Stahlkorsetts unter Dampf

Auf der EuroSteamCon in Zaragoza 2014, Foto (Ausschnitt): Gaudencio Garcinuño, CC BY-SA 2.0

In der Welt des Steampunks sind kugelsichere Korsetts, Schweißerbrillen und futuristische Zeppeline ganz normal. Brauchen wir heute wieder mehr vom Fortschrittsglauben der Belle Époque?

Viktorianische Mode und Manieren, Weltanschauungen im Geist der Belle Époque, phantastische technische Errungenschaften und jede Menge Eleganz und Stil: „Steampunk ist Jules Verne auf die Spitze getrieben“, sagt Marcus Rauchfuss. Unter dem Pseudonym Marcus R Gilman hat sich der nach eigenen Angaben „total stereotype Nerd“ einen Namen als Autor und Blogger gemacht – in einer Subkultur, deren Ästhetik in Kunst, Literatur und Film immer präsenter ist.

Steampunk, eine Wortschöpfung aus Dampf (englisch steam) und mies/wertlos (englisch punk), entwirft einen Retro-Futurismus, der von den Fans unter anderem auf Conventions und bei Live-Rollenspielen (Larp) mit fantasievollen Kostümen zur Schau getragen wird. Eine homogene Gruppe sind sie trotzdem nicht: „Den Steampunker an sich gibt es nicht“, so Marcus. Dem einen geht es um den stylischen Auftritt, andere versuchen sich auch in Sprache und Manieren dem Viktorianischen Zeitalter anzunähern.

Korsett und Smoking, Taschenuhren und Monokel

Insgesamt ist der Steampunk-Look im Alltag recht gut umsetzbar, glaubt Marcus: „Rock und Korsett für die Damenwelt, Weste und Smoking für die Herren, das ist auch außerhalb der Szene tragbar – fast schon ein bisschen mainstream.“ Zwar trifft man auch überzeugte Steampunker eher selten voll ausstraffiert auf der Arbeit oder im Café – doch ein kleines, extravagantes Extra gönnen sich viele auch im Alltag. Marcus selbst ist überzeugter Taschenuhr- und Monokelträger. Doch wenn der Lehrer am Schreibtisch Unterricht vorbereitet oder an seinen Texten arbeitet, greift Marcus doch lieber auf die handelsübliche Brille zurück.

Foto: © Marcus Rauchfuss
Marcus Rauchfuss ist überzeugter Taschenuhr- und Monokelträger.

Die Mode des englischen Viktorianismus und der festlandeuropäischen Belle Époque macht für viele Steampunker den Reiz der Epoche aus. Der technische Fortschrittsglaube der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schlägt in der großen Rolle der Dampfmaschine(englisch: steam engine) nieder, die im Steampunk-Kosmos außer Eisenbahnen auch Computer, Raumschiffe oder Roboter antreibt.

Wer die Romane der Steampunk-Urväter Jules Verne oder H.G. Wells gelesen hat, kommt aber meistens auch an deren Zeitgenossen Charles Dickens nicht vorbei. Entwerfen erstere noch eine von technischen Utopien geprägte Science-Fiction, zeichnet Dickens ein sozialrealistisches Bild seiner Zeit mit dystopischen Zügen: Bitterarme Großfamilien, Kinderarbeit, unhaltbare Zustände in Fabriken, eine High Society, die vor dem Elend der gemeinen Bevölkerung die Augen verschließt.

Mehr „Steampunk-Optimismus“ im Jahr 2017

„Jeder möchte lieber Lord oder Lady und nicht Hausmädchen oder Schuhputzer sein“, sagt Marcus. Egal ist ihm das nicht. Der Fokus liege im Steampunk in der Tat sehr auf der „weißen Geschichte“ Europas oder Amerikas: Bälle, Dinnerparties, Abenteuerreisen. Frauen sind häufig gleichberechtigt – was in der Belle Époque keineswegs der Fall war. Sklaverei und Fronarbeit werden gerne mal totgeschwiegen – und falls nicht, „dann waren es immer die anderen.“ Da hat der arme englische Waisenjunge, der bei einem Unfall seine Beine verloren hat, längst Prothesen aus Metall.

Doch auch wenn im Viktorianischen Zeitalter sicherlich nicht alles schön und perfekt war, auch wenn im Steampunk einige unbequeme Ecken und Kanten abgeschliffen werden, so sieht Marcus trotzdem attraktive Ansätze: „Der Geist der Belle Époque war vor allem von Optimismus geprägt. Die Leute glaubten an den Fortschritt, daran, dass alles möglich war. Kein Traum konnte groß genug sein. Von diesem Geist würde ich mir in der Realität des Jahres 2017 manchmal ein bisschen mehr wünschen.“

Steampunk in Literatur, Film und Musik (eine unvollständige Liste)

Bücher:
Pip Ballantine und Tee Morris: Books und Braun
Anja Bargus: Aetherwelt
Gordon Dahlquist: Die Glasbücher-Trilogie
Gibson/Sterling: Die Differenzmaschine
Judith Vogt: Die zerbrochene Puppe

Film und Serien:
Der goldene Kompass (2007)
Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen (2003)
Lemony Snicket: Eine Reihe betrüblicher Ereignisse (Film 2004, Serie 2017)
Wild Wild West (1999)

Kunst:
James Ng: Chinesische Mythologie als Steampunk

In der Musik hat sich Steampunk als eigene Kunstrichtung noch nicht etabliert. Diverse Künstler nähern sich dem Thema durch Kostüme und Texte an, bleiben musikalisch ihrer ursprünglichen Stilrichtig treu.


Copyright: jádu | Goethe-Institut Prag
März 2017

    Marcus Rauchfuss

    Marcus Rauchfuss alias Marcus R. Gilman ist Familienvater, Lehrer und Autor. Zweimal hat er den Deutschen Phantastik-Preis gewonnen (für Steampunk – kurz und geek sowie seine Mitwirkung an der Anthologie Eis und Dampf). Er gehörte zum Organisationsteam der European-Steampunk-Convention, arbeitet als Blogger (www.metapunk.de) und ist auch gern als zahlender Gast auf Steampunk-Events unterwegs.

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