Ein Dorf verschwindet vor den Augen

Foto: © Ondrej ČechvalaFoto: © Ondrej Čechvala
Bei Jolanka hat Ondrej gewohnt. Für sie ist er auch nach fast 20 Jahren immer noch der „kleine Ondrejko“. Foto: © Ondrej Čechvala

Wie verändert sich ein Ort im Laufe der Zeit? Der Doktor der Philosophie Ondrej Čechvala machte sich mit dem Fotoapparat auf in das slowakische Dorf Sádočné, in dem er als Kind vor beinahe zwei Jahrzehnten seine Ferien verbracht hatte. Ondrejs Fotoserie zeigt, dass der Wandel nicht nur im Objekt selbst liegt, sondern auch und vor allem in der veränderten Perspektive, aus der wir es wahrnehmen.

Im Sommer 2014 hast du die Bewohner von Sádočné, einem Dorf im Nordwesten der Slowakei, fotografiert. Wie kam es dazu?

Ernsthaft begonnen zu fotografieren, habe ich erst während meines Studiums an der Universität in Trnava. Nachdem ich mit der Dissertation fertig war, hatte ich endlich ein wenig Zeit, um noch einmal dieses Dorf zu besuchen, in dem ich als kleiner Junge einige Ferien verbracht habe. Mit sieben oder acht Jahren war ich das letzte Mal dort. Ich konnte mich nur an Bruchstücke erinnern. Für mich war Sádočné immer ein Ort wie aus einem Bilderbuch, mit genau denselben Häuschen, die auch in den slowakischen Märchen vorkamen. Die Aufenthalte dort haben mich, glaube ich, sehr in meinem Denken beeinflusst. Dort habe ich einen persönlichen Bezug zur Natur und den slowakischen Bräuchen gefunden. Diese Eindrücke wollte ich von neuem erleben und den Menschen begegnen, an die ich mich auch nach all den Jahren noch erinnerte. Und weil sie ein Teil meines Lebens geworden sind, wollte ich sie auf meinen Fotografien verewigen. Es war wohl vor allem Nostalgie, die mich dorthin führte, aber auch der Wunsch, diesen Ort von einer neuen Perspektive aus zu betrachten – so wie er in Wirklichkeit war. Ich wusste, das Leben dort würde nicht so märchenhaft aussehen, wie ich es in Erinnerung hatte.

Grobkörnige Schwarz-Weiß-Aufnahmen sind meist sehr wirkungsvoll.

Ich habe die Umgebung subjektiv wahrgenommen. Die Schwarz-Weiß-Fotografie hat einen starken psychologischen Aspekt, sie unterstreicht Emotionen und verstärkt die Atmosphäre. Ein Farbfoto würde in diesem Fall zu stark idealisieren. Eine grüne Wiese, ein blauer Himmel, eine pseudo-romantische Traumwelt würden die Aufmerksamkeit von der Rauheit dieses Lebens ablenken. Ich wollte zeigen, dass es ein hartes Leben ist.

Wie zeigt sich diese Härte?

Vor allem bei der Arbeit. Die Menschen dort geben alles, um über die Runden zu kommen. Abgesehen von ein paar Glücklichen, die auf dem Amt oder in einem Unternehmen tätig sind, bestreitet man den Lebensunterhalt vor allem mit körperlicher Arbeit. Viele müssen Tag für Tag aufs Feld, sich um das Vieh kümmern, um vier Uhr morgens stehen sie auf, um die Ziegen zu melken und die Hühner zu versorgen. Man meint es nicht, aber die Nutztiere machen von morgens bis abends Arbeit. Nur die wenigsten sind pflegeleicht. Manche Dorfbewohner verkaufen Käse und Milch auf Märkten. Andere arbeiten im holzverarbeitenden Gewerbe in einer Firma im Nachbarort. Oft machen sie schweißtreibende Gelegenheitsjobs. Viele der Bewohner sind schon in Rente oder arbeitslos. Sie helfen sich gegenseitig, vermitteln sich Arbeit, aber sie leben doch in einer ständigen Unsicherheit.


Wie hast du den Kontakt zu den Ortsansässigen hergestellt?

