Gemischtes Doppel | Visegrád 4

Im Ungehorsam steckt die Hoffnung

Illustration: © Ulrike Zöllner

#8 | POLEN

Nicht nur in Ungarn ist eine wachsende politische Apathie zu beobachten. Auch in Polen lösen sich oppositionelle Tendenzen zunehmend auf. Haben sich die Polen mit dem Gedanken abgefunden, dass ihnen die Freiheit gestohlen wird? Unsere Kolumnistin Monika Sieradzka sieht noch einen Hoffnungsschimmer.

Lieber Márton,

du schreibst über die beispiellose Apathie und die nachlassenden Proteste in Ungarn. Leider muss ich sagen, dass es aus Polen ganz Ähnliches zu berichten gibt.

Wir sind doch eine freiheitsliebende Nation - zumindest halten wir uns selbst für eine!

Ein Detail von vielen, an dem ich diese Beobachtung fest mache: 2015 hatte „Das Komitee zur Verteidigung der Demokratie” (die zivile Oppositionsbewegung der ersten Stunde) einen kleinen Stand vor dem Sitz des Premierministers in Warschau aufgebaut - anfangs eine Bank mit ein paar Stühlen, dann Zelte, zum Schluss ein Wohnwagen. Immer war an diesem Basislager der Opposition etwas los: Es wurde demonstriert, diskutiert und gestritten, Aktivisten aus dem ganzen Land tankten Energie für ihren mühsamen Kampf in der konservativen Provinz, Autofahrer nahmen beim Vorbeifahren den Fuß vom Gas und hupten als Zeichen ihrer Solidarität.

Seit einigen Wochen ist dieser symbolträchtige Stand weg! Ein Schock für mich. Keine Spur mehr von der kleinen Insel der Opposition. Alles verschwunden.

Haben wir Polen uns etwa auch schon mit dem Gedanken abgefunden, dass uns die Freiheit gestohlen wird? Wir sind doch eine freiheitsliebende Nation - zumindest halten wir uns selbst für eine! An die Wände hängen wir gerne Porträts unserer Vorfahren, die sich den fremden Besatzungsmächten und zuletzt den Kommunisten widersetzt haben. Jetzt aber merken wir nicht, dass unsere Freiheiten Stück für Stück eingeschränkt werden.

Gerade in den letzten Wochen ist das letzte Bollwerk, das Oberste Gericht, gefallen. Sprich: unter die Kontrolle der Regierung gekommen. Das hat die Regierungsmehrheit noch kurz vor der parlamentarischen Sommerpause durchgedrückt. Nicht nur ausländische Leser blicken da möglicherweise nicht mehr durch. Die PiS kommt ständig mit neuen Gesetzesänderungen, die die Justizreform gezielt kompliziert und undurchschaubar machen sollen - und zwar nicht nur für die Beamten in Brüssel, sondern auch für die Bürger im eigenen Land.

In Polen ist es ganz normal, ja, man ist stolz darauf, wenn man Gesetze umgeht. Ich kann mir in Polen deshalb keine Diktatur vorstellen.

Da das alles keinerlei spürbare Auswirkungen auf den Alltag der einfachen Polen hat, kommt es ihnen auch nicht besonders gefährlich vor - sie genießen lieber den schönen Sommer. Dank der Einführung des Kindergeldes - dem Flaggschiff-Projekt der PiS - sind gerade so viele Familien wie noch nie in der Lage, in den Urlaub zu fahren. Die Wirtschaft läuft auf Hochtouren, der Konsum steigt. Warum also sollte man sich über die Politiker in Warschau den Kopf zerbrechen?

Die meisten Menschen schweigen und spielen damit die Rolle, die der Regisseur Kaczynski für sie geschrieben hat - nämlich die von Statisten, ganz so, wie Du, Márton, es beschrieben hast. Wenn wir eines Tages in einem Gerichtssaal aufwachen und keine Chance mehr auf einen gerechten und unabhängigen Prozess haben, wird es zu spät sein.

Ich tröste mich selbst etwas sarkastisch und selbstironisch damit, dass meine Landsleute gerne rebellieren. In Polen ist es ganz normal, ja, man ist stolz darauf, wenn man Gesetze umgeht. Ich kann mir in Polen deshalb keine Diktatur vorstellen. Ich glaube an die Neigung zum Ungehorsam, die wir im Blut haben. Ich bin gespannt, ob sich mein Glaube als berechtigt oder als naiv herausstellen wird.

Monika Sieradzka
1. August 2018
Copyright: ostpol.de | n-ost e.V.


Gemischtes Doppel #7 | Ungarn
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Gemischtes Doppel #9 | Slowakei
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Im Gemischten Doppel halten Michal Hvorecký (Slowakei), Tereza Semotamová (Tschechien), Márton Gergely (Ungarn) und Monika Sieradzká (Polen) die Diskurse ihrer Länder fest. Sie ergründen Themen wie die heutige Bedeutung Europas, Rechtspopulismus, nationale Souveränität, gesellschaftlichen Wandel, die Arroganz des westlichen Blicks – und brechen damit staatliche und gedankliche Grenzen auf.

Die Goethe-Institute in Polen, Tschechien und das Onlinemagazin jádu veröffentlichen die Beiträge der Kolumnenreihe mit freundlicher Genehmigung und in Kooperation mit ostpol, dem Online-Magazin von n-ost – Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung e.V.

    Monika Sieradzka

    Monika Sieradzka hat Germanistik in Warschau und Politikwissenschaften in Mainz studiert. Sie hat 20 Jahre lang beim öffentlich-rechtlichen Sender TVP gearbeitet und war Nachrichtenreporterin, Moderatorin, Korrespondentin in Skandinavien, CvD, Redaktionsleiterin für Nachrichten und Reportage. Heute lebt sie in Warschau und berichtet als freie Journalistin für die DW und für den MDR.

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