Die Platte wird noch hundert Jahre alt

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Plattenbaufan Marian Lipták (24): „In der Einfachheit liegt Schönheit.“ Foto: © Marian Lipták

Falls sich Plattenbauten vor Gericht für ihre Hässlichkeit verantworten müssten, hätten sie in Marian Lipták einen leidenschaftlichen Verteidiger. Der 24-Jährige aus dem mährisch-schlesischen Havířov hegt eine uneingeschränkte Bewunderung für die „Platte“. Mit unglaublichem Einsatz sammelt er Informationen über Plattenbauten und hat eine Datenbank mit Fotos von Hunderten dieser Gebäude angelegt.

Am liebsten mag Marian Lipták die Plattenbauten aus den 60er Jahren. „Es heißt immer: alte, graue, depressive Platte... Dabei sind die heutigen Neubauten mit ihren wie aus dem Ei gepellten, pastellfarbigen Fassaden ohne jegliche Vorsprünge wahrscheinlich noch viel einförmiger. Sie unterscheiden sich nur noch in der Farbe. Für mich bedeutet das eine Wende zum Schlechteren“, kommentiert er die architektonische Entwicklung und hofft, dass die ursprüngliche Farbgebung, die sich auf Grau und Weiß beschränkte, erneut Einzug hält.

Dass Sie wirklich ein Plattenbaufan sind, habe ich erst geglaubt, als ich Ihre Papiermodelle von Plattensiedlungen gesehen habe: genau vermessene Etagen, Fensterdekorationen, Zimmereinrichtungen... Woher kommt dieses Hobby?

Modelle geklebt habe ich schon von klein auf. Als Kind habe ich mit Spielzeugautos gespielt. Ich hatte einen Teppich mit Straßen drauf und brauchte dafür Häuser. Ich habe natürlich Plattenbauten gebastelt, denn die fand ich schon damals gut. Wir haben in einem Haus im „Sorela“-Stil gewohnt, also Sozialistischer Realismus. Das war hässlich. Ich fand die Plattenbauten besser.

Sie beschreiben sich selbst als den größten Plattenbauliebhaber in ganz Tschechien. Auch die Macher der populärwissenschaftlichen Webseite panelaci.cz [etwa: plattenbauten.cz] haben mir bestätigt, dass Sie über diese Gebäude so ziemlich alles wissen. Wie kam das?

Das geschah in den vergangenen etwa fünf Jahren, seit ich Internetzugang hatte und einen Fotoapparat bekam, in der Schule die Bibliothek nutzen konnte und so weiter. Als ich durch die Straßen ging, habe ich die Zusammenhänge zwischen den Plattenbauten bemerkt. Meistens gab es zwischen ihnen irgendeinen versteckten Bezug. Mich interessierte, warum... zum Beispiel warum Hochhäuser der Firma VPOS immer bei Gebäudekomplexen vom Typ OP 1.11 stehen, ohne Ausnahme. Aber solche technischen Details werden Ihnen vermutlich nicht viel sagen. Jedenfalls lässt sich an Plattenbauten sehr schön die Entwicklung ablesen.

In Plattenbauten wohnen zwar an die drei Millionen Tschechen, aber viele haben sich eher aus einer Notwendigkeit heraus an sie gewöhnt, als dass sie sie lieben würden... Und doch ist der große Ruhm der Platte Vergangenheit.

In der Einfachheit liegt Schönheit. Ich mag auch den funktionalistischen Baustil: Formen, die Sinn ergeben, keine überflüssigen Verzierungen. Mir gefallen eckige Dinge und das Plattenraster unterteilt große Gebäudemassen recht gut. Manche schimpfen darauf, weil es alle tun. Ich höre aber auch, dass die Bewohner von Neubaukomplexen sagen, dass die schlimmer seien als Plattenbauten. Developer haben unsinnig geschnittene Zimmer bauen lassen, modische Wohnzimmer, die mit der Küche verbunden sind, schräge Wände und ähnlichen Blödsinn.

Aber diese Kaninchenkäfige aus Beton haben auch nicht den besten Ruf?

Kaninchenkäfige? Schwer zu sagen. Wenn ich einige zwölfstöckige Häuser in Prag betrachte, die in den 70er Jahren gebaut wurden, geht es tatsächlich um die Wiederholung eines immer gleichen Moduls; es gibt überhaupt keine Unterschiede, die Häuser haben zehn Eingänge, überall die gleichen Platten mit den gleichen Fenstern. Da kann ich den schlechten Ruf verstehen. Aber was wir zum Beispiel im Mährisch-Schlesischen Kreis haben, das ist eine andere Liga.

Gelingt es Ihnen die Platte zu rehabilitieren?