Es hat mich sehr überrascht, wie viele sich nach all den Jahren an mich erinnerten. Aber nicht alle, die ich fotografiert habe, kannten mich. Mit ihnen habe ich mich selbstverständlich erst einmal unterhalten. Ich würde es mir nicht erlauben, gleich den Fotoapparat auszupacken und ein Bild nach dem anderen zu schießen wie mit einem Maschinengewehr. Mich interessierten ihre Geschichten. Wie es sich im Dorf so lebt, wie die Verhältnisse dort untereinander sind, was sich in ihrem Leben so ereignet hat. Später habe ich dann angefangen sie zu fotografieren, damit waren sie einverstanden. Aber erst als sie sich daran gewöhnt hatten und nicht mehr versuchten zu posieren oder sich zu verstecken, konnten interessantere Aufnahmen entstehen. Ich wohnte bei einer Freundin meiner Mutter, Jolanka. Einmal rief ihr Bruder an, sie solle ihm helfen das Kartoffelfeld umzugraben und da ging ich mit. Als die anderen aus dem Dorf merkten, dass ich mit anpacken kann und mich relativ geschickt anstelle, wurden sie offener. Sie unterhielten sich mit mir, lachten. Das hat sehr geholfen, das Eis zu brechen. Ich glaube, das Ausschlaggebende war, dass ich mich bemüht habe ihnen etwas Demut entgegenzubringen. Das Gefühl, dass sich jemand für etwas Besseres hält, würden sie nicht ertragen.

Eine Geschichte hast du sogar schriftlich festgehalten, „Der große Berg und der kleine Mensch in ihm“. Was bewegte dich so am Kleinbauern und seiner Stute?

Meine eigene Erfahrung mit schwerer Arbeit machte ich eben mit diesem Kleinbauern, der jeden Tag mit seiner Stute Róza gefällte Bäume aus dem dichten Wald holt. Er macht sie mit Ketten am Geschirr der Stute fest und mit vereinten Kräften ziehen sie die Bäume durch das dichte Gehölz, in dem sie oft hängenbleiben. Sie müssen dann hin und her rangieren, um mit der Fracht überhaupt zu dem Weg zu kommen, wo der Kollege mit dem Traktor wartet. Die Luft vibrierte förmlich von der enormen physischen Kraft, die beide aufbringen mussten, nicht nur die Stute, sondern auch der Bauer. Es war wirklich eine Schinderei, und er machte das sechs Stunden lang. Selbst ich war erschöpft, dabei bin ich nur mit dem Fotoapparat neben ihnen hergelaufen. So arbeiteten die beiden jeden Tag, ob bei Matsch und Regen oder im Winter bei Kälte. Ich weiß nicht, was dieser Mann ohne Róza tun würde.

Hart war das Leben in diesem Dorf schon immer, nicht wahr?

Ja. Es ist ein abgelegenes Dorf, versteckt in den Bergen. Das Leben richtet sich hier seit jeher nach der Natur und den Jahreszeiten. Ich habe viel Zeit mit der Familie von František Kardoš verbracht. Er ist 100 Jahre alt. Von seinem Leben erzählte mir sein Enkel Josef und seine Tochter Vierka, die noch erlebt hat, wie es ist, von morgens bis abends auf dem Feld zu arbeiten. František hatte es aus eigener Kraft zu Besitz gebracht, er besaß Grundstücke, Vieh, Pferde. Darum musste sich die Familie kümmern. Im Zweiten Weltkrieg war František an der Front, was seine Familie und der Hof irgendwie überstanden haben. Danach aber kamen der Kommunismus und die Kollektivierung und die Familie verlor alles. Das Leben hier war immer schon hart.


Das Dorf würden sie aber nicht verlassen?

Wahrscheinlich nicht. Die meisten kennen sich gut. Sie sind zusammen aufgewachsen, sie haben zusammen viel erlebt. Sie haben in Sádočné ihre Wurzeln. Solche Menschen lassen sich nicht einfach so in eine neue Umgebung verpflanzen. In der Stadt ist das Leben anders. Meiner Meinung nach würden sie sich in einer Stadt nur schwer zurechtfinden. Die Bewohner helfen sich hier gegenseitig. Wenn es hart auf hart kommt, unterstützen sie sich. Andererseits leben sie in einer kommunalen Gesellschaft, die schnell jemanden ausschließt, nur aufgrund von Gerüchten oder wegen eines anderen Lebensstils. Und weil das Dorf klein ist, fängt ein Einzelgänger dann bald an zu leiden. Das ist ein großer Unterschied zur Stadt. Dort ist man zwar anonym, auf sich allein gestellt, aber niemand kümmert sich um einen.

