Leben

Geteilte Erinnerungsräume

Deutsch-armenisch-türkische Geschichte(n) auf der Berliner Hardenbergstraße

Foto: © Maike WetzelFoto (Ausschnitt):  Norbert Niehusen (niehusen), CC BY 2.0
Entlang der Berliner Hardenbergstraße ballen sich die Gedenk- und Tatorte. Besonders die deutsch-türkisch-armenische Geschichte tritt sich hier quasi selbstauf die Füße. Foto (Ausschnitt): Norbert Niehusen (niehusen), CC BY 2.0

100 Jahre nach dem Völkermord an den Armeniern gerät die Schützenhilfe, die das deutsche Kaiserreich dem damaligen Kriegsverbündeten Türkei gewährte, in den Fokus. Doch die Verflechtung der deutschen, armenischen und türkischen Geschichte endet nicht im Jahr 1915. Besonders augenfällig ist das auf der Hardenbergstraße in Berlin-Charlottenburg. Vier Studenten haben dort einen multimedialen Rundgang erstellt, der deutsch-armenisch-türkische Geschichte(n) von der Weimarer Republik bis in die 1980er Jahre erzählt.

Wir stehen an der Ecke Hardenberg- und Fasanenstraße. Die Sonne scheint und dennoch ziehen die meisten der über dreißig Anwesenden ihre Jacken nicht aus. Vielleicht frösteln sie angesichts der blutigen Ereignisse, deren Zusammenhänge ihnen Eike Stegen gerade erklärt. „Hier erschoss der armenische Student Soghomon Tehlirian am 15. März 1921 einen der Drahtzieher des Völkermords an der armenischen Bevölkerung, Talaat Pascha.“

Eike Stegen ist einer von vier Masterstudierenden des Touro College Berlin, die an diesem strahlenden Sonntagvormittag im April ihren historischen, interkulturellen Rundgang, rund um die Berliner Hardenbergstraße vorstellen. Nur jeweils einen Steinwurf voneinander entfernt ballen sich entlang der Straße die Gedenk- und Tatorte. Besonders die deutsch-türkisch-armenische Geschichte tritt sich hier quasi selbst auf die Füße.

Völkermord an den Armeniern gilt als Blaupause für die Shoah

Eine Tatsache, die den vier Studierenden des Touro College in Berlin auffiel. Neugierig geworden recherchierten sie weiter, fanden Geldgeber und namhafte Unterstützer. Unter anderem ihren Professor Dr. Andreas Nachama und die Bundeszentrale für politische Bildung. Gemeinsam mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF), dem Touro College Berlin und kofinanziert vom Europäischen Integrationsfonds sowie der Meridian Stiftung konnten sie ihre Rechercheergebnisse multimedial und in drei Sprachen produzieren.

Auf der Website Flucht-Exil-Verfolgung.de steht nun ein Audioguide nebst Stadtplan zur Verfügung. Begleitet von diesem multimedialen Stadtführer sollen in Zukunft Interessierte aus aller Welt die vielschichtigen, historischen Zusammenhänge entdecken können. Die Website wurde sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch und Türkisch übersetzt.

Da die Initiatoren Anne Lepper, Katarina Rudolph, Eike Stegen und David Zolldan den Masterstudiengang „Holocaust Communication and Tolerance“ absolvieren, sind sie mit der Geschichte des Nationalsozialismus vertraut. Dass aber auch der Völkermord an den Armeniern, der vielen als die Blaupause für die Shoah gilt, so tiefe Spuren auf deutschen Boden hinterlassen hat, ist bisher kaum bekannt. Wer weiß schon, dass gegenüber der Universität der Künste einer der Drahtzieher des Genozids an den Armeniern erschossen wurde?

Foto: © Maike Wetzel
Eike Stegen (Mitte) ist einer von vier Masterstudierenden des Touro College Berlin, die den historischen, interkulturellen Rundgang rund um die Berliner Hardenbergstraße erstellt haben. Foto: © Maike Wetzel

Berlin als Zufluchtsort für einen türkischen Kriegsverbrecher

Dass der armenische Attentäter umgehend verhaftet wurde, war höchstwahrscheinlich seine Absicht. Der Mord war Teil einer weltweiten Rache-Kampagne der Armenier, der sogenannten „Operation Nemesis“, benannt nach der griechischen Göttin des gerechten Zorns. Die armenischen „Rächer“ wollten mit dem Attentat an dem ehemaligen Großwesir des Osmanischen Reichs unter anderem auf die unheilige deutsch-türkische Allianz und die Kultur des Wegschauens aufmerksam machen.

Schon 1898 hatte sich der deutsche Kaiser zum Schutzpatron aller Muslime der Welt erklärt. Als Verbündeter der Türkei im Ersten Weltkrieg sah die deutsche Regierung nun den Völkermord an den christlichen Armeniern als innere Angelegenheit der Türkei an. Nach der Niederlage 1918 gewährte Deutschland zahlreichen türkischen Spitzenpolitikern inoffiziell Asyl. Talaat Pascha lebte unter falschem Namen in Berlin, doch die deutsche Regierung wusste genau, wen sie beherbergte.

