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Kafka in Indien
Wie übersetzt man „Ungeziefer“?

Ein Feldmaikäfer (Melolontha melolontha) vor hellgrünem Hintergrund in Nordrhein-Westfalen
Feldmaikäfer (Melolontha melolontha) | © mauritius images / Christian Hütter

Der Einfluss von Franz Kafka reicht weit über Europa hinaus. Rosy Singh erzählt uns, wie die Werke des Literaturgiganten nicht nur über seine Zeit, sondern auch über den Entstehungsort hinausgehen, in diesem Fall bis nach Indien. Rosy Singh ist Professorin für deutsche Literatur an der Jawaharlal-Nehru-Universität in New Delhi und befasst sich seit vielen Jahren mit Kafka. In diesem Interview schildert sie Dina Elsayed, welche Herausforderungen sich bei der Übersetzung von Kafkas Werk ergeben, und wie er in Indien aufgenommen wird. Und sie verrät, warum sie Texte liebt, die nur 15 Zeilen lang sind.
 

Von Dina Elsayed

Rosy Singh, wie sind Sie mit Kafka und seinen Werken in Berührung gekommen?

Manchmal geben Zufälle unserem Leben eine neue Wendung. Jemand schlug vor, ich solle Kafka lesen, um möglicherweise ein Thema für meine Dissertation zu finden. Also ging ich in die Bibliothek und begann mit der Lektüre von Kafkas Erzählung Die Verwandlung. Ich war derart fasziniert, dass ich auf der Stelle beschloss, über Kafka zu promovieren. Es war wie Liebe auf den ersten Blick. Heute vermittle ich Kafka meinen Studierenden. Es ist ein fortlaufendes Projekt, würde ich sagen.

Welches seiner Bücher gefällt Ihnen am besten?

Oh, das ist eine knifflige Frage. Ich mag so viele seiner Geschichten. Ich fing mit den längeren an, den Romanfragmenten und Erzählungen. Nach einigen Jahren widmete ich mich dann seinen kürzesten Prosatexten. Kürzer bedeutet weniger als eine halbe oder eine Seite. Und ich stellte fest, dass die Prosaskizzen oder Aphorismen oder wie man sie auch nennen will, sogar noch besser sind. Ich fand sie in ihrer äußerst verknappten Form sehr inspirierend. Gewöhnlich umfassen sie lediglich zehn oder 15 Zeilen. Der plötzliche Spaziergang ist zum Beispiel Genialität in nur 15 Zeilen. Dafür kann ich mich gerade sehr begeistern.

Europa ist sehr weit von Indien entfernt, und doch konnte ich mich mit Kafka sofort identifizieren.

Warum haben Sie sich entschieden, über Kafkas Werke zu promovieren?

Um ehrlich zu sein, empfand ich es damals als mühsam, Literatur zu lesen. Es war harte Arbeit. Aber als ich mich Kafka zuwandte, wurde Literatur plötzlich richtig spannend. Irgendwie konnte ich eine Beziehung zu dem aufbauen, was er schrieb. Die Form interessierte mich, die Worte interessierten mich, die Geschichten. Auch wenn ich nicht viel davon verstand, hatte ich einen Bezug dazu. Da war etwas an der Sprache, an der deutschen Sprache, an seinem Umgang mit Sprache. Obwohl Europa sehr weit von Indien entfernt ist, konnte ich mich mit seinem Werk identifizieren. Es beschreibt Grundlegendes über die menschliche Existenz, es ist nicht wirklich auf eine Kultur zugeschnitten.

Ist Franz Kafka ein geläufiger Name in der indischen Literaturszene?

Ich würde sagen in der Hochkultur, in akademischen Kreisen kennt man ihn, wird er gelesen. Aber das ist natürlich nichts für die breite Masse. Hochgebildete Menschen beschäftigen sich mit deutscher Literatur – sei es Brecht oder Kafka. Bertolt Brecht und Franz Kafka sind Schriftsteller, die über die Grenzen von Österreich und Deutschland hinaus bekannt geworden sind. Das trifft auch auf Indien zu.

Wie übersetzt man bestimmte, sehr kulturspezifische Begriffe?

Lässt sich das Wesen von Kafkas Werk leicht in die zahlreichen offiziellen und inoffiziellen indischen Sprachen übertragen? Oder behindern Sprachbarrieren das Verständnis, worüber Kafka schreibt?

Viele Werke Kafkas wurden auf Grundlage der englischen Ausgabe übersetzt. Es wird quasi eine übersetzte und nicht die ursprüngliche Version für die Übertragung in die indischen Sprachen verwendet. Also ist es eine Übersetzung einer Übersetzung. Und offen gesagt, geht bei jeder Übersetzung etwas verloren. Es gibt Probleme bei Übersetzungen – manchmal fängt das schon bei Kleinigkeiten an. Wie übersetzt man den Titel? Wie übersetzt man bestimmte, sehr kulturspezifische Begriffe und Vorstellungen?

Ich nenne Ihnen ein kleines Beispiel aus Kafkas berühmter Erzählung Die Verwandlung. Auf Englisch heißt sie „Metamorphosis“. Wer durchläuft nun diese Metamorphose? Ein Mensch verwandelt sich in ein Insekt, ein „Ungeziefer“ im deutschen Original. Wie aber übersetzt man „Ungeziefer“ ins Englische? Ist es ein „insect“? Ist es eine „cockroach“ (Schabe)? Oder ein „beetle“ (Käfer)? Wie man damit umgeht, ist ein Dilemma. Ich bin in der glücklichen Lage, Deutsch zu können. Daher kann ich das Original lesen.

Seit Kafkas Tod ist ein Jahrhundert vergangen. Was glauben Sie, worüber er heute schreiben würde?

In dem einen Jahrhundert hat sich die Welt nicht sehr verändert. Noch immer toben Kriege wie zu Kafkas Zeiten. Die Welt ist also eigentlich nach wie vor in einem chaotischen Zustand, und es ist nicht so einfach, sie zu bewohnen. Ich denke, er würde weiterhin über Bürokratie schreiben, über den Fallstrick, zu dem Bürokratie für die Normalbürger*innen geworden ist. Er würde weiterhin über Gerechtigkeit, über Freiheit, über zwischenmenschliche Beziehungen schreiben. Das sind ewige Themen, ewige und zeitlose Motive.

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