Gemischtes Doppel | Visegrád 4

„Wir können keine Homogenität behaupten, wo gar keine ist“

Illustration: © Ulrike Zöllner

#14 | TSCHECHIEN

Statt in den rechtspopulistischen Gleichklang einzustimmen, braucht es Demokraten, die für ein multikulturalistisches Mitteleuropa kämpfen, meint Tereza Semotamová.

Liebe Monika, lieber Michal, lieber Márton,

ich war sehr froh, als ich Michals Kolumne gelesen habe, in der er sein Liebesbekenntnis zu Mitteleuropa ablegt. Er hat das aufgeschrieben, worüber ich in der Vergangenheit immer wieder nachgedacht habe. Die Länder, aus denen wir kommen und in denen wir beobachten, wie vieles den populistischen Bach runtergeht, sind ja Teil eines größeren Ganzen. Die Probleme von heute sind nicht einfach vom Himmel gefallen.

Immer wieder müssen wir uns dieselben Vorurteile unserer westlichen Nachbarn anhören. Osteuropa macht Front gegen die Flüchtlingsquote hier, Osteuropa verhindert den demokratischen Konsens dort. Die Frage ist, wie homogen dieser, unser, Lebensraum eigentlich ist. Und ob gerade seine Heterogenität, die allgemeine Akzeptanz davon und das Interesse daran nicht der Weg zum Verständnis unserer aktuellen Lage sind.

Wer will denn nach 28 Jahren eine Gruppenpsychotherapie machen? Es sind diejenigen, die sich immer nur als Opfer sehen.

Erstens wissen wir nicht, wo genau dieses sogenannte Mitteleuropa liegen soll: Alles östlich von Berlin? Oder noch inklusive Berlin? Eine rein geographische Abgrenzung bringt uns überhaupt nicht weiter. Denn sind es nicht gerade die Überlappungen, die Orte und Gegenden einzigartig machen? Regionen, in denen sich das Angrenzende ergänzt und vermischt, sind oft die interessantesten. Einfaches Beispiel gefällig? Der Wein- und Kulturradweg zwischen Südmähren und Niederösterreich.

Zweitens wird über Mitteleuropa gesprochen, wie es den Leuten gerade in den Kram passt: Mal ist es ein Pulverfass, das kurz vor der Explosion steht, dann sind es wieder die V4-Staaten, die sich deshalb gut verstünden, weil sie eine ähnliche Geschichte haben. Wer will denn nach 28 Jahren eine Gruppenpsychotherapie machen? Es sind diejenigen, die sich immer nur als Opfer sehen. Ich stehe lieber für Inklusion, auch wenn sie anstrengend ist und viel Ausdauer, Empathie und Respekt voraussetzt.

Richtig gute Antidemonstranten

Wir sind junge Demokratien, die erst lernen, was Demokratie sein könnte. Rentenerhöhung – ja, unbedingt, aber so viel Geschrei bei jedem Minister, der in seiner Diplomarbeit geschummelt hat? Nö! Wir Mitteleuropäer sind richtig gute Antidemonstranten – stur und bockig, wie wir halt sind, oder wie Frank Sinatra sang, „I did it my way...“ – Willkommen in Mitteleuropa.

Die Grenzen der mittelosteuropäischen Länder wurden oft künstlich gezogen und sind bis heute Grund für viele Konflikte. In diesem „Kessel Buntes“ kann man sich nicht gut orientieren – es sind Minderheiten der Minderheiten von Minderheiten: Die eine interessiert sich nicht für die andere. Die Buntheit wird gern übersehen – von allen, so ist es einfacher.

Tatsächlich ist die mitteleuropäische Gesellschaft ein großes Multikulti – allen Schlagzeilen zum Trotz.

Wir können aber keine Homogenität behaupten, wo gar keine ist. Tschechien, na gut, aber was ist mit Juden, Sudetendeutschen, Choden, Hanaken, Mährern, Schlesiern, Vietnamesen? Was ist in der Slowakei mit Ruthenen, den Roma und den Ungarn? Oder die Multiethnizität von Transkarpatien, das mal Teil der Tschechoslowakei war. Ich könnte weiter aufzählen, aber ich denke, es ist klar: Manche Ethnien leben hier weiter, manche nicht. Trotzdem haben sie eine Spur hinterlassen und die geht nicht so einfach verloren.

