Leben

Nach der Wende in die Welt

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Eva Mahrová in Tansania... Foto: © privat

Man kann in seinem Leben viele Wege gehen. Die Samtene Revolution und die damit erlangte Reisefreiheit stellten auch Eva Mahrová vor neue Wahlmöglichkeiten. Sie wurde Reiseführerin und reiste nach Fernost. Die buddhistische Weltanschauung veränderte ihr Leben von Grund auf.

Nach der Samtenen Revolution wollte sie zuersteinmal reisen. „Damals herrschte eine allgemeine Aufbruchsstimmung, in der jeder so viel Besitz wie möglich anhäufen wollte, und ich war dabei. Wir bauten Häuser, vermieteten Wohnungen, kauften Immobilien und Swimming-Pools, am besten mit Gegenstromanlage. Ich war dumm wie alle anderen und auf der Jagd nach Geld,“ erinnert sich die heute 63-jährige Eva Mahrová an die Zeit nach 1989.

Den persönlichen Wendepunkt erlebte sie nach einem Aufenthalt als Reiseführerin in der so andersartigen Welt des Fernen Ostens: „Da sitzen zwei arme Leute auf der Straße, sie kaufen sich zwei Kekse. Ein Hund läuft vorbei, sie brechen ein Stück vom Keks ab und geben es dem Hund, ein zweites geben sie einem kleinen Kind, das angelaufen kommt. Erst dann essen sie selbst den Rest.“ Nachdem sie sechs Jahre in buddhistisch geprägten Gegenden gearbeitet hatte, begann sich Eva für die dortige Lebensphilosophie zu interessieren. Sie verglich deren Werte mit denen der materiellen Weltanschauung. Und sie begann sich zu fragen: „Warum hält man es in diesen Ländern für selbstverständlich, dass man sich gegenseitig hilft? Dass man sich zum Beispiel um die Großmutter kümmert?“

Das strenge Klosterleben

Mit der Zeit war Eva immer häufiger in diesen Ländern unterwegs. Bald verbrachte sie 14 Tage zu Hause und zwei Monate auf Reisen, wo sie sich immer wohler fühlte. Schließlich wurde ihr bewusst, dass sie eigentlich gar nicht viel Geld benötigte, und sie krempelte ihr Leben völlig um. Mönche, die sie auf ihren Reisen kennengelernt hatte, verhalfen ihr zu einem Aufenthalt in einem buddhistischen Kloster auf Sri Lanka. Da sie damals schon ein wenig singhalesisch sprach, konnte sie sich mit den Mönchen verständigen. Weil laut der Numerologie die Neun ihre Lebenszahl ist, entschied sie sich, zunächst für neun Tage zu bleiben. „Aber ich hatte Angst. Man schlief dort auf der bloßen Erde. Ich musste das traditionelle Gewand tragen und mir den Kopf kahl rasieren und durfte ausschließlich gespendete Nahrung zu mir nehmen. Um vier Uhr morgens stand man auf für den Pindapáta, bei dem man barfuß und mit der Bettelschale in der Hand an fremden Türen um Speisen bittet. Man darf nur vormittags essen. Ich war mir nicht sicher, ob ich das überhaupt durchstehen würde,“ erinnert sich Eva Mahrová.

Als Eva die neun Tage durchgehalten hatte, bekam sie das weiße Gewand. Hätte sie das Orangene bekommen und es am Ende abgelegt, wäre eine spätere Rückkehr ins Kloster unmöglich gewesen. „Damit haben mir die Mönche die Möglichkeit gegeben, jederzeit zurückzukommen. Außerdem musste ich mir so nicht den Schädel rasieren. Als ich dann die neun Tage absolviert hatte, habe ich mir gesagt: mach dir nicht in die Hose und halt 18 Tage durch! Am Ende waren es 27. Zum Abschied habe ich ihnen ein weißes Stück Baumwollstoff dagelassen. Darauf hatte ich auf singhalesisch die Worte mama aimat enua geschrieben. Das bedeutet: Ich komme sowieso wieder.“ Der Aufenthalt im Kloster war für Eva von großer Bedeutung. Die einfache Nahrung tat ihr gut, und gleichzeitig lernte sie, demütig zu sein.

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... in einem Waisenhaus auf Sri Lanka... Foto: © privat

„Nachdem ich aus dem Kloster in unsere graue, materialistische Welt zurückkehrt war, entschied ich mich, meinen Lebensstil zu ändern. Ich ging zurück nach Sri Lanka in ein Waisenhaus, als Englischlehrerin. Anfangs mochten mich die Mädchen nicht sehr, weil sie gar kein Englisch lernen wollten. Aber als sie mein lustiges Singhalesisch hörten, begannen sie mich zu mögen und brachten mir immer mehr Wörter bei. Vor meiner Abreise habe ich sie gefragt: ‚Was soll ich euch beim nächsten Mal mitbringen?‘. Sie haben mir geantwortet: ‚Nimm deine Stimme für uns auf.‘ Alle brachten mir ihre sorgfältig zusammengelegten Hemden und baten mich, sie mit meinem Parfüm zu besprühen. In diesem Moment habe ich erkannt, dass es mir nicht wehtut, einmal im Jahr mindestens einen Monat dafür zu opfern, um anderen zu helfen.“ Seit dem Jahr 2002 verbringt Eva also regelmäßig Zeit in Waisenhäusern. Und immer bringt sie aus Europa Spielzeug mit, das ihre Bekannten für sie sammeln. „Die Kinder freuen sich über alles, über jeden Lutscher. Ich bringe also immer 40 Kilo Geschenke mit und spare bei meinen Kleidungsstücken, um das Gewicht gering zu halten.“ Einige Airlines erlauben Eva jedoch, das Limit um ein paar Kilogramm zu überschreiten.

