Rechtsterrorismus in Deutschland  Keine Einzeltaten

Ein Denkmal am Olympia Einkaufszentrum München erinnert an den rassistischen Anschlag. Der Edelstahlring mit den Porträts und Namen der neun Todesopfer umschließt einen Gingko Baum.
Ein Denkmal am Olympia Einkaufszentrum München erinnert an den rassistischen Anschlag. Der Edelstahlring mit den Porträts und Namen der neun Todesopfer umschließt einen Gingko Baum. Filmstill: © „Einzeltäter“ | Julian Vogel für ZDF

München, Halle, Hanau – drei rechtsextreme Anschläge haben Deutschland innerhalb weniger Jahre erschüttert. Wie gehen die Angehörigen der Ermordeten damit um, dass ihre Kinder, Freund*innen, Geschwister so abrupt aus dem Leben gerissen wurden? Welche Ventile haben sie für ihre Trauer? Welche Bedeutung hat die politische Motivation der Täter, welche Bedeutung die Vernetzung der Überlebenden? All diesen Fragen geht Julian Vogel in drei Dokumentarfilmen nach, die den Titel „Einzeltäter“ tragen. Ein Interview mit dem Regisseur.

Was hat es mit dem Widerspruch im Titel auf sich? Die Trilogie heißt „Einzeltäter“, aber es ist eben eine Trilogie.

Ich muss zunächst kurz erzählen, wie ich zu dem Projekt kam: Ich habe Ende 2018 einen Fernsehbeitrag gemacht über Tote durch rechte Gewalt, die vom Staat nicht als solche anerkannt werden, und mich in diesem Zusammenhang mit den Morden von München 2016 auseinandergesetzt. Die galten damals nicht offiziell als politisch motivierte Kriminalität. Ich wusste vor dieser Arbeit selbst nicht, dass der Anschlag im Olympia-Einkaufszentrum mehr als nur ein Amoklauf gewesen war. Bei der Familie Segashi [deren 14-jährige Tochter in München ermordet wurde, Anm. d. Red.] habe ich gemerkt, dass das die traurigste Situation ist, die ich jemals miterlebt habe. Das Kind von Menschen, die sich irgendwann mal dazu entschieden hatten, in Deutschland zu leben, wurde ermordet. Und sie wussten noch nicht einmal, warum, sondern mussten jahrelang im Zweifel leben [bis die Behörden das rassistische, rechtsextremistische Motiv offiziell anerkannten, Anm. d. Red.]. Daraufhin habe ich entschieden, dass ich einen richtigen Film machen will, nicht nur einen Fernsehbeitrag.

Der Anschlag in München

Ein 18-Jähriger erschoss am 22. Juli 2016 in und um das Olympia-Einkaufszentrum im Stadtteil Moosach neun Menschen und verletzte fünf weitere. Die Todesopfer waren sieben Muslime, ein Rom und ein Sinto. Zweieinhalb Stunden nach Beginn des Anschlags stellte die Polizei den Täter, woraufhin dieser sich durch einen Kopfschuss selbst tötete. Erst mehr als drei Jahre später stuften die bayerischen Ermittlungsbehörden die Tat als „politisch motiviert“ ein. Zuvor hatte die Tat als Amoklauf gegolten.

Wie ging es weiter?

Ich habe erstmal auf eigene Faust losgelegt, bin oft nach München gefahren, um Kontakte aufzubauen. Und ich habe versucht, eine Finanzierung zu bekommen, was gar nicht so einfach war, weil man diese Geschichte nicht für relevant genug gehalten hat. Das ist bei Dokumentarfilmen oft so: Du recherchierst, aber weißt erstmal nicht, ob du jemals genug Geld dafür bekommst und den Film wirklich zu Ende bringen kannst. Und dann war im Oktober 2019 der Anschlag von Halle.

Was hat das verändert?

Der Anschlag war überall in den Medien. Immer hieß es, der Täter sei ein „Einzeltäter“ wie Anders Breivik [Rechtsterrorist, der 2011 in Norwegen 77 Menschen ermordete, Anm. d. Red.]. Der Täter in München hatte aber ein ganz ähnliches Profil, und er hat den Anschlag am fünften Jahrestag von Breiviks Terroranschlägen, begangen. Aber erst 16 Tage nach dem Anschlag von Halle, drei Jahre und drei Monate nach der Tat, wurden die Morde von München auch als rechte Gewalt eingeordnet, still und heimlich. Kaum jemand hat das mitbekommen. Während ich noch dabei war, diese beiden Fälle zu recherchieren, ist der Anschlag von Hanau passiert, in der Nähe meiner Heimatstadt. Ich bin schnell dorthin gefahren und habe gemerkt: Das, womit ich mich hier befasse, wird immer krasser, und es hängt miteinander zusammen.

Der Anschlag in Hanau

Am Abend des 19. Februar erschoss ein Rechtsextremer neun Menschen und verletzte fünf weitere zum Teil schwer. Die Tatorte in der Hanauer Innenstadt waren gezielt ausgewählt worden als Orte, die besonders von Personen besucht wurden, die für den rassistischen Täter als „Ausländer“ galten. Nach den Morden im Stadtzentrum fuhr der 43-Jährige in die heimische Wohnung, erschoss dort seine Mutter und anschließend sich selbst.

Was hat dich an dem Thema so gereizt, dass du immer weitergemacht hast?

Als ich bei der Familie Segashi saß, hat mich die Trauerarbeit dieser Menschen sehr berührt. Ich bekam das Gefühl: Hier musst du zuhören. Das war ein wichtiger Antrieb. Und gleichzeitig auch das Bedrohungsgefühl für unsere Gesellschaft wegen dem Aufbegehren der Rechten und dieser Gewalt, die auf so vielen Ebenen stattfindet. Ich habe mich auch gefragt, ob die Kameras nicht sehr belastend sind für meine Protagonist*innen. Meine Schwester, die Psychologin ist, hat mir dann von einer Studie erzählt, laut der es politisch Verfolgten durch das chilenische Regime bei der Traumaverarbeitung half, darüber zu reden. Nicht nur das Sprechen an sich, sondern auch das Wissen, dass das einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Mein Antrieb war also nicht nur politisch oder künstlerisch. Es gab da auch eine zwischenmenschliche Ebene.

Was haben die drei „Einzeltäter“ gemeinsam?

München, Halle und Hanau waren natürlich nicht der Beginn von rechter Gewalt in Deutschland, wir hatten die Anschläge in den 1990er Jahren, wir hatten den NSU. Aber dieser Tätertypus, der scheinbare Einzeltäter, der sich im Internet radikalisiert und von den Ermittlungsbehörden, so glaube ich, erstmal nicht ernstgenommen wird, den sah man nicht als eine Bedrohung für unsere Gesellschaft. Vielleicht auch, weil gewisse ideologische Versatzstücke bei einigen Ermittler*innen auf Verständnis gestoßen sind. So habe ich mir das erklärt. Und so kam auch der Titel zustande, der natürlich ironisch ist. Das ZDF war interessiert an einem Film, deswegen konnte ich weiterarbeiten und war viel in den drei Städten unterwegs.

Aus diesem einen Film ist dann eine Trilogie geworden.

Es waren ursprünglich nur 16 Drehtage vorgesehen. Aber das ist unmöglich mit Menschen, die schwer traumatisiert sind, bei denen ich mir Zeit nehmen muss. Ich habe mir eine Kamera und weiteres Equipment gekauft. 16 von rund 50 Drehtagen war ich mit meiner Kamerafrau unterwegs, den Rest habe ich allein gefilmt. Am Ende kamen 100 Stunden Rohmaterial zusammen. Wir haben daraus erstmal drei Rohschnitte gebaut, um irgendwie mit der Menge des Materials klarzukommen. Und schließlich merkten wir: Das sind drei Filme, es ist unmöglich, jede Tat auf 30 Minuten herunterzubrechen und nur einen einzigen daraus zu machen.

Wie hast du genau recherchiert?

Ich bin immer wieder hingereist, was gar nicht so einfach war, es war ja Corona, es gab teilweise eine Ausgangssperre, ich habe manchmal mein Kind im Auto mitgenommen, und bin zwischen meinem Wohnort Berlin und München, Halle und Hanau hin- und hergependelt. Das war eine ganz schöne Fahrerei. In Hanau war ich lange Zeit und habe Gespräche geführt, ohne zu filmen, einfach um die Leute kennenzulernen. In Halle war die größte Skepsis bei den Leuten rund um Kevin [der 20-Jährige wurde im Dönerimbiss in der Nähe der Synagoge, dem eigentlichen Ziel des Täters, ermordet, Anm. d. Red.], weil die politisch nichts zu gewinnen hatten, anders als in Hanau und München. Ich war an Kevins Vater Karsten interessiert, weil ich keine Porträts über die Toten machen wollte, sondern darüber, was den hinterbliebenen Menschen in ihrer Trauerarbeit wichtig ist.

Man kann Hanau und München grob miteinander vergleichen, während die beiden Ermordeten von Halle Zufallsopfer waren.

Kevin gehörte keiner Gruppe an, die in der Ideologie dieser Täter als Gegner wahrgenommen werden. Aber der Attentäter von Halle hat ihn in einem Dönerladen ermordet, weil er dachte, da würde er Muslime treffen. Es gibt eine Aussage von ihm, dass er Jana L. [das zweite Todesopfer von Halle, Anm. d. Red.] ermordet hat, weil sie eine Frau war und Behinderungen hatte und von ihm als „lebensunwert“ angesehen wurde. Insofern sind die beiden wiederum keine reinen Zufallsopfer.

Aber natürlich, es hat eine besondere Dynamik, wenn die Trauer um eine Person mit der politischen Bedeutung ihres Todes vermischt wird. Und das ist in der Form in Halle erstmal nicht passiert. Es war kein politischer Kampf mit Aufklärung über Rassismus und Antisemitismus in Deutschland, der gepaart wird mit der individuellen Trauer. Aber genau dieser Bruch, diese Nicht-Synchronizität dieser zwei Phänomene in Halle, hat mich sehr interessiert. Das hat sich mit der Zeit übrigens verändert: Karsten ist mittlerweile mit anderen Betroffenen vernetzt, er hat Kontakt zur jüdischen Community aufgenommen und zur Opferberatung, und ist dieses Jahr zum ersten Mal zum Jahrestag des Anschlags von München gefahren.

Der Anschlag in Halle (Saale)

Am 9. Oktober 2019, an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, versuchte ein Rechtsextremer mit Waffengewalt in eine Synagoge einzudringen, um dort versammelte Gläubige zu ermorden. Nachdem die Türen der Synagoge den Schüssen und Sprengsätzen standhielten, tötete der 27-Jährige eine Passantin und einen Gast in einem nahegelegenen Döner-Imbiss. Auf seiner Flucht verletzte er zwei weitere Personen. Er wurde am selben Tag gefasst. Im Dezember 2020 wurde der Täter unter anderem wegen zweier Morde und 68 Mordversuchen zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt.

Du hast vorhin gesagt, dass du die Trauerarbeit der Hinterbliebenen begleiten wolltest. Ist das der Grund, warum im Halle-Film niemand aus der jüdischen Community zu Wort kam?

Ja, das ist ein zentraler Grund. Sie kommen schon zu Wort, indirekt, durch das Vorlesen von Gerichtsunterlagen aus dem Off: Mal in indirekter Rede, gelesen von mir, mal direkt, von der Überlebenden Anastassia Pletoukhina, weil ihr Text ein Plädoyer aus der Ich-Perspektive ist und ich es richtig fand, dass sie das auch selbst vorliest. Ganz pragmatisch war es aber so, dass viele der Jüd*innen in Halle in der Sowjetunion groß geworden sind, wo sie verbergen mussten, dass sie jüdisch sind. Sie kamen nach Deutschland, wo sie ebenfalls eher versteckt leben, und dann versucht einer, sie umzubringen. Diese Menschen wollten keine Interviews geben.

Hast du dir Gedanken darüber gemacht, wie das ist, wenn du als Weißdeutscher diese Geschichten erzählst?

Ja, das war immer Thema, auf verschiedene Ebenen. Ich habe mich oft gefragt, ob es gut ist, dass ausgerechnet ich die Geschichten dokumentiere. Doch viele meiner Protagonist*innen wollen nicht, dass nur sie als unmittelbar Betroffene sich damit beschäftigen. Und es ist ja auch nicht nur ihr Problem, sondern geht uns alle an.

Wie hast du es bei den harten Themen geschafft, emotionalen Abstand zu wahren?

Ich brauchte schon Abstand als Selbstschutz, doch in erster Linie sollte man nicht Abstand, sondern Nähe aufbauen. Und gleichzeitig nicht vergessen, dass nicht ich derjenige bin, dem das passiert ist. Aber natürlich hat es mich belastet, sowohl während der Dreharbeiten als auch in der Postproduktion. Ich habe beim Bedienen der Kamera zweimal geweint, das ist mir vorher noch nie passiert.

Was genau möchtest du mit der „Einzeltäter“-Trilogie erreichen?

Mir geht es darum, die Menschlichkeit der Leute, um die sich die Filme drehen, so nahezubringen, dass man sie nicht ignorieren kann. Ich glaube nicht, dass das irgendwelche Rechtsterroristen, die glauben, sie würden einen „Volkswillen“ vollstrecken, abhält. Doch der gesellschaftliche Raum, in dem sich diese Täter bewegen, ist eine wichtige Komponente. In den möchte ich hineinwirken mit meinen Filmen. Rechtsextreme werde ich nicht erreichen, aber andere Leute. Und wichtig ist außerdem, dass die Menschen im Film erzählen können und gehört werden. Wenn ihnen das auf irgendeiner Ebene guttut, ist das viel. Das reicht mir schon fast.
 

Julian Vogel wurde 1985 in Frankfurt am Main geboren. Er studierte an der Filmakademie Baden-Württemberg und ist Regisseur mehrerer Dokumentarfilme. Der Teil Einzeltäter – Hanau wurde mit dem Preis des Lichter Filmfests 2023 ausgezeichnet.

Alle Filme sind in der ZDF-Mediathek abrufbar.

Perspectives_Logo Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

Das könnte auch von Interesse sein

Failed to retrieve recommended articles. Please try again.

Empfehlungen der Redaktion

Failed to retrieve articles. Please try again.

Meistgelesen

Failed to retrieve articles. Please try again.