Leben

Der Vegetarier, das Fabelwesen

Foto: © Jana PecikiewiczFoto: © Jana Pecikiewicz
Der unwiderstehliche Duft nach Curry weht noch eine Straßenecke weiter in die Nase. Foto: © Jana Pecikiewicz

Wer das „satyr“ betritt, findet sich in einer grünen Oase mitten in Plzeň wieder. Grün ist das Bistro nicht nur wegen des grasfarbenen Schildes über dem Eingang, sondern auch des Essens wegen, dessen unwiderstehlichen Duft nach Curry man noch eine Straßenecke weiter in der Nase hat. Denn im „satyr“ gibt es Grünzeug, es wird ausschließlich vegetarisch gekocht. Was zwischen Flensburg und Rosenheim in beinahe jeder Fußgängerzone zu finden ist, ist in Tschechien noch lange nicht „Mainstream“. Nur zwei Bistros dieser Art gibt es in Plzeň – immerhin die viertgrößte Stadt des Landes. Das Klischee der Bierstadt, in der gerne typisch böhmisch und damit deftig gegessen wird, scheint der Wirklichkeit ziemlich nahe zu sein.

Das bestätigt auch Jan Ženíšek, Besitzer des „satyr“: „Ich merke nicht, dass die Zahl der Vegetarier steigt. In Prag mag das vielleicht der Fall sein, aber nicht in Plzeň“, sagt er mit einem Schulterzucken. Janina, seine Geschäftspartnerin, teilt diese Einschätzung. „In Tschechien gelten Vegetarier immer noch als komisch“, ergänzt sie mit einem Lachen und schneidet selbstgebackenen Möhrenkuchen nach.

Dabei gibt es in der böhmischen Küche durchaus fleischlose Gerichte. Als erstes fallen den beiden Obstknödel ein oder ein Gericht aus Graupen mit Pilzen. Im „satyr“ wird aber auch mit den Rezepten klassischer Fleischgerichte experimentiert. „Wenn man Braten durch Tofu oder Seitan ersetzt, hat man schnell ein fleischloses Gericht“, erklärt Jan. Beim ersten Mal sind die Kunden oft misstrauisch. „Ein älterer Herr schaute einmal total lange unschlüssig auf ein Seitan-Gulasch. Nachdem er ein bisschen probiert hatte, war er so begeistert, dass er gleich eine eigene Portion bestellte“, erzählt Jan lachend.

Foto: © Jana Pecikiewicz
Jan und Janina betreiben gemeinsam das boomende Veggie-Bistro. Foto: © Jana Pecikiewicz

Gerichte mit Fleischersatz sind die Bestseller im „satyr“, allen voran der Seitan-Kebab. „Viele ältere Menschen, die bei uns essen, möchten sich gesünder ernähren“, erklärt Janina. Vegetarismus ist also nicht der Hauptgrund, ein vegetarisches Bistro besuchen. „ Ich schätze, dass etwa 70 Prozent unserer Kunden eigentlich auch Fleisch essen“, sagt Jan und zählt sich selbst dazu. Nach zwei Jahren hat er selbst das Vegetarierdasein aufgegeben und isst ab und zu auch mal gerne Fleisch. Trotzdem schätzt er die vegetarische Küche allgemein als vielseitiger ein. Eine andere Erklärung für den Boom des Bistros hat Janina parat: „Die meisten Leute kommen in der Mittagspause und wollen nicht so schwer essen, wenn Sie danach wieder im Büro arbeiten müssen.“

Die beiden überlegen nun, den Mittagsbetrieb auch auf die Abende auszudehnen. „In Plzeň hast du es als Vegetarier wirklich schwer, dich in einem normalen Restaurant satt zu essen und als Veganer ist das eigentlich nicht möglich“, kritisiert Jan. „Vegetarier bekommen im Restaurant gebratenen Käse, gebratenen Brokkoli und tiefgefrorenes Gemüse mit Käse. Die einzige Alternative sind indische oder vietnamesische Restaurants, dort gibt es viele fleischlose Gerichte.“ Diese Inspiration riecht man schon beim Hereinkommen und so klingen auch die Gerichte auf der Speisekarte nicht immer mitteleuropäisch. Gemacht wird im Bistro trotzdem alles selbst, von der Melonen-Limonade bis zum Hummus, über dessen Namen sich immer noch viele Gäste lustig machen. Bis sie die Kichererbsen-Sesam-Paste probieren… und wiederkommen.

