Moderne Märchen

Es war einmal ein Märchen von heute – Walter Moers

Auschnitt Buchcover „Wilde Reise durch die Nacht“ von Walter Moers, Goldmann VerlagWalter Moers hat mit dem Kontinent Zamonien eine moderne Märchenwelt geschaffen, die voller Anspielungen ist.

Man kann gut und gerne sagen, Walter Moers hat den ultimativen Märchenort kreiert: den „Dimensionslochraum“. Dort ist man „gleichzeitig an jedem Ort der Erde“ – also überall und nirgendwo und zwar immer zugleich. Typisch Märchen eben: Ihre Handlung ist Zeit und Ort seltsam enthoben. Präziser als „Hinter den sieben Bergen“ wird es selten.

Und das, was deutsche Märchenerzählungen von den Gebrüdern Grimm über Wilhelm Hauff bis E.T.A. Hoffmann prägen, führt der wohl aktuellste deutsche Märchenerzähler fort: Walter Moers, der einst als Comiczeichner begonnen hatte, erschafft seit über einem Jahrzehnt seinen eigenen Kosmos, fast jede seiner Geschichten spielt an einem anderen Zipfel dieser Fantasiewelt. So ist der „Dimensionslochraum“ zwar Idealtypus einer Märchenhandlung, aber letztlich nur ein kleiner Teil des werkumspannenden Moersschen Märchenkosmos namens Zamonien. Die Querverweise zwischen Texten wie Ensel und Krete, Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär oder Der Schrecksenmeister lassen sich kaum alle aufdröseln. Von den Anspielungen auf Märchen anderer Autoren ganz zu schweigen; das Wortspiel mit Hänsel und Gretel gehört da noch zu den deutlichsten Referenzen.

Das Mythennetz von Mythenmetz

„Der Fönig“ von Walter Moers, gelesen von Michael Krowas

Wie konsequent der in Hamburg lebende Moers mit dem Genre Märchen spielt, zeigt sich schon allein an den Scherzen, die er mit seiner Autorenrolle treibt. Der Zusatz der meisten Zamonien-Titel lautet: „Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz“ sowie „Aus dem Zamonischen übertragen von Walter Moers“. Die Urheberschaft schreibt Moers also einem – natürlich fiktiven – Erzähler namens Hildegunst von Mythenmetz zu und suggeriert auf diese Weise eine mündliche Überlieferungstradition. Denn auch das ist typisch für diese Textgattung, waren die Gebrüder Grimm schließlich nur diejenigen, die die kursierenden Geschichten sammelten und festhielten. Die Spielerei mit der Autorschaft und, mehr noch, der Wahrhaftigkeit der Märchen wird von den unzähligen Einschüben in den Texten auf die Spitze getrieben: Mal meldet sich Hildegunst mit Kommentaren zu Wort, mal sind es Lemmata aus dem „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von „Prof. Dr. Abdul Nachtigaller“. Inwieweit jedoch Moers diese anderen Mythennetzstricker vorschiebt, um selbst dahinter zu verschwinden, ist unklar, fest steht nur: Moers selbst meldet sich als Autor fast nie zu Wort; und wenn, dann nur alle paar Jahre in ausschließlich schriftlich geführten Interviews.

Blutschinken neben Süßer Wüste

Buchcover „Die 13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär. Roman“ von Walter Moers, Goldmann VerlagAngefangen hat alles 1999 mit Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär, einer Geschichte, die alsbald als Serie beim WDR-Kinderfernsehen landete und dort seit langem ein Eigenleben entwickelt hat, Moers hat damit nichts mehr zu tun. Und schon hier zeigt das Zamonien-Setting überdeutlich, dass man in einer märchenhaft überfüllten Welt gelandet ist. Oder wie es Moers einmal formulierte: „In der Wirklichkeit gibt es zum Beispiel keine Haifischmaden mit vierzehn Händen, die über fünfhundert Jahre alt werden können. Also muss ich welche erfinden. Einer muss es ja tun.” Zum „Kontinent Zamonien“ mit seiner schwebenden Hauptstadt Atlantis gehören so abstrakte wie anspielungsreiche Orte wie die „Süße Wüste“ genauso wie die „Finsterberge“, der „Große Wald“, Ecken wie „Fröstelgrund“, „Blutschinken“ oder die Bucht „Vielwasser“.

Dass Moers mit Märchenmerkmalen spielt, gehört dazu. Bekanntes bekommt auf einmal Zauberkräfte, und wenn es Tränen sind, die die Fesseln des Helden auflösen. Der Dornröschenschlaf wird bei ihm zum Krankheitszustand namens „Saloppe Katatonie“. In einem Schneewittchen-artigen Abschnitt gibt es in der kleinen Zwergenhütte Klöße. Riesen laufen mit einem fett und groß gedruckten „BA-RUMMS!“ oder „Bromm!“ über die Seiten. Orchideen können sprechen und tragen als Retter die Helden durch die Gegend. Und es gibt Gesetzmäßigkeiten, die sich erfüllen, wie „Hexen stehen immer zwischen Birken“. Ein wiederkehrendes Motiv sind schlaraffenland-ähnliche Zustände, etwa in der „Süßen Wüste“ oder auf der leider bösen „Feinschmeckerinsel“, wo alles Leckere im Überfluss vorhanden ist. Das habe „sicher“ mit „Entbehrungen meiner Kindheit zu tun“, erklärte Moers der österreichischen Tageszeitung „Standard“.

Buchcover „Ensel und Grete. Ein Märchen aus Zamonien“ von Walter Moers, Goldmann Verlag Und natürlich müssen seine Helden Prüfungen bestehen, Rätsel lösen, Wünsche werden erfüllt. So muss der zwölfjährige Knirps Gustave in Wilde Reise durch die Nacht sechs Aufgaben bewältigen, um dem Tod zu entkommen, darunter so traditionell Märchenhaftes wie „eine schöne Jungfrau aus den Klauen eines Drachen“ befreien, die Namen von drei Riesen erraten oder die scheinbar unlösbare Aufforderung, sich selbst zu begegnen. In der Märchensatire Der Fönig treibt Moers dieses Prinzip auf die Spitze der Absurdität. Ein „Männlein“ verspricht, dem König drei Wünsche zu erfüllen, wenn der Folgendes beherzige: „Erstens: Du sprichst für den Rest des Tages nicht nur jedes F wie ein K und jedes K wie ein F, sondern auch jedes B wie ein P, jedes G wie ein K und jedes D wie ein T. Zweitens: Du besorgst es der Königin, wie du es ihr noch nie besorgt hast. Und drittens: Du errätst bis Sonnenuntergang meinen Namen.“ Dass das entstehende Kauderwelsch für Kinder kaum zu entwirren ist, versteht sich von selbst. Überhaupt werden wohl eher Erwachsene diesen Moers-Text zu schätzen wissen, die anderen Märchenbücher werden sich Kindern nur teilweise erschließen können.

Geschichten von Gofid Letterkerl

Buchcover „Die Schreckensmeister“ von Walter Moers, Verlag Piper Das liegt auch an den vielschichtigen Anspielungen. Dass Moers in seinen Büchern Referenzen auf Literaturgrößen einbaut, ist nicht zu übersehen – besonders verehrt er etwa Gottfried Keller: „Ich halte Spiegel, das Kätzchen immer noch für das beste Kunstmärchen in deutscher Sprache“, erklärte er in einem Interview mit der Zeitung Die Welt. Und so wurde Der Schrecksenmeister eine Hommage an den Schriftsteller – Untertitel: „Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien von Gofid Letterkerl“, unschwer als Anagramm von „Gottfried Keller“ zu enttarnen. Und so taucht dort etwa das Städtchen aus Kellers Erzählsammlung Die Leute von Seldwyla in Form der „krankesten Stadt Zamoniens“ Sledwaya wieder auf. Dort lebt Schrecksenmeister Succubius Eißpin und der ist alles, was dieser Neologismus suggeriert – schrecklich, hässlich, ein Hexer eben, dessen Lieblingsbeschäftigung es ist, andere in Essen zu verwandeln, in Lachse, in Steinpilze, in Wildschweine. Die Geschichte mischt die böse Hexe aus Hänsel und Gretel mit den unendlich paradiesischen Genüssen aus Tischlein deck dich: Eißpin will die struppige Kratze Echo mit Gourmetgerichten mästen und dann töten – um mit dem Fett seine alchemistischen Spielereien weiterzutreiben.

Apropos: In Ensel und Krete hat Walter Moers ein ganzes Buch dieser Grimmschen Geschichte gewidmet. Die beiden Kinder sind bei ihm maulende Rotzgören. Sie verlaufen sich, na klar, im „Großen Wald“, statt Brotkrumen legen sie Himbeeren aus, landen am Ende natürlich bei der bösen Hexe. Und dann die Erkenntnis: „Das Haus ist die Hexe. Die Hexe ist das Haus. Und sie hat gerade angefangen, uns zu fressen.“ Aber Moers dreht den Spieß um. Und setzt dem ersten, bösen Schluss der Geschichte einen zweiten glücklicheren entgegen. „Jeder Platz ist besser als dieser“, heißt es am Ende, die Helden leben und ziehen weiter. Und dass auch dieser Satz eine Hommage an ein bekanntes Märchen ist, dürfte bei Moers nicht weiter überraschen.

Die Bücher von Walter Moers:

Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär (1999), Goldmann 2002, 703 Seiten.

Wilde Reise durch die Nacht (2001), Goldmann 2003, 222 Seiten.

Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien (2002), Goldmann 2002.

Rumo und die Wunder im Dunkeln (2003), Piper 2010, 704 Seiten.

Der Fönig. Ein Moerschen, Heyne 2004, 64 Seiten.

Der Schrecksenmeister. Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien von Gofid Letterkerl (2007), Piper 2009, 384 Seiten.

Anne Haeming
lebt und arbeitet als freie Autorin in Berlin.

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März 2012

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