Amoklauf an der Karlsuniversität  Die Fakultät umarmen

Kerzen vor dem Karolinum nach dem Amoklauf an der Philosophischen Fakultät der Prager Karlsuniversität
Kerzen vor dem Karolinum nach dem Amoklauf an der Philosophischen Fakultät der Prager Karlsuniversität Foto: © Jana Plavec

In der Vorweihnachtszeit wurden wir Zeugen eines furchtbaren Ereignisses an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität, bei dem 14 Menschen ermordet wurden. Über Prag legte sich ein Schatten mörderischer Gewalt, der jegliche Festtags- und Neujahrsfreude dämpfte.

Am Donnerstag, dem 21. Dezember, inmitten von Weihnachtsfeiern, Vorlesungen zum Jahresabschluss und Treffen mit den Lehrenden betrat ein Amokschütze mit einem erschreckenden Arsenal an Waffen und dem Ziel zu morden das historische Gebäude der Karlsuniversität am Jan-Palach-Platz. Der Täter erschoss vierzehn Menschen, weitere fünfundzwanzig verletzte er, bevor er seine widerwärtige Tat mit seinem Selbstmord vollendete. Das Massaker, das als einer der schlimmsten Massenmorde in der Tschechischen Republik gilt, spielte sich an einem für freies Denken und kritische Diskussion bestimmten Ort ab.

Zu solch einer stumpfsinnigen Bösartigkeit könnte es kaum einen größeren Kontrast geben als das Bewusstsein, dass die ermordeten Studentinnen und Studenten, die Akademikerinnen und Akademiker der Geisteswissenschaften Menschen waren, die der Gesellschaft nützlich sein und ihr helfen wollten. Mittelalterliche Musik oder die Kommunikation mit Gehörlosen, tschechische Literatur oder Geschichte waren einige der Fächer, mit denen sich die Opfer beschäftigt hatten. Was könnte es Gegensätzlicheres zu dem gnadenlosen Mörder geben als die Opfer, die ihr Leben dem Nutzen der Gesellschaft verschrieben hatten? Die Welt verlor innerhalb weniger Minuten diese Menschen, die sich mithilfe ihrer geisteswissenschaftlichen Forschungen darum bemüht hatten, genau diese Welt zu verbessern.

Das Gebäude wurde geschlossen, mit Absperrband versehen und für einige Wochen zum Ort der Pietät und der Gebete.

Dieser Tag traumatisierte nicht nur die Studierenden, Akademikerinnen und Akademiker der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversiät, sondern ebenso die Beschäftigten der gegenüberliegenden Galerie Rudolfinum, die die Schießerei vom Fenster aus mit ansehen mussten, und auch die Studierenden der Kunstgewerbeschule Umprum, die ins oberste Geschoss ihrer Hochschule evakuiert wurden, die vorbeifahrenden Straßenbahnfahrer*innen sowie die Passant*innen. Das Leben an der Fakultät verfinsterte sich. Das Gebäude wurde geschlossen, mit Absperrband versehen und für einige Wochen zum Ort der Pietät und der Gebete. Seine Treppenstufen wurden von einem Meer aus Kerzen geflutet, die an diesem plötzlich so dunklen Ort Massen von Menschen für die Seelen der Getöteten entzündeten.

Die Fakultät umarmen Auf dem linken Notizzettel steht auf Tschechisch: „Bitte vergebt uns, dass wir es nicht geschafft haben, euch zu beschützen. Ihr werdet für immer in unseren Herzen sein. In Liebe, Eure Kollegin... Ich weiß nicht, wie ich im Januar wieder an die Fakultät zurückkehren kann.“ | Foto © Jana Plavec In den Medien waren Stimmen zu hören, die darauf hinwiesen, wie schwierig die Rückkehr in das Gebäude sein würde, und mit der Zeit und dem Beginn des neuen akademischen Jahres zeigte sich, dass die akademische Gemeinschaft sich zu diesem Thema positionieren musste. Man begann, von einem Ritual oder einem performativen Akt zu sprechen, der dabei helfen könnte, sich wieder aufzurichten, weiterzumachen und zu verhindern, dass die Tat in jedweder Form die Bedeutung des Ortes, der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität, bestimmt. Schließlich kamen Studierendengruppen mit einem gemeinsamen Brief: „Wir zeigen der Welt, dass der Hass nicht siegen wird und wir entschlossen sind weiterzuleben und zu studieren. Wir werden nicht ignorieren, dass diese Tragödie passiert ist, ganz im Gegenteil. Unsere Reaktion darauf tragen wir stolz vor uns her wie eine Fackel und zeigen, dass wir stärker sind!“ Mit diesem Text luden die Studierenden der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität zum Treffen Nám, Všem: pietní průvod a symbolické objetí Fildy (Für Uns, Für Alle: Pietätsmarsch und symbolische Umarmung der Philfak), das sie als gemeinsame Würdigung des Andenkens an die Opfer und Ausdruck der Gemeinsamkeit und der Solidarität organisierten.

Wie Freundinnen und Freunde hielten sie, eigentlich völlig fremde Menschen, einander an der Hand, und teilten in den zwanzig Minuten der körperlichen Verbindung sehr starke Emotionen.

Die Weise, in der die Gemeinschaft der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in der Lage war, sich zu mobilisieren und mit diesem hoch traumatisierenden Ereignis auseinanderzusetzen, war bewundernswert und bestätigte, wie wichtig die Geisteswissenschaften für die heutige Gesellschaft sind. Die Effektivität der Kommunikation mit den Journalisten oder der Öffentlichkeit, die vom Institut für Psychologie bereitgestellte praktisch-psychologische Unterstützung für die Studierenden und Mitarbeitenden der Fakultät oder auch der unaufdringliche und geschmackvolle Pietätsmarsch waren sicher dadurch bedingt, dass es sich hierbei um den Teil der akademischen Gemeinschaft handelte, der mittels seiner fachlichen Expertise in der Lage ist zu erkennen, was wir in diesem Moment als menschliche Wesen am meisten brauchen.

Auch wenn unter den Religionswissenschaftler*innen, Soziolog*innen, Psycholog*innen oder Philosoph*innen auch über Sinn und Verständnis eines Gedenkrituals gestritten wurde, so nahmen doch schließlich an einem sehr zivilen performativen Akt in Form einer Menschenkette als einer symbolischen Umarmung des Fakultätsgebäudes, nicht nur die Mitglieder der akademischen Gemeinschaft, sondern auch Menschen aus der breiteren Öffentlichkeit teil, die das Bedürfnis verspürten, ihre Solidarität auszudrücken. Wie Freundinnen und Freunde hielten sie, eigentlich völlig fremde Menschen, einander an der Hand, und teilten in den zwanzig Minuten der körperlichen Verbindung sehr starke Emotionen. Einige schwiegen, andere lachten, weinten oder redeten miteinander. Jeder gab seiner Auseinandersetzung mit dieser Situation auf seine Weise Raum.
  Es folgte das symbolische Entfachen des ewigen Feuers und der Chor der Philosophischen Fakultät sang einige Choräle, darunter das Taizé-Lied Im Dunkel unsrer Nacht, entzünde das Feuer, das niemals verlöscht. Für mich persönlich war die Teilnahme an so einem Ritual erneuernd und heilsam. Rituale helfen im Fluss der Zeit und bei der Reflexion. An der einen Hand hielt ich einen Freund, der bei dem Amoklauf einen Studenten verloren hatte, an der anderen eine Freundin, die einen Urlaubstag nahm, um kommen und ihre Solidarität ausdrücken zu können. Zu einem Teil der Menschenkette geworden, blickte ich mich um und fühlte eine starke Verbundenheit mit allen Studierenden, Akademikerinnen und Akademikern, die dort standen und verletzt waren bis in die Tiefen ihrer Seele. Ich dachte auch an die ganze Zerbrechlichkeit der akademischen Gemeinschaft, die so leicht bedroht, unterfinanziert und zu wenig wertgeschätzt ist.

In den sozialen Netzwerken wurden auch aus dem Zusammenhang gerissene Zitate aus Diplomarbeiten verbreitet, die an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität verfasst wurden, und verhöhnenden und abstoßenden Anmerkungen kommentiert.

Umso mehr stießen mich Kommentare ab, die gleich darauf öffentlich aufkamen. Obwohl die Mehrheit der Gesellschaft Worte der Unterstützung wählte, sei es durch ihre bloße Teilnahme, durch ehrenamtliche Arbeit oder, indem sie für die Familien der Opfer sammelten, machten sich öffentlich bekannte Personen bemerkbar, die nicht nur das Vorgehen der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in der ganzen Sache anzweifelten, wie etwa die Konzentration auf die psychologische Unterstützung, sondern auch den rituellen Akt der „Umarmung der Fakultät“ als „irrationalen Ausdruck der Verzweiflung“ bezeichneten; einige griffen gar die Fakultät als solche an („Eine derart entgleiste Welt ist eine Brutstätte für entgleiste Individuen aller Art“). Der Abgeordnete Jiří Kobza der rechtspopulistischen Partei SPD bezeichnete den Amokschützen als „Produkt des inklusiven progressivistischen Schulsystems“. Diese Äußerungen wurden von Verbreiter*innen von Desinformationen und extremistischem Gedankengut übernommen und um noch hasserfülltere Kommentare ergänzt. In den sozialen Netzwerken wurden auch aus dem Zusammenhang gerissene Zitate aus Diplomarbeiten verbreitet, die an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität verfasst wurden, und verhöhnenden und abstoßenden Anmerkungen kommentiert.
  Schon lange irritiert mich die Notwendigkeit, die Geisteswissenschaften rechtfertigen zu müssen, sei es hinsichtlich ihrer Unterfinanzierung gegenüber anderen Forschungsbereichen oder schlichtweg gegenüber einem ignoranten Teil der Gesellschaft. Es ist jedoch faszinierend, dass selbst im fragilsten Moment das Symbol der Geisteswissenschaften zum Objekt solchen Hasses werden kann. Der Grund dafür ist offenkundig. Denn der Angriff auf die humanistischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellt einen Angriff auf die Demokratie selbst dar. Die demokratische Gesellschaft braucht schon aus Prinzip die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Vertreter von Strömungen, die unsere Gesellschaft zu destabilisieren trachten, sich diese Disziplinen zur Zielscheibe machen. Der Nutzen der Geisteswissenschaften ist weder mess- noch greifbar, wie es etwa in den Bereichen Technologie oder IT ist, die in der westlichen Zivilisation bevorzugt werden. Ihre Bedeutung zeigt sich erst in Krisen wie der vom 21. Dezember, also in einer Situation, in der die Gesellschaft sich selbst verstehen und Antworten finden muss auf Fragen, was zu tun ist und warum.

Wer sonst hilft dabei, die richtigen Worte und Gedanken in der Kommunikation mit den Hinterbliebenen und der erschütterten Studierendenschaft zu finden als Linguist*innen und Philosoph*innen?

Dass die Gesellschaft die Geisteswissenschaften braucht, hat sich gerade in den letzten Tagen gezeigt. Wer sonst könnte den traumatisierten Überlebenden Hilfe leisten als die Absolvent*innen der Psychologie? Wer sonst hilft dabei, die richtigen Worte und Gedanken in der Kommunikation mit den Hinterbliebenen und der erschütterten Studierendenschaft zu finden als Linguist*innen und Philosoph*innen? Wer sonst ist in der Lage, Pressekonferenzen für Gehörlose zu dolmetschen als eben die Absolvent*innen des Instituts für Sprachen und Kommunikation Gehörloser, wer sonst übersetzt sie für ausländische Medien als die Anglist*innen oder Germanist*innen? Die Choräle, die während des pietätischen Akts erklangen, wären uns nicht bekannt ohne die Kenntnisse der Musikwissenschaft, und nicht zuletzt würden wir den Auszug aus dem Gedicht Paul Valérys, den die Dekanin der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in ihrer Rede an die Studierendenschaft vortrug, nicht kennen ohne das Studium der Poesie und der Literatur.

In der Menschenkette habe ich nicht nur die Seelen der Opfer umarmt, sondern auch die der geisteswissenschaftlichen akademischen Gemeinschaft, denn ihr Weg ist und wird in der sich technologisch entwickelnden Welt immer steiniger. So soll eines der Vermächtnisse dieser Tragödie auch das Bewusstsein dafür sein, wie sehr wir die Geisteswissenschaften brauchen, wenn die perfekt technologisierte Welt einmal vor unseren Augen zusammengebrochen sein wird und wir wieder vor den grundlegenden Fragen der Menschlichkeit stehen.

Perspectives_Logo Dieser Artikel erschien zuerst in der slowakischen Monatszeitschrift Kapitál, einer unserer Medienpartner für PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

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