Im Prozess erklärte Soghomon Tehlirian, er habe seine Eltern durch den Völkermord verloren. Er tötete Talaat Pascha zwar, doch die erhoffte Öffentlichkeit für die Hintergründe blieb aus: Der Armenier wurde bereits nach zwei Prozesstagen für unzurechnungsfähig erklärt und freigesprochen. Der Leichnam Talaat Paschas aber wurde 1943 nach Istanbul überführt. Er bekam dort ein Ehrengrab. Zahlreiche Schulen, Plätze und Straßen in der Türkei tragen bis heute seinen Namen.

Ein deutscher Nazi-Gegner im türkischen Exil

Ernst Reuter ist in Deutschland ähnlich bekannt. Doch dass der spätere Regierende Bürgermeister Berlins während des Zweiten Weltkriegs in die Türkei floh, wissen heute die wenigsten. Von politischen Gegnern wurde ihm das später gern vorgeworfen. Karikaturen zeigten Reuter häufig mit der türkischen Kopfbedeckung Fez – absurderweise ein Kleidungsstück, das in der Türkei schon seit Atatürk niemand mehr trug. Ähnliche Angriffe erfuhr beispielsweise auch Willy Brandt, der während des Zweiten Weltkriegs nach Norwegen emigriert war. Die Vorwürfe waren gar nicht speziell auf die Türkei oder Norwegen gemünzt. Laut Eike Stegen mobilisierten sie bereits vorhandene Ressentiments in der Bevölkerung nach dem Motto: „Was wir hier drinnen gemacht haben, wissen wir. Aber was ihr da draußen getrieben habt, können wir nicht wissen.“ Wir stehen vor dem Studentenhaus neben der Mensa am Steinplatz. Die dort angebrachte Gedenktafel erinnert daran, dass Ernst Reuter nach seiner Rückkehr aus der Türkei 1946 hier wohnte. Nur wenige hundert Meter weiter mündet die Hardenbergstraße in einen großen Kreisverkehr. Der Verkehrsknotenpunkt trägt seit 1953 den Namen Ernst-Reuter-Platz.

Foto (Ausschnitt): Willy Pragher / Deutsche Digitale Bibliothek, CC BY 3.0
Blick auf die Hardenbergstraße vom Ernst-Reuter-Platz aus, 1960. Foto (Ausschnitt): Willy Pragher / Deutsche Digitale Bibliothek, CC BY 3.0

Auf dem Boden vor dem Eckhaus an der Kant- und Fasanenstraße zeugen vier Stolpersteine davon, dass auch türkische Juden in Auschwitz ermordet wurden. Ursprünglich hatte die Familie Behar 1915 Schutz in Deutschland gesucht. Sie waren vor der minderheitenfeindlichen Politik der osmanischen Regierung geflüchtet. Durch ihren türkischen Pass waren sie im Dritten Reich einige Jahre vor Verfolgung sicher. Doch bei der Einziehung ihrer Pässe arbeiteten der deutsche und der türkische Staat wieder Hand in Hand. Die Todesmaschinerie setzte sich mit nahtlos ineinandergreifender Bürokratie in Gang.

Multimedial aufbereitete Schnitzeljagd

Diese und zahlreiche andere auf der Website aufbereiteten Gedenkorte entlang der Hardenbergstraße zeigen die Vielfalt der Geschichten rund um Flucht, Verfolgung und Exil in der Einwanderungsstadt Berlin. Am 23. April 2015, dem Vorabend des hundertsten Jahrestags des Völkermords an den Armeniern, wurde das Projekt im Berliner August-Bebel-Haus der Öffentlichkeit vorgestellt.

Wer der historischen und multimedial aufbereiteten Schnitzeljagd der vier Studierenden des Touro College folgt, erlebt auf Berliner Boden, wie eng dieser Völkermord mit der deutschen Geschichte zusammenhängt. Für Schulklassen etwa will Aktion Sühnezeichen Friedensdienste den Rundgang als didaktisch begleitete Tour anbieten.

Maike Wetzel

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
April 2015
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Völkermord an den Armeniern

Der Völkermord an den Armeniern geschah während des Ersten Weltkrieges unter Verantwortung der jungtürkischen Regierung des Osmanischen Reichs. Einem der ersten systematischen Genozide des 20. Jahrhunderts fielen bei Massakern und Todesmärschen, die im Wesentlichen in den Jahren 1915 und 1916 stattfanden Schätzung zufolge bis zu 1,5 Millionen Menschen zum Opfer. Der 24. April, der Tag, an dem 1915 die Deportation der armenischen Elite aus Konstantinopel begann, wird in Armenien als „Genozid-Gedenktag“ begangen.

Die Ereignisse, die von den Armeniern selbst mit dem Begriff Aghet – „Katastrophe“ – bezeichnet werden, sind durch umfangreiches dokumentarisches Material aus den unterschiedlichsten Quellen belegt. Weltweit erkennen die  meisten Historiker diesen Völkermord daher als Tatsache an. Dagegen bestreiten die offizielle türkische Geschichtsschreibung und die Regierung der aus dem Osmanischen Reich hervorgegangenen Republik Türkei, dass es überhaupt einen Völkermord gegeben habe. Sie bezeichnen die Deportationen als „kriegsbedingte Sicherheitsmaßnahmen“, die notwendig geworden seien, da die Armenier das Osmanische Reich verraten, seine damaligen Kriegsgegner unterstützt und ihrerseits Massaker an Muslimen begangen hätten. Der Streit um die Anerkennung des Genozids als historische Tatsache belastet bis heute die Beziehungen zwischen der Türkei einerseits und Armenien sowie zahlreichen westlichen Staaten andererseits.
Quelle: Wikipedia

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