Leben

Wir sind ein Volk?

Rasmus, 28 Jahre
Rasmus, 28 Jahre (Foto: privat)

Die Jugendlichen in den neuen Bundesländern unterscheiden sich 21 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht mehr von ihren Altersgenossen im „Westen“. Längst herrscht Einigkeit was Mode, Freizeitgestaltung oder Zukunftshoffnungen betrifft. Kein Wunder, schließlich haben die unter 25-Jährigen die Wende – geschweige denn die Zeit davor – nicht mehr bewusst erlebt. Die Frage, ob sie in den Kategorien „Ossi“ und „Wessi“ denken, ist also eigentlich überflüssig. Oder etwa nicht?

Ossi: ‚Wir sind ein Volk!‘ Wessi: ‚Ja, wir auch!‘“ Vor allem in den 90er Jahren hatten solche Ossi- und Wessi-Witze Hochkonjunktur. Besonders die Bürger aus den neuen Bundesländern mussten zum Teil bösartigen Spott über sich ergehen lassen. Heute haben wir eine Bundeskanzlerin aus dem Osten. Aber spielt die Herkunft innerhalb Deutschlands überhaupt noch eine Rolle?

Richard, 23 Jahre
Richard, 23 Jahre (Foto: privat)
Richard ist 23 Jahre alt und kommt aus Dresden. Dort studiert er auch Maschinenbau. "Ich fühle mich nur als Ostdeutscher, wenn wieder einmal ein alberner Witz über die neuen Länder gerissen wird. Sonst ist es nicht mein Thema." Richards gleichaltriger Kommilitone Georg hat andere Erfahrungen gemacht. Er ist zum Studium nach Dresden gekommen – aus dem oberbayerischen Ingolstadt: „Meine Freundin kommt auch aus Ingolstadt. Einer ihrer Professoren hat mal einen bayrischen Film gezeigt. Danach hat er versucht bairisch zu reden und sich über den Dialekt lustig gemacht. Alle anderen Studenten, außer meiner Freundin, fanden das witzig.“ Dass Rheinländer, Friesen, Pfälzer usw. mitunter genauso über Bayern scherzen weiß Georg natürlich auch. Und er muss zugeben, dass viele Bayern ebenso gut austeilen können: „Die reden von ‚Ossis‘ und beschweren sich über den Solidaritätszuschlag.“

„Ossis“ und Aborigines

Nach Niedersachsen hat es Antonie aus Gotha verschlagen. Die 24-Jährige hat bereits ein abgeschlossenes Studium in Indologie und Ethnologie. Sie ist Doktorandin in Göttingen: „Ost und West spielen auf dem Campus keine Rolle. Ich stamme aus Deutschland, genauer aus Thüringen. Allerdings fühle ich mich ostdeutsch, wenn Ossiwitze die Runde machen. Dann wehre ich mich auch.“ Rasmus, 28 Jahre, ist aus Oldenburg und Diplom-Mathematiker in Göttingen – beides im Westen also: „Meine erste Begegnung mit dem Osten hatte ich mit vierzehn Jahren bei einer Fahrradtour in den Harz. Mein Vater wies mich irgendwann darauf hin, dass wir jetzt in den Osten kämen und dass die Bewohner dort oft schlecht gelaunt seien. Dieser Eindruck bestätigte sich und heute habe ich auch noch hin und wieder das Gefühl, dass dies so ist.“ Als Rasmus dann sein Abitur machte, sei ein Studium „drüben“ für viele seiner Mitschüler aber schon kein Geheimtipp mehr gewesen: „Etlichen meiner Mitschüler fiel es leicht sich für ein Studium an der Uni Greifswald in Mecklenburg Vorpommern zu entscheiden.“ Er selbst ging zum Studieren nach Göttingen: „Die Herkunft des Einzelnen spielte da keine Rolle. An der Uni kannst du höchstens noch ein Augenzucken erzeugen, wenn du mindestens ein Aborigine bist."

Was hat die Uhrzeit mit dem Soli zu tun?

Nele aus Dresden hat hingegen eher unangenehme Erfahrungen gemacht. Die 20-Jährige absolviert in Bielefeld eine Lehre zur Theater-Malerin: "In meiner Berufsschulklasse kommen wir aus allen Ecken Deutschlands, woher ist egal. Am Theater, wo ich die praktische Ausbildung mache, gibt es aber Mitarbeiter, die mir hin und wieder meine Herkunft vorwerfen. Zum Beispiel wurde mir nach einem sprachlichen Missverständnis, es handelte sich um die verschiedene Angabe der Uhrzeit – statt Viertel vor sagen wir in Sachsen Dreiviertel – gesagt, dass wir im Osten den Solidaritätszuschlag verprassen, den die Westbewohner bezahlen müssten. Ich wusste zunächst nicht, um was es sich bei dem Soli handelt. Auf Nachfrage bei meiner Mutter stellte ich fest, dass auch sie, so wie alle Bürger der Bundesrepublik, diesen Beitrag zahlt."

Schlechte Witze und Stammtischparolen: Auch den jungen Bundesbürgern ist mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung noch die so genannte „Mauer in den Köpfen“ präsent. Aufrecht erhalten und gepflegt werden Vorurteile besonders von den älteren Jahrgängen. Georg aus Ingolstadt und seine Dresdner Freunde sind da schon mehrere Schritte weiter: „Die echte Mauer haben wir nicht mehr erlebt, aber es besteht immer noch eine geistige. Wir konnten unsere Mauer einreißen. Nur so können wir alle Deutschland werden.“
Bernhard Walther

Copyright: Goethe-Institut Prag
September 2011

    Die deutsche Wiedervereinigung

    Zum Erstaunen der ganzen Welt fegte die friedliche Revolution 1989 das DDR-System weg. Was im Frühjahr des Jahres weder gedacht, noch in den wildesten Träumen für möglich gehalten wurde, war im Herbst bereits geschehen. Im folgenden Jahr des Aufbruches entwickelte sich alles mit atemberaubender Geschwindigkeit in Richtung Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. am 3. Oktober 1990. Der „Tag der deutschen Einheit“ ist seitdem Nationalfeiertag. In den neuen Bundesländern folgte ein schmerzlicher Prozess der Anpassung an die radikal veränderten Gegebenheiten. Vor allem die wirtschaftliche Transformation forderte ihren Tribut. Massenhaft wurden die Menschen arbeitslos. Der Staat steckte enorme Summen in den „Aufbau Ost“. 1991 wurde unter anderem dafür der Solidaritätszuschlag, umgangssprachlich „Soli“, eingeführt, der auf die Einkommenssteuer erhoben wird. Die Abgabe weckte bei vielen im Westen Unmut, was wiederum zu Vorurteilen und Missverständnissen zwischen Ost und West führte.