Der beschwerliche Weg in die Freiheit

Auch die Auswirkungen des Tsunamis im Jahr 2004 führten Eva nach Sri Lanka. Es kam zwar Hilfe aus vielen Ländern, aber bald brach wieder der Krieg aus, der bis 2009 dauern sollte. „Alles, was sie mit Hilfe der anderen Länder aufgebaut hatten, wurde wieder zerstört“, beschreibt Eva. Nach dem Tsunami blieben auch viele Waisen und alte Menschen allein zurück, um die sich keiner kümmerte. „In einem Altersheim wohnen 16 Frauen und 16 Männer in nur zwei Zimmern. Jeder hatte ein Bett, eine Matte und einen tiefen Teller, das war alles. Dann gab es noch einen schwarzen Plastikeimer. So hatten sie das Klo direkt neben dem Bett. In dem Augenblick wurde mir klar, dass ich niemals genug Mittel aufbringen würde, um ihnen helfen zu können. Aber jede noch so kleine Hilfe zählt. Es bedeutet schon viel, wenn man so einen alten Menschen an der Hand nimmt, sich zu ihm hinsetzt. Um ihm aber ein anderes Leben zu ermöglichen, fehlen das Geld und auch die Menschen, die helfen könnten.“

In Nepal wiederum besuchte Eva ein tibetisches Flüchtlingslager. Hier kommen alle an, die gerade über die Berge nach Nepal, nach Kathmandu gelangt sind. Mit einem Führer dauert die Reise über die Berge zwei Monate. Oft geben Eltern ihre gesamten Ersparnisse für die Dienste eines Bergführers her, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. „Diese Kinder haben noch Schwielen und Blasen an den Füßchen,“ erzählt Eva Mahrová, die wegen ihrer ausschließlich blauen Kleidung den Spitznamen „blaue Eva“ trägt. Nach ihrer Ankunft segnet der Dalai Lama die Kinder und entscheidet, in welches Waisenhaus sie kommen. Dort dürfen sie aber nur ein paar Wochen bleiben, danach bringt man sie in Waisenhäuser in Indien.

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... und in einem SOS-Kinderdorf für tibetische Flüchtlingskinder in Indien, Foto: © privat

Wie viele Leute lesen eine Zeitung?

Vor kurzem versuchte es Eva zum ersten Mal wohltätige Arbeit in Europa zu leisten. In Großbritannien half sie in einem Seniorenheim, wo sie ein Beschäftigungsprogramm mit formbaren Luftballons und Seifenblasen zusammenstellte. Sie stand auch in dem heimeigenen Laden hinter der Theke. „Die Leute brachten uns Dinge, die sie nicht mehr brauchten. Der Erlös kam den Senioren zugute.“ Heute hilft sie auch in Tschechien einmal wöchentlich in einem Geschäft der Organisation Sue Ryder aus, das nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert.

Die vielen Reisen haben aus Eva eine furchtlose Abenteurerin gemacht. Ob sie jemals in eine Situation geraten sei, in der sie sich gefürchtet hätte? „Ach wo“, antwortet sie. „Ich bin dreieinhalbtausend Kilometer mit dem Zug durch sieben indische Staaten gefahren und niemals hatte ich den Gedanken, meine Sachen wegzuschließen. Bei uns in der Metro dagegen schlägt man dir die Zeitung vor der Nase zu, wenn du dich etwas rüberbeugst, um zu sehen ob es etwas Neues gibt. Dann wirst du noch eine Weile bedeutsam angeschaut, damit du kapierst, dass du dir eine eigene Zeitung kaufen musst. Wenn aber in Indien jemand eine Zeitung liest, stecken sechs weitere Leute ihre Köpfe zusammen und lesen mit ihm. Dann schaut er sich um und stellt fest, dass du keinen Platz hast um dich festzuhalten. Er reißt ein Stück der Zeitung für dich ab, damit du es auf den Boden legen und dich darauf setzen kannst.“

Eva bemerkt jedoch, dass sich die Situation bei uns langsam verbessert. „Bei den jungen Leuten bestimmt. Meine Altersgenossen verstehen aber immer noch nicht, warum ich das Alles mache. Da werde ich gefragt: ‚Und was hast du davon? Wie viel bekommst du dafür?‘ Die kapieren nicht, warum man etwas macht, ohne bezahlt zu werden“, sagt Eva.

Auch wenn sie weiterhin viel Zeit auf Reisen und mit dem Helfen in den verschiedensten Winkeln der Welt verbringt, freut sie sich doch immer auf die Heimkehr. „Ich habe nämlich Enkel und einen alten Vater, also braucht man mich jetzt auch hier.“

Daniela Ešnerová
Übersetzung: Hanka Sedláček

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
August 2014

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