Tatsächlich ist die mitteleuropäische Gesellschaft ein großes Multikulti – allen Schlagzeilen zum Trotz, die Homogenität behaupten und diese behauptete Homogenität bedroht sehen. Brünn (Brno) zum Beispiel war vor dem Zweiten Weltkrieg alles andere als eine „tschechische“ Stadt, sondern zeichnete sich vielmehr durch große Diversität aus. In letzter Zeit arbeitet die Stadt daran, sich diesen Ruf zurückzuholen. So prangte der Slogan „#unity in diversity” 2017 auf einer Installation, die an das ehemalige Deutsche Haus erinnern sollte, das 1945 zerstört worden war. Aus Brünn hörte man auch die erste politische Stimme, die sich bereiterklärte, Flüchtlinge aufzunehmen: es war die politische Bewegung Žít Brno (Brno leben).

Der übertriebene Schreck vor schnellen Veränderungen

Das aktuelle Geschehen in Chemnitz zeigt uns, dass das ehemalige Ostdeutschland genauso wie die V4-Staaten (und allmählich auch Österreich) gerade Kinderkrankheiten durchmacht. Worin sich all diese postkommunistischen Entwicklungen auszeichnen, ist ein gewisses Beharren auf Andersartigkeit. Eigentlich zeigt es nur, dass wir immer noch Angst haben, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Und das ist das, was uns von Westeuropa unterscheidet – der übertriebene Schreck vor schnellen Veränderungen in der Welt. Kein Wunder, wir haben jahrelang in einem Dampftopf gelebt, in dem nichts los war.

Mein Vater (71) hatte während der Ära des Kommunismus nicht gedacht, dass sich etwas ändern könnte. Die Wende war für ihn ein Wunder. Die Welt hat sich geöffnet und seitdem ist viel passiert – so viel, dass es für manche auch beängstigend war. Und diese Ängstlichkeit kommt nun zu Wort und will gehört werden. Wie wir es eben in Chemnitz gesehen haben.

Ich stelle mir vor, was nach diesen Jahren des Gebrülls bleibt? Ein hallendes Echo, das uns leise etwas über uns selbst zuflüstert…eine Prüfung für jeden von uns.

In Chemnitz ist ein Mensch gestorben, das hätte man bei dem ganzen Gebrüll beinahe vergessen. Der Mord an einem Menschen wird für allerlei Zwecke instrumentalisiert. Doch wenn jemand gestorben ist, sollte man Pietät bewahren, das heißt innehalten und das Andenken an Daniel H. ehren. Auch wenn Frömmigkeit heutzutage uncool klingt, ist es die wahre Bedeutung des Wortes, zu der jeder von uns einen eigenen Weg finden muss – alleine, in sich. Nicht in einer protestierenden Traube von Menschen auf dem Hauptplatz in Chemnitz.

Ich stelle mir vor, was nach diesen Jahren des Gebrülls bleibt? Ein hallendes Echo, das uns leise etwas über uns selbst zuflüstert…eine Prüfung für jeden von uns.

Der erste tschechoslowakische Präsident, Tomáš Garrigue Masaryk, hat einmal gesagt: „Demokratie hätten wir nun, jetzt brauchen wir noch irgendwelche Demokraten.“ Demokratie heißt, die Demokratie immer wieder zu verteidigen, egal wie verrückt gegen sie gehetzt wird.

Ich wünsche mir für mein mitteleuropäisches Pulverfass mehr Demokraten und vom Rest der Welt mehr Empathie für unsere Kinderkrankheiten und gründlicheres Interesse an unserem „Kessel Buntes“.

Das Pulverfass allerdings muss man objektiv und unabhängig betrachten.

Tereza Semotamová
12. September 2018
Copyright: ostpol.de | n-ost e.V.


Gemischtes Doppel #13 | Slowakei
Ich vermisse Mitteleuropa
Gemischtes Doppel #15 | Ungarn
Ein auswegloses Dilemma


Im Gemischten Doppel halten Michal Hvorecký (Slowakei), Tereza Semotamová (Tschechien), Márton Gergely (Ungarn) und Monika Sieradzká (Polen) im wöchentlichen Wechsel die Diskurse ihrer Länder fest. Sie ergründen Themen wie die heutige Bedeutung Europas, Rechtspopulismus, nationale Souveränität, gesellschaftlichen Wandel, die Arroganz des westlichen Blicks – und brechen damit staatliche und gedankliche Grenzen auf.

Die Goethe-Institute in Polen, Tschechien und das Onlinemagazin jádu veröffentlichen die Beiträge der Kolumnenreihe mit freundlicher Genehmigung und in Kooperation mit ostpol, dem Online-Magazin von n-ost – Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung e.V.

    Tereza Semotamová

    Tereza Semotamová hat Drehbuchschreiben und Germanistik in Brünn studiert. Ihre Dissertation schrieb sie über deutsche Hörspiele der 50er Jahre. Mittlerweile schreibt sie selbst Hörspiele und Kolumnen und übersetzt deutschsprachige Belletristik. Sie ist Redakteurin bei jádu.

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