Foto: © Jana Pecikiewicz
Das „satyr“ ist längst eine feste gastronomische Größe in Plzeň. Foto: © Jana Pecikiewicz

„Zehn Jahre lang habe ich davon geträumt ein Restaurant zu eröffnen“, erklärt Jan. Der Name satyr kam ihm bei der Lektüre eines Buches, in dem ein solches Fabelwesen vorkam. „Die Figur war ein totaler Genussmensch“, schmunzelt Jan. Und auch wenn viele seiner Nachbarn nie einen Fuß über die Schwelle setzen würden, da sie fleischloses Essen nicht als vollwertige Nahrung betrachten, ist das Bistro längst eine feste gastronomische Größe in Plzeň.

Jana Pecikiewicz

Copyright: Goethe-Institut Prag
August 2013

    Weitere Beiträge zum Thema

    Darf ein Veganer lachen?
    Es heißt, Veganer wollten der Menschheit jegliche Freude verbieten und spuckten Leuten bei McDonalds ins Essen. Gibt es also überhaupt einen veganen Humor?

    Vegan leben ohne Verzicht
    Die Liste der Lebensmittel, die Veganer nicht essen, ist lang. Dass sie sich aber nicht nur von Zucchini und Reis ernähren, zeigt eine Einkaufstour mit einer Prager Veganerin.

    Ab morgen ohne Fleisch
    Vegetarier werden ist einfach, einer bleiben schon ein bisschen schwieriger. Was bringt einen Menschen zum Vegetarismus und worin bestehen dann seine ersten Schritte?

    Heute gibt’s mal flexitarisch!
    Der Dalai Lama ist Flexitarier. Und wohl auch eine ganze Menge ernährungsbewusster Menschen, die gar nicht wissen, dass es für ihre Lebensweise einen Namen gibt.

    Der Vegetarier, das Fabelwesen
    Vegetarier haben es schwer in Plzeň. Nur zwei Bistros in der immerhin viertgrößten tschechischen Stadt bieten ausschließlich fleischlose Kost an. Eines davon ist das „satyr“.

    Eine Hausschlachtung in Tschechien
    Mindestens einmal pro Jahr schafft es ein Thema in die tschechischen Schlagzeilen: Hausschlachtungen. Dann nämlich, wenn Brüssel angeblich wieder mal etwas verboten hat.

    Schaumzikade statt Schweinefilet
    Entomophagie, der Verzehr von Insekten: In Mitteleuropa vergeht den meisten schon beim Gedanken daran der Appetit. Nicht so Kai Sackmann.

    Vegane Speisen im Mittelalterflair
    Ein verwinkeltes Gewölbe, ein „Schankweib“ hinter der Theke, Tonkrüge und Zinnbesteck... Mitten in einer norddeutschen Kleinstadt lebt ein Stückchen Mittelalter.

    Themen auf jádu

    Gemischtes Doppel | V4

    Vier Kolumnisten aus der Slowakei, Tschechien, Polen und Ungarn schreiben über die Bedeutung Europas, Rechtspopulismus, nationale Souveränität, gesellschaftlichen Wandel, die Arroganz des westlichen Blicks – und brechen damit staatliche und gedankliche Grenzen auf. Mehr...

    Heute ist Morgen
    Oder ist es umgekehrt?! Und war nicht auch gestern schon mal Morgen? In was für einer Welt wollen wir gerne leben? Und wie lange wollen wir warten, bis sie Wirklichkeit wird? Mehr...

    Im Auge des Betrachters
    … liegt die Schönheit. Da liegt aber auch die Hässlichkeit – und alles dazwischen. Als Betrachter sind wir jedoch nur selten allein. Und als Betrachtete sowieso nicht. Mehr...

    Dazugehören
    Seit gesellschaftliche Akteure jeder Couleur ihre Forderung nach Integration einem Mantra gleich herunterbeten, gerät viel zu oft in Vergessenheit, dass Integration ein individueller Prozess ist, der auch von uns selbst etwas verlangt. Mehr...

    Themenarchiv
    Ältere jádu-Schwerpunkte findest du im Themenarchiv. Mehr...