ich mich auf die Definition des Daynane und seine Bedeutung als musikalisches Kulturerbe aus dem Blickwinkel eines seiner künstlerischen Vertreter konzentrieren. Interviews mit Künstlern wie Abdellah Bendaoud ermöglichen uns zahlreiche Informationen und Einblicke, während die Künstler selbst zu Subjekten eines gegenwärtigen Archivs werden.” 
Amel Zen
 

 

Mirage

Amel Zen und Hajar Zahawy


Cover Amel Zen - Mirage © Amel Zen
Gemeinsam erkunden die algerische Amazigh- Sängerin Amal Zen und der gefeierte Percussionist Hajar Zahawy aus Irakisch-Kurdistan die Nähe zweier Musikstile aus zwei Kontinenten. Ihre gemeinsame Produktion vereint Know-How und Leidenschaft beider Künstler in einem gemeinsamen Track. Nach ihrem ersten virtuellen Aufeinandertreffen während des Mirath:Music Projekts fand Amel Zen Wärme und Vertrautheit in den Rhythmen des kurdischen Künstlers.

“Old Roots New Leaf” oder “Mirage” ist die spontane Begegnung beider künstlerischer Welten und bringt über Improvisation das Beste aus beiden Musikkulturen zusammen. Die Gesangsimprovisation ist inspiriert von unterschiedlichen nordafrikanischen, maghrebinischen und spezifischen algerischen Modi. Ihre Melodien reisen durch das Bergland von Dahra und Tibaza bis in die kabylische Djurdjura. Sie durchqueren die Sahara, wo der berühmte Tindi-Musikstil zu hören ist, und mischen sich mühelos mit den verschiedenartigen kurdischen Rhythmen Hajar Zahawys. 

Dieser Track wurde im Rahmen virtueller Zusammenarbeit und virtuellen Austausches produziert. Der kurdische Percussionist schickte Aufnahmen seiner Arbeit an Amel. Auf die erhaltenen Rhythmen legte diese wiederum in einer einzigen Aufnahme ihre intuitive und spontane Gesangsimprovisation, ohne eine einzige Pause oder erneute Aufnahme zu benötigen.

"Dieses Zusammenkommen zeigt eine Vertrautheit zwischen uns, die sich nicht nur in unserer Musik, sondern auch in den Kämpfen unserer Völker niederschlägt. Amazigh und Kurden haben seit langer Zeit dafür gekämpft, ihre Kulturen, Identitäten und Existenzen zu bewahren und ihre Unterdrückung und koloniale Geschichte sind hörbar in der Musik unserer Völker. „Mirage” bricht mit der Illusion einer falschen Geschichte und bezeugt das musikalische Kulturerbe: ein lebendiger Zeuge der Geschichte unserer Völker und ihrer Identitäten.”
Amel Zen

Dauer: 4’54
Komposition: Hajar Zahawy (Rhythmus), Amel Zen (Melodie)
Gesang: Amel Zen
Instrumentierung: Daf, verschiedene Percussion-Instrumente, Synthesizer
Aufnahme: 2021


 

Das Warum hinter der Musik

Ein starkes Zeugnis von Geschichte und Identitäten
Amel Zen

 

Das Bedürfnis, sich auszudrücken, zu kommunizieren und eine Spur der eigenen Existenz zu hinterlassen, ist schon so alt wie die Menschheit selbst. Von Felsenzeichnungen bis hin zum Aufbau der großen Imperien sind Menschen in ihrer Konzeption von Geschichte und Zivilisation diesem Bedürfnis nach Selbstausdruck gefolgt. Heute gelten diese Zeugnisse menschlichen Schaffens als materielles Kulturerbe. Neben den unbeweglichen sichtbaren Spuren der Imperien besteht allerdings noch eine weitere Form von Erbe: ein stärkeres, lebendigeres Erbe, eines, das über seine essentielle Verbindung zu Sinneswahrnehmungen und Empfindungen mit dem Leben und der Menschheit weiterbesteht. Diese Form von Erbe verstehen wir als immaterielles Kulturerbe.


Die Faszination für die Kraft und Wirkmacht, die Klänge und Musik vom Beginn der Zeiten an in unseren Leben entfalten, stehen im Zentrum meines Schaffens. In meiner Arbeit folge ich den engen Verbindungen zwischen diesem Erbe und sozialem, kulturellem, historischem und politischen Leben um darüber mein eigenes Umfeld und die größere globale Gemeinschaft besser zu verstehen.

Ausgehend von meinem eigenen Erbe, das sich aus nordafrikanischen, maghrebinischen und Amazigh-Einflüssen speist, spiegelt meine Musik meinen Lernprozess und meine Eindrücke aus mehr als einem Jahrzehnt musikalischer Produktion wider. Meine Arbeit soll Brücken zwischen Menschen und Kulturen bauen und gleichzeitig den Unterschieden in Hinblick auf Ethnizität, Religion, Kultur und Gender gerecht werden, die uns als Menschen mit algerischem, nordafrikanischem und Amazigh-Hintergrund und gleichzeitig als Mitglieder einer Weltgemeinschaft prägen. 

In Nordafrika haben verschiedene Kolonialisierungen und nihilistische politische Projekte wie der Panarabismus versucht, die amazighische Identität und Kultur auszulöschen. Der Panarabismus vereinte die nordafrikanischen Länder unter dem Begriff der „arabischen Welt“ als einer einzigen kulturellen Entität und brachte damit einige Verwirrung zwischen Ethnizitäten und linguistischen Zugehörigkeiten hervor. Folglich wurde jeder Ausdruck von Diversität behindert und indigene Amazigh-Gemeinschaften unterdrückt. Trotz aller Widerstände, die den Amazigh entgegengebracht wurden, konnte unser musikalisches Erbe in Nordafrika durch mündliche Überlieferung fortbestehen. Nach Jahren des Protests und der Kämpfe und in tiefem Respekt vor den Erinnerungen und Forderungen derjenigen, die im sogenannten „Berberfrühling“ von 1980 und im „schwarzen Frühling“ des Jahres 2001 ihr Leben gelassen haben, haben wir es geschafft, dass Tamazigh als offizielle Sprache anerkannt wurde. Dies ist auch den Forderungen der vielen Kämpfer und Aktivisten in Marokko zu verdanken. Trotzdem bleibt noch einiges zu tun, damit unsere Kultur anerkannt und gesehen wird. 

After years of protest and struggle, and in respect for the memory and demands of those martyred in the 1980 Berber Spring and the Black Spring of 2001 in Kabylia in Algeria, and adhering to the demands of fighters and activists in Morocco as well, we managed to make Tamazight an official recognised language. Yet there is still more to be done to highlight our culture. 
 
Im Rahmen musikalischen Kulturerbes beschäftige ich mich damit, den Kampf für amazighische Kultur und Identität in der Region fortzusetzen, weil für mich die Rehabilitation der Geschichte und Identitäten der Völker dringend notwendig ist. Dabei geht es um mehr als um einen Akt des Bewahrens. Es ist ein Akt des Widerstands und Überlebens, die Pflicht, sich zu erinnern und zu erinnern.  

Interview mit Amel Zen