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Draht zur Musik
Das Theatrophon

Plakat von Jules Cheret von 1890, als in Paris die Théâtrophone-Gesellschaft gegründet wurde.
Plakat von Jules Cheret von 1890, als in Paris die Théâtrophone-Gesellschaft gegründet wurde. | Benjamin Gavaudo, Licence Ouverte

Wir feiern das Radio. Aber was kam eigentlich davor? Das Theatrophon! Man meldete sich bei der Telefongesellschaft an – so wie heute bei einem Streamingdienstleister – und über das Telefon wurden Musik und Opern übertragen. Lev Bratishenko erzählt die Geschichte des Theatrophons.

Von Lev Bratishenko

Der britische Erfinder Charles Wheatstone beeindruckte seine Gäste gern mit einer Vorführung des „Acoucryptophones“, einer von der Decke hängenden „verzauberten Leier“, die er mit großem Gehabe aufzog. Sie funktionierte, weil der Aufhängungsdraht mit dem Resonanzboden eines Klaviers im Stockwerk darüber verbunden war und den Klang des Instrumentes übertrug, wenn ein Helfer darauf spielte. Wheatstones Musikautomat, den er bis mindestens 1823 öffentlich präsentierte, sowie seine späteren Werke führten zu Spekulationen darüber, ob sich ein Gerät zur Übertragung von Musik über größere Entfernungen konstruieren ließe:

„Wer weiß, ob man damit Opernmusik, die im King’s Theatre aufgeführt wird, bald schon zugleich in den Hanover Square Rooms, in der City of London Tavern und sogar in der Horns Tavern in Kensington lauschen kann.“ [1]

Und so sollte es tatsächlich geschehen; es dauerte nur länger als erwartet. 1848 fabulierten die Redakteure des Punch von einem „Opern-Telakouphanon“, das die Haushalte „mit den fließenden Tönen von Jenny Lind so mühelos wie mit weichem Wasser“ versorgen würde. [2] Auch das war noch vorschnell, aber einen Sopran live aus dem Wasserhahn zu hören, ist ein guter Gedanke. Das hat etwas.

Öffentliches Theatrophon mit Münzeinwurf Öffentliches Theatrophon mit Münzeinwurf | Public domain Erst mit der Erfindung des Telefons wurde ein System zur Fernübertragung von Musik realisierbar, und innerhalb kürzester Zeit kam selbige am Telefon zu Gehör. Als Alexander Graham Bell 1878 Königin Viktoria das Gerät im Osbourne House demonstrierte, wurde auch ein Lied vorgeführt, das sie „recht deutlich“ vernahm. [3] Deutlich war es auch in einem anderen Sinne – die Qualität der ersten Telefone war so schlecht, dass sich Musik, die lauter und verzerrungsresistenter ist, besser übertragen ließ als Sprache. Noch 1900 wurden die Leser*innen der Gebrauchsanweisung The Phonograph and How to Use It aufgefordert, „allzu ausdrucksstarken Gesang zu vermeiden.“

Frühe Mikrofone und Lautsprecher hatten viele bauliche Einschränkungen, doch die schlechte Qualität war auch der primitiven Verschaltung geschuldet. Die ersten Telefone verwendeten Telegrafendrähte, also geerdete Einfachleitungen aus Eisendraht; die 1881 von Bell patentierte, höherwertige Zwei-Draht-Leitung wurde erst in den 1890er-Jahren in Telefonen verbaut. Geerdete Schaltungen hinterlegen Telefongespräche mit Rauschen, da sie das Erdreich gemeinsam mit maschinellen Anlagen, Stromleitungen und natürlichen Erdströmen nutzen. Leitungen aus zwei Drähten, die damals allerdings auch noch aus Eisen bestanden, können diese Störungen reduzieren (ab den 1880er-Jahren kamen bei Ferngesprächen Kupferleitungen zum Einsatz).

In seiner selbst gebauten Telefonleitung lauschte er regelmäßig statischem Rauschen.