Viele haben Vorurteile. Sie wollen nicht zugeben, dass Plattenbauten gut sind, weil die „bösen Kommunisten“ sie gebaut haben. Sie argumentieren damit, dass sie grau und alle gleich seien, und sie machen sich lustig über ihren Umakart-Kern. Die Menschen wissen die Platte einfach nicht zu schätzen.

Bedauern Sie das?

Ich bin so eine Art Kämpfer für die Platte. Ich öffne den Menschen die Augen.

Foto: © Marian Lipták
Ein Plattenbau-Papiermodell von Marian Lipták, Foto: © Marian Lipták

Die Zeiten ändern sich aber. Die meisten Plattenbauten sind farbig geworden.

Ich schätze, dass man in einigen Jahren zu den ursprünglichen Farben zurückkehren wird – zu harten grauen Fassaden auf dem dämmenden Polystyrol. Wenn irgendwann alle farbig sind, wird das Grau zurück kommen. Es wird darin gipfeln, dass die Leute alte Fotos ansehen und sich sagen: Das war ja gar nicht so schlecht. Und dann werden sie die Plattenbauten in den ursprünglichen Zustand zurück versetzen. Vielleicht erlebe ich das noch.

Welche Lebensdauer haben Plattenbauten eigentlich? Einige haben schon ein halbes Jahrhundert hinter sich. Ich habe aber gehört, dass sie nur für etwa 40 Jahre ausgerichtet waren. Im großen Stil werden lediglich Aufzüge repariert, Fenster ausgewechselt, Wände gedämmt oder schräge Dächer aufgebaut. Wie hat sich die Zeit auf die Plattenbauten ausgewirkt?

Es wird überall angegeben, dass Plattenbauten für eine Lebensdauer von 30 bis 50 Jahren konzipiert wurden. Damit ist aber nicht die Konstruktion, sondern die technische Ausstattung gemeint – also etwa Küchenzeilen, Steigleitungen, Aufzüge. Bis heute haben aber selbst Experten keine Ahnung von der Lebensdauer der Betonkonstruktionen. Ich weiß von keinem Plattenbau, der – etwa durch Wettereinflüsse – von selbst auseinanderfallen würde. Und der Zahn der Zeit? Wenn ich die Plattenbauten des Typs G40 in Zlín als Beispiel nehme: Die wurden 1953 gebaut, haben also schon mehr als 60 Jahre hinter sich, und sie halten.

Werden wir also noch einhundert Jahre alte Plattenbauten erleben?

Bestimmt. Die ältesten sind aus dem Jahr 1953.

Sind alle in einem ähnlichen Zustand?

Ich kann als Beispiel den Typ G57 nennen, der landesweit gebaut wurde: In Havířov stehen zwei der ältesten – bis heute. Von außen sind sie noch im Originalzustand, da ist nicht der geringste Makel. Sie sind aus Brisolit, dieses Baumaterial schützt das Gebäude. Die Lebensdauer wurde also erheblich unterschätzt. Die leidet eher unter den Eingriffen in tragende Wände, wie dem Herausbrechen von Durchreichen und Ähnliches. Die Plattenbauten ohne Brisolit sind schlechter dran. Es regnete hinein, auf ihnen wuchs Moos. Zumindest bei einigen Typen. Während des Kommunismus hat man sich darum nicht gekümmert, eine Wartung fand nicht statt. Aber heute fault es auch in den wärmegedämmten Plattenbauten.

Warum das?

Die Stelle, wo sich die kalte Luft von außen und die warme Luft von innen treffen, verlagert sich wegen der Dämmung von der Mitte einer Bauplatte an ihre Ränder, zwischen das Polystyrol und die Platte. Dort kann Schimmel entstehen und der verursacht gesundheitliche Probleme. Zudem dichten die Plastikfenster so gut, dass es in Verbindung mit der Wärmedämmung eher zu einer Zersetzung kommt. Ich würde deshalb nur neue Fenster einsetzen. In Ostrava habe ich gesehen, dass wegen des Schimmels erneut gedämmt werden musste.

Die Siedlungskomplexe selbst stehen also noch, aber der soziale Zusammenhalt der Bewohner ist vielerorts verschwunden. Nachbarn kennen sich überhaupt nicht mehr, kaum jemand hängt draußen seine Wäsche zum Trocknen auf, es herrscht Anonymität...

Ich bin 24 Jahre alt. Die anfängliche Begeisterung für die Neubauten in den 60er Jahren habe ich also selbst nicht erlebt, aber ich höre gerne die Geschichten der Zeitzeugen. Nach dem Krieg haben manchmal in einer Wohnung mehrere Familien