Sind die Bewohner von Sádočné gebildet?

Sie haben das, was man Bauernschläue nennt. Man könnte meinen, die Leute aus dem Dorf, die wissen nichts. Aber zum Beispiel Františeks Enkel, Josef Čelko, ist unglaublich intelligent und geschickt. Er hat alles in seinem Zuhause eigenhändig gebaut mit dem, was er fand. Die Geräte, die ihm die Arbeit erleichtern, kann ich nicht einmal beschreiben. Als er mir erklärte wie sie funktionieren, stand ich stumm und staunend neben ihm. Ich hatte großen Respekt vor ihm. Auch eine ältere Dame hat mich erstaunt, sie hieß Vilma. Früher unterrichtete sie Mathematik, sie ist außerordentlich gebildet, intelligent und redegewandt. Sie zeigte mir zum Beispiel, wie sie sich um die Bienen und ihre zwei Ziegen kümmert. In ihrer Küche lagen wiederum alle möglichen Erfindungen, ein Motor, der irgendetwas antrieb und weitere Dinge. Der Einfallsreichtum der Menschen von Sádočné überraschte mich.

Junge Menschen sind selten auf deinen Fotografien zu sehen.

Ich bin kaum jungen Menschen begegnet. Nach Sádočné kommen sie nur während der Ferien oder an Wochenenden. Viele von ihnen studieren und wohnen außerhalb des Dorfes und ich bezweifle, dass sie dorthin zurückkehren werden. Wegen der hohen Arbeitslosigkeit bleiben sie eher in der Stadt. Die einzige persönliche Bekanntschaft machte ich mit einem Jungen aus der Čelko Familie. Auch er kam nur an den Wochenenden, die anderen Tage wohnte er in Trnava in einem Internat. Die Älteren scherzen selbst, sie blieben alleine zurück, aber was sollte ein junger Mensch dort schon machen.


Aber ohne die jungen Menschen wird das Dorf untergehen, meinst du nicht?

Das ist eine schwere Frage. Zumindest würde die Art zu leben nicht fortbestehen. Bauernhöfe zerfallen, ältere Menschen sterben. Gesellschaften ändern sich. Aber es ist möglich, dass dort junge Familien einziehen, die zur Arbeit in die nächstgrößere Stadt Považská Bystrica pendeln. Die Grundstücke in Sádočné sind günstig und die Landschaft ist wunderschön. Zudem kommt man mit dem Auto ganz gut in die Stadt. Es entwickelt sich ein Trend wieder naturnäher zu wohnen.

Sádočné ist jetzt ein anderer Ort, als der aus deinen Kindheitserinnerungen. Hast du dort auch etwas über dich selbst erfahren?

Mir ist bewusst geworden, dass meine eigenen Probleme im Vergleich mit denen der Menschen hier banal erscheinen. Wie könnte ich meine Sorgen mit ihren vergleichen? Ob oder wie man den Winter überlebt, von was man sich ernährt und solche Dinge. Ich schätze jetzt mehr was ich habe, auch noch so Alltägliches wie Wärme, Essen oder ein Dach über dem Kopf. Gleichzeitig bin ich um die Einsicht reicher, wie die Welt dieser Menschen aussieht. Ihre Art zu leben ist meinem Lebensstil in vielen Aspekten sehr fern. Das Reisen, das Fotografieren und die damit verbundene Konfrontation mit Unterschieden hilft mir die Welt besser zu verstehen.

Das Gespräch führte Ester Dobiášová.
Übersetzung: Ria Ter-Akopow

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
März 2015

    Ondrej Čechvala

    Ondrej Čechvala (*1987) promovierte an der Universität Trnava (Slowakei) in Philosophie. Seit drei Jahren widmet er sich intensiv auch der Fotografie, die er begreift als einen Versuch, die Welt um ihn herum zu verstehen. Neben konzeptioneller Fotografie beschäftigt er sich auch mit sozialen Themen, unter anderem dem Leben auf dem Dorf.

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