Die Angestellten der Telefon- und Telegrafenunternehmen gehörten zu den ersten, die Zeug*innen experimenteller Musikübertragungen wurden. C. E. McCluer, ein aus Virginia stammender Ingenieur und Leiter eines Telegrafenamtes, berichtete 1876 von einem solchen Abenteuer mit dem „Fernsprecher“. In seiner geerdeten, privaten, selbst gebauten Telefonleitung verfolgte er regelmäßig statische Störungen:

„Als ich eines Sonntagabends von der Kirche zurückkam, legte ich das Telefon an mein Ohr, um das Phänomen, das meine Aufmerksamkeit gefangen hielt, noch eine Zeitlang weiter zu beobachten. Die geheimnisvollen Geräusche waren immer noch da – Geräusche, die ich nicht hinreichend beschreiben kann, sondern die man gehört haben muss, um sie zu verstehen –, als ich, gerade als ich das Telefon vom Ohr nehmen wollte, etwas hörte, das mir zunächst wie die Stimme eines Engels aus dem Reich der Seelen vorkam und das meinen erregten Sinnen wie eine äußerst himmlische und hinreißende Melodie erschien.“

Den Rest des Abends verbrachte er gemeinsam mit seiner Frau am Hörer:

„Doch bald fand ich heraus, dass sie kein Duett sangen, wie meine Gattin vermutet hatte, sondern die männliche Stimme ein anderes Sonntagsschullied in einer völlig anderen Tonart vortrug. Mein Erstaunen wuchs. Ich war so aufgeregt, dass ich nicht mehr stillhalten konnte … [bis] die geheimnisvollen Stimmen, nachdem jede ein halbes Dutzend oder mehr bekannter Choräle und Sonntagsschullieder gesungen hatte, schließlich verstummten.“ [4]

Er brauchte ein paar Tage, bis er das Rätsel lösen konnte; Angestellte der Telegrafenämter in Staunton und Charlottesville, Virginia, fast hundert Meilen entfernt von McCluer in Lynchburg, hatten mit der Übertragung von Klängen experimentiert und dabei das Telegrafennetz modifiziert. Um zu funktionieren, erforderte ihre Schaltung die gesamte Leistung der Telegrafenbatterien – weshalb sie den Versuch an einem Sonntag durchführten –, und trotzdem hatten sie einander kaum verstehen können. McCluers „höchst sensibles Bell-Telefon“ aber hatte das Konzert durch eine Mischung aus Induktion und Leckstrom empfangen.

McCluer hörte mono, obwohl diese Unterscheidung damals noch nicht existierte, denn der Stereoklang erlebte erst 1881 auf der Internationalen Elektrizitätsausstellung im Pariser Industriepalast seine Premiere, wo er selbst die wenigen, die bereits mit Telefonen vertraut waren, überraschte. An drei Abenden in der Woche von August bis November harrten Tausende auf der Ausstellung aus, um über Hörmuscheln Livemusik von den Bühnen der Opéra Garnier und des Théâtre Français zu vernehmen, die fast zwei Kilometer entfernt waren. Das Musiktelefon, das später als Theatrophon vermarktet wurde, war eine Erfindung von Clément Ader.

Alte Telefone klingen besser, wenn man im Laufe eines Gespräches darauf klopft.

Ader ließ zehn große Kohlemikrofone – mit Kohlegranulat gefüllte Gehäuse, dessen Widerstand sich aufgrund der Komprimierung durch Schallwellen verändert, was der Grund ist, warum alte Telefone besser klingen, wenn man im Laufe eines langen Gespräches darauf klopft – am Bühnenrand jeder Spielstätte aufstellen und Leitungen zum Industriepalast verlegen. Jedes Mikrofon versorgte acht Empfänger, und jeder Empfänger hatte zwei Hörmuscheln: Die linke war mit einem Mikrofon auf der linken und die rechte mit einem auf der rechten Bühnenseite verbunden. Die Presse war begeistert von dem neuen Klang, den sie als „Hörperspektive“, „binaurikulares Hören“ oder „Reliefhören“ bezeichnete.  [5] Die Schritte der Schauspieler*innen waren zu hören, obwohl die Mikrofone in Blei eingefasst in einer Kiste lagen, die auf Gummifüßen stand, um die Vibration zu minimieren. In Verbindung mit dem neuartigen Stereoklang erzeugte das ein aufregendes Raumgefühl.

Doch das System wurde zusammen mit der Ausstellung eingemottet, und der Autodidakt Ader wandte seine Aufmerksamkeit anderen Projekten zu. Bereits 1878 hatte er die erste Telefonleitung in Frankreich installiert und 1880 die Société générale des téléphones mitbegründet, die erste Telefongesellschaft in Paris. Zudem hatte er sich an der Fahrradproduktion versucht und das erste Unterwasserkabel verlegt. In Erinnerung geblieben ist er aber vor allem wegen der fledermausähnlichen, dampfbetriebenen Flugzeuge (die möglicherweise nie richtig geflogen sind).

Um 1892 existierten etwa einhundert öffentliche Theatrophone in Paris.

Eine Version von Aders Musiktelefon blieb als Ausstellungsstück im Musée Grévin erhalten, wo die Besucher*innen einem nicht ganz so kunstvollen Programm aus dem Varietétheater Eldorado folgen konnten. 1889 präsentierte Ader seine beliebte Erfindung auf der Pariser Weltausstellung ein zweites Mal, und im selben Jahr gründeten die Unternehmer Marinovitch und Szarvady die Compagnie du Théâtrophone zur Vermarktung des Systems. [6] Bald schon wurde im Foyer des Pariser Théâtre des Nouveautés ein ständiger Hörraum zusammen mit einem Vermittlungsraum eingerichtet, der wie eine Telefonzentrale funktionierte – ein „akustischer Krake“, wie Cocteau es bezeichnete. [7]

Allmählich kamen neue Spielstätten hinzu, und bald konnten Privathaushalte ein Jahresabonnement für 180 Francs für einen eigenen Theatrophon-Empfänger abschließen, mit dem sie ganze Aufführungen ihrer Wahl anhören konnten, wobei pro Hörabend eine Zusatzgebühr anfiel. [8] Die Theatrophon-Empfänger waren massiv gebaut und entsprachen den damaligen ästhetischen Vorstellungen für elektronische Geräte: lackierte Holzmöbelstücke mit Messingbeschlägen und Drähten, die mit Wachs oder Stoff isoliert waren. Die Theatrophon-Firma stellte münzbetriebene Empfänger in Cafés und Hotellobbys auf, wo man für 50 Centimes oder einen Franc fünf bis zehn Minuten lang etwas live hören konnte. Auf diesen öffentlichen Kästen befand sich eine Anzeige der Spielstätte, mit der man gerade verbunden war, und die der Betreiber von Zeit zu Zeit wechselte. [9] Um 1892 existierten in Paris etwa einhundert öffentliche Theatrophone, die eine Auswahl von fünf Spielstätten im Programm hatten. [10]

In den Pausen und anderen Unterbrechungen während einer Vorstellung konnte der Betreiber einen Pianisten engagieren, der „in einem Saal in der Nähe der Firmenzentrale spielt, und da alle Leitungen des Theatrophons mit diesem Musiksaal verzweigt sind, geben alle eingewählten Empfänger die Klaviermusik wieder. Daher kann es also zu keinen Überraschungen oder Unterbrechungen während der Übertragung kommen.“ [11] Später wurden Tonaufnahmen verwendet.

Marcel Proust abonniert sich das Theatrophon.

Die Klangqualität des Theatrophons schwankte. Da die Verstärkerröhren erst rund zwanzig Jahre nach dem Theatrophon erfunden wurden, war es zunächst schwierig, das Signal über die Verstärkungsleistung des Kohlemikrofons hinaus zu verbessern. Dennoch war der Apparat reizvoll für diejenigen, die wie Marcel Proust häufig das Bett hüten mussten. In einem Brief an Georges de Lauris aus dem Jahr 1911 schilderte Proust: „Ich habe mir das Theatrophon abonniert, das ich selten benutze, da man sehr schlecht hört. Doch bei den Wagner-Opern schließlich ergänze ich die Mängel der Akustik, da ich sie nahezu auswendig kenne.“ [12] Bei Debussy verhielt es sich da ganz anders, und Proust erinnerte sich daran, wie er Pelléas et Mélisande über das Gerät hörte: „Allerdings, so wie Mallarmé Ausländer nicht schockiert, weil sie kein Französisch können, so gehen musikalische Häresien, die Sie zusammenzucken lassen, spurlos an mir vorüber, leider ganz besonders am Theatrophon, wo ich irgendwann das Geräusch als angenehm, aber doch ein wenig gestaltlos empfunden habe und dann erst merkte, dass Pause war!“ [13]

Leider finden sich offenbar keine Hinweise auf Kompositionen, die sich diese Art von Verwechslung zunutze machten. Keine Musik wurde für das Theatrophon komponiert, obwohl zumindest in den USA bereits 1891 Jam-Sessions über kommerzielle Telefonleitungen stattfanden: „Der Telefonist in Providence spielt Banjo, der Telefonist in Worcester Mundharmonika, und die anderen singen leise … die Musik klingt so klar, als ob sich alle im selben Raum befänden.“ [14]

Das Theatrophon wurde als Konzept und nicht unbedingt als Produkt des Pariser Unternehmens exportiert. Als der König und die Königin von Portugal 1884 um die Prinzessin von Sachsen trauerten, konnten sie der Premiere einer Oper in Lissabon nicht beiwohnen. Aus diesem Grund installierte ein geschäftstüchtiger Ingenieur der Edison Bell Company auf der Bühne privat ein System aus sechs Mikrofonen und erhielt für seine Mühen einen militärischen Verdienstorden. Es finden sich andere Berichte von Übertragungen in Brüssel, Stockholm, Wien und Frankfurt, ganz zu schweigen von einem misstrauischen Münchener Theaterdirektor, der eine Leitung zu seiner Villa in Tutzing verlegen ließ, um die Vorstellungen überwachen zu können. [15] In Zeitungsartikeln ist die Art der Verbindung nicht immer genau angegeben, wir können jedoch davon ausgehen, dass es sich größtenteils um Mono-Telefonleitungen und nicht um Stereo-Theatrophonleitungen wie bei der Schaltung zwischen Paris und Brüssel handelte, die es der belgischen Königin ermöglichte, 1887 einer Aufführung von Faust zu lauschen. Die Überwindung der Entfernung war noch immer eher eine Schlagzeile wert als die Übertragung von Stereoklängen.

Das einzige System, das sich außerhalb von Paris der Bereitstellung von Stereomusik widmete, war das Londoner Electrophone. Die British National Telephone Company übertrug 1892 Ton aus Birmingham, Manchester und Liverpool auf die International Electrical Exhibition im Crystal Palace in Sydenham, und für drei Pence vor acht Uhr abends und sechs Pence danach konnten die Besucher*innen zehn Minuten lang zuhören. Zwei Jahre darauf wurde die Electrophone Company gegründet, die Abonnements für Theater, Konzerte und Gottesdienste für fünf Pfund pro Jahr anbot – zunächst. Später drückte der Geschäftsführer von Electrophone in Briefen an verschiedene Gentlemen’s Clubs sein Bedauern darüber aus, dass er nunmehr gezwungen sei, für die von dem Unternehmen zur Verfügung gestellten Empfänger eine Mietgebühr zu verlangen. [16] Interessenten konnten am Firmensitz an einer „Hörprobe“ teilnehmen, bevor sie ein Abonnement abschlossen. [17]

Electrophone-Empfänger wurden mit einem Paar „Lorgnette“-Hörmuscheln geliefert, die an einem Bügel befestigt waren, den man sich unter das Kinn hielt, um die Frisur zu schonen und die Arme zu entlasten. Sie waren mit einem manuellen Schalter erhältlich, sodass die Abonnent*innen Telefon und Electrophone über dieselbe Leitung benutzen konnten. Die Programmgestaltung war ähnlich wie in Paris, obwohl dem System in London anscheinend mehr Kirchen angeschlossen waren – 1906 waren 15 Sonntagsgottesdienste empfangbar. [18]

Kirchen waren ein Beispiel für eine fantasievolle, frühe Installation von Mikrofonen, denn sie wurden in Kirchenräumen als störend empfunden. Während in Theatern ein Ring aus schwarzen Zigarrenkisten auf der Bühne akzeptabel war, nahmen Mikrofone in den Kirchen „die Form einer Bibelattrappe an, die natürlich positioniert auf dem Pult der Kanzel oder einem Kissen unter dem Lesepult lag.“ [19] Eine spektakuläre „Bibel“ in der Highbury Quadrant Church war aus schwarzweißem Marmor gefertigt, obwohl ihre absonderlichen Proportionen die Frage aufwerfen, ob sich jemand davon täuschen ließ.

In Delaware spielen Telefonisten auf Wunsch Grammofonplatten ab.

Welcher Beliebtheit erfreuten sich diese Dienstleistungen? Bell Telephone betrieb Ende 1877 3.000 Telefone in den USA, aber das war nichts im Vergleich zur Größe des Telegrafennetzes. Und in einem Artikel des Electrical Review 13 Jahre später hieß es, ein auf dem Broadway aufgestelltes Theatrophon würde „die Öffentlichkeit mit dem Gebrauch des Apparates vertraut machen; vermutlich haben neun Zehntel der Bevölkerung noch nie ein Telefon benutzt.“ [20] Das Londoner Telefonnetz hatte 1885 nur 3.800 Abonnent*innen, von denen die meisten Unternehmen waren. Diese Zahl stieg bis 1903 auf etwa 65.000. Vor diesem Hintergrund waren die 600 Abonnent*innen des Electrophones im Jahr 1906 vernachlässigbar selbst unter der Elite, auch wenn Eduard VII. zu ihnen gezählt werden konnte.

Spannungen zwischen den gesellschaftlichen Schichten wurden heraufbeschworen. In einem Artikel in The Electrical World von 1890 wurde gewarnt vor „der schrecklichen Verwüstung, die das ‚telefonische Pendant eines Leierkastenmannes‘ mit Münzeinwurf anrichten könnte … Welch neuer Schrecken würde den Moloch der Großstadt, die Mietskaserne überkommen, wenn ‚Sweet Violets‘ und andere unappetitliche Lieder zur Essenszeit losgelassen würden.“ [21] Leider sanken die Kosten nie so weit, dass diese Erfindungen zur Essenszeit eingesetzt werden konnten, obwohl ein Foto von 1917 verwundete Veteranen zeigt, die kostenlos in den Genuss des Electrophones kommen, „während sie im Bett liegen“ [22], genau wie der konventionsgebundene Adel, müde Schriftsteller*innen und Gebrechliche. Ein gängiges Thema der frühen Berichte ist die Überwindung von Immobilität. „Wir sehen nun in den Vereinigten Staaten in mehreren sehr weitläufigen Kirchgemeinden, dass die Gläubigen, für die es unmöglich wäre, ein Gotteshaus zu besuchen, dank des Telefons dem Gottesdienst folgen können, ohne das Haus zu verlassen.“ [23]

Mit dem 1909 in Wilmington, Delaware, eingeführten Telmusici-Service kam das modernere US-amerikanische Telefonnetz dem Theatrophon oder Electrophone wahrscheinlich am nächsten. Ein Telefonist spielte auf Wunsch Grammofonplatten ab, und die Abonnent*innen konnten einen Empfänger mit Megafonaufsatz mieten. Der Klang war zwar mono, aber in Restaurants und Hotels wurden Münzapparate mit einer Liste der verfügbaren Platten aufgestellt. Einige glaubten, dass dieses Unterfangen nur in bescheidenem Rahmen umgesetzt wurde, sei Amerikas „unersättlicher Nachrichtengier“ geschuldet [24], doch das Fehlen eines telefonischen Nachrichtendienstes (wie das Telefon Hírmondó in Ungarn im ausgehenden 19. Jahrhundert) lässt anderes vermuten – ebenso wie die finanziellen Schwierigkeiten, mit denen sich ein Impresario zu jener Zeit herumschlug.

Die Qualität von Theatrophon und Electrophone verbesserte sich in den 1920er- und 1930er-Jahren aufgrund der Fortschritte bei den Verstärkern und empfindlicheren Mikrofonen, doch der Hörfunk wurde ihnen zum Verhängnis. 1932, dem Jahr, in dem der Betrieb eingestellt wurde, waren 30 Spielstätten an das Theatrophon angeschlossen, darunter die Pariser Oper, das Théâtre de l’Athénée, das Théâtre les deux Ânes, das Kabarett Moulin de la Chanson, die Concerts Poulet im Salle Pleyel, das Lido, das Café de Paris und die Kathedrale Notre-Dame de Paris, wohingegen das Electrophone 1923, zwei Jahre vor der Auflösung des Unternehmens, 2.000 Abonnent*innen verzeichnen konnte. Nur Mrs. Cooper und Mrs. Hatchcock hielten die Electrophone-Übertragungen in Bournemouth unverdrossen noch bis 1937 aufrecht. [25]

 

Fussnoten

[1] The Repository of Arts, 1. September 1821

[2] Punch, 30. Dezember 1848, Bd. 15, S. 275

[3] Tagebuch von Königin Viktoria

[4] Telephony, Januar 1908, S. 42–45

[5] Scientific American, 31. Dezember 1881, S. 422

[6] Aktienzertifikat des Unternehmens mit den Unterschriften der Firmengründer

[7] Le Monde, 1. Februar 2010. Siehe auch Danièle Laster, „Splendeurs et misères du Théâtrophone“, Romantisme, Nr. 41 (1983), S. 77

[8] Louis Montillot, Téléphone pratique (Paris: A. Grelot, 1893), S. 461

[9] Weitere Informationen über weibliche und männliche Stereotypen in der frühen Telefonie sowie ein umfassenderer Überblick über telefonische Vorläufer von Nachrichtendiensten und anderes finden sich in Carolyn Marvins lesenswertem Buch „When Old Technologies Were New: Thinking About Electric Communication in the Late Nineteenth Century“ (Oxford: Oxford University Press, 1988).

[10] Siehe Scientific American Supplement, 2. Juli 1892

[11] Ebenda. Der 1893 gegründete Budapester Nachrichtendienst Telefon Hírmondó ließ eigens ausgebildete „Stentoren“ (Ansager) alle Viertelstunde aktuelle Meldungen über Telefon vorlesen und bot abends regelmäßig Livemusik-Sendungen an – allerdings ohne Stereoempfänger, und soweit wir wissen, auch nicht die ganze Nacht.

[12] Marcel Proust, Briefe zum Leben, Erster Band (Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch, 1979), S. 346, übersetzt von Uwe Daube

[13] Marcel Proust, Der Briefwechsel mit Reynaldo Hahn (Ditzingen: Reclam, 2018), S. 416, übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer

[14] Boston Evening Record, in: Scientific American, 10. Oktober 1891, S. 225. Auch in: Carolyn Marvin, When Old Technologies Were New, S. 212

[15] Carolyn Marvin, When Old Technologies Were New, S. 209

[16] H. S. J. Booth an den Sekretär des Reform Club, 2. Januar 1903

[17] Living London, Bd. III, hrsg. von George R. Sims (London: Cassell and Company, 1903), S. 115

[18] New Scientist, 23.–30. Dezember 1982, S. 794

[19] The Electrical Engineer, 10. September 1897, S. 343–344

[20] Electrical Review, 5. Juli 1890, S. 4

[21] The Electrical World, 20. September 1890, S. 195, in: Carolyn Marvin, When Old Technologies Were New, S. 81

[22] The Electrical Experimenter, August 1917, S. 230

[23] Scientific American Supplement, 2. Juli 1892

[24] Electrical Review, 5. Juli 1890, S. 4

[25] New Scientist, 23.–30. Dezember 1982

Dieser Text erschien erstmals in der Ausgabe Nr. 50 des Magazins Cabinet. Cabinet erscheint vierteljährlich und wird in Brooklyn, New York herausgegeben. Das Non-profit-Magazin behandelt Kunst- und Kulturthemen und wurde im Jahr 2000 gegründet.

Vielen Dank an das
Cabinet-Team und vielen Dank dem Autor, Lev Bratishenko, dessen Text über eine Begegnung in Potsdam seinen Weg in die Radio-Ausgabe gefunden hat.

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