Sie hören Radio Stalin
Sie wollten gute Musik und brachten ein Stück Pressefreiheit an die Moldau. Das erste unabhängige Radio der Tschechoslowakei sendete aus den Überresten der größten Stalin-Statue der Welt.
Es war der 19. September 1990. Prag schwelgte noch in der Nachwende-Euphorie als aus der vergessenen Unterwelt des Letná-Berges eine pathetische Stimme ertönte, auf Russisch: „Sie hören Radio Stalin!“
Nur die Musik passte nicht so ganz. 90er-Jahre-Synthie-Gedudel, tschechoslowakischer Underground, alles was die DJs und ihre Hörer gerade so in die modrigen Katakomben trugen. Nein, die Radiomacher um Lenka Wienerová machten keine Propaganda für die sozialistische Konter-Konter-Revolution. Radio Stalin war die erste unabhängige Hörfunkstation in der ČSFR. Der Piraten-Sender hatte sich im Luftschutzbunker unter den Überresten der größten Stalin-Statue der Welt eingenistet.
„Der Name war natürlich eine Provokation“, sagt Lenka 22 Jahre später und blickt auf die Moldau herab, die sich noch immer silbern vor der Altstadt kräuselt. „Wir wollten darauf hinweisen, dass der Geist des Kommunismus sich nicht einfach in Luft auflöst, schon gar nicht so lange es keine freien Sender gab.“
Maruškas große StundeWas die Leute von Radio Stalin aber vor allem wollten, war gute Musik hören. Lenka war mit ihren damals 25 Jahren Musikredakteurin bei der einzigen Hörfunkanstalt des Landes, dem Tschechoslowakischen Rundfunk. Vom musikalischen Einheitsbrei hatte sie die Nase voll. Dann wurde Maruška aus Paris herangekarrt. Maruška war der Kosename für den Sendeapparat von Radio Stalin, ein Geschenk aus Frankreich. Das Hörfunkgesetz kannte keine Privatsender und so konnte auch niemand Frequenzen vergeben.
Als sich im Herbst 1990 die Kunstschau „Totalitäre Zone“ im Bunker unter dem Sommerberg breit machte, schlug Maruškas große Stunde. Nicht nur für Lenka war die internationale Ausstellung eine Offenbarung. „Die Rauminstallationen hatten eine einmalige Magie“, sagt sie und fischt in ihrem Gedächtnis: Ein gigantischer Totenkopf von David Černý, gespickt mit weißen Plastiklöffeln, eine Londoner Telefonzelle, die in allen Sprachen der Welt mit den Besuchern plauderte, ein saftiges Büschel Gras, das dank der tropfenden Decke in den düsteren Katakomben sprießte.
„Ich bin nicht der richtige, um eine umfassende Bewertung [der Ausstellung] vorzubringen. Vor allem bin ich fasziniert von diesen absurden Räumlichkeiten hier, von denen ich natürlich nicht wusste, dass sie überhaupt existieren. Jahrelang wurde gemunkelt, dass unter dem ehemaligen Stalinsockel ein Lager für Kartoffeln sei. Jetzt bin ich hier zum ersten Mal und staune einfach, was das hier für absurde, geheime und auf ihre Art schöne Räume sind. Wenn dies das erste Mal ist, dass sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, erscheint mir das die passendste Form. Natürlich konnte ich mir nicht alles ansehen. Aber hier spielt eine Rockband, es ist hier eine Art volksnahe Kneipe, es sind hier viele Kunstobjekte. Das ist so eine Underground-Pop-Art mit Bezug auf das Thema Totalitarismus. Mir scheint, dass das für diese Räume die wirklich geeignetste Vernissage ist.“
Nach Sonnenuntergang verwandelte sich die Ausstellung in einen Club. Legendäre Bands wie Psí vojáci oder Jasná páka spielten. Mit Blick auf das nächtliche Lichtermeer im Moldautal feierte die alternative Szene der Tschechoslowakei ihre Auferstehung. Radio Stalin übertrug das Spektakel live in die Wohnzimmer von bis zu 250.000 Zuhörern, illegal auf der Frequenz 92,6.
Lenka rannte in den schimmeligen Hallen hin und her, auf der Suche nach Interviewpartnern. Auch Václav Havel und seine Bodyguards führte sie in das improvisierte Studio. „Ich staune über diese absurden, geheimen, auf ihre Art schönen Räumlichkeiten“, formulierte der Präsidenten, unterbrochen durch seine typischen Verlegenheitslaute, seine Eindrücke.
Sieben Jahre EwigkeitEinen symbolträchtigeren Standort hätten sich die Piraten nicht wünschen können. 1949 beschloss Arbeiterpräsident Klement Gottwald hier die größte Stalin-Statue der Welt zu errichten. „Für die Ewigkeit“ sollte der 30 Meter hohe Generalissimus über die Stadt wachen.
Das Projekt war derart überdimensioniert, dass bis zur Einweihung am 1. Mai 1955 sechs Jahre über den Letná zogen. Gottwald war bereits tot. Stalin auch. Otakar Švec, der Autor der monströsen Statue, wurde drei Monate vor den Feierlichkeiten tot auf dem Boden seiner Küche aufgefunden. Neben ihm eine leere Packung Schlaftabletten, der Gashahn offen.
Die Ewigkeit dauerte sieben Jahre. Nur wenige Monate nach der Einweihung der Statue kam der 20. Parteitag der KPdSU. Nikita Chruschtschow sprach in seiner „Geheimrede“ zum ersten Mal von Stalins Gräueltaten. Die Abkehr vom Personenkult wurde Programm.
Sechs Jahre später wurde der Abrisse des Prager Granit-Stalins beschlossen, die Arbeiten dauerten Monate. Drei heftige Explosionen erschütterten im Herbst 1962 den Letná-Berg. Anfang November, pünktlich zur alljährlichen Feier der Oktoberrevolution, war der Spuk vorbei. Die peinliche Episode wurde vom Politbüro einfach totgeschwiegen: Die größte Stalin-Statue der Welt hat es nie gegeben.
Ohne Sponsoren steht die Zeit stillFast. „Zum Skaten ist das hier der beste Ort in ganz Europa“, sagt Milan atemlos. Er wischt sich eine blonde Strähne von der verschwitzten Stirn, stößt sich mit dem Fuß vom Granitboden ab und gleitet auf eine Stufe zu. Einzelne Blöcke wurden aus dem Stalin-Podest herausgelöst und zu Hindernissen aufgestapelt. Skateboarder, Jugendliche, Pärchen: sie alle verabreden sich bis heute „am Stalin“. Der blanke Sockel, von dem aus einst einer der größten Massenmörder der Geschichte die Stadt im Blick hatte, bietet heute Verliebten und Touristen eine atemberaubenden Aussicht auf tausend Türmchen.
Um die Ausmaße des Bunkerkomplexes, der beim Bau der Statue angelegt wurde, ranken sich Legenden. In den 1970ern und 1980ern wurde die Luftschutzanlage zum Kartoffelbunker degradiert. Der dumpfe Gestank der riesigen Hallen hängt Lenka bis heute in der Nase.
Nachdem Radio Stalin eine Woche aus der „Totalitären Zone“ gesendet hatte, wurde Maruška von der Polizei beschlagnahmt. Den Piraten drohten drakonische Geldstrafen. 30.000 Bürger stellten sich damals hinter die jungen Radiomacher und forderten die Zerschlagung des Rundfunk-Monopols. Aus Radio Stalin wurde der erste private Sender der Republik, den Lenka bis heute leitet, Radio 1.
„Eigentlich hat sich nichts geändert. Wir machen immer noch Radio und spielen Musik, die uns gefällt“, sagt sie und blickt am steinernen Sockel empor, auf dem heute ein riesiges Metronom thront. Sein roter Zeiger schwingt seit 1991 hin und her und soll die Bewohner der Hauptstadt daran erinnern, dass ihnen die Zeit unweigerlich davon rennt. Nur wird der Taktzähler mit Strom aus Sponsorengeldern gespeist. Wenn diese versiegen, steht die Zeit manchmal für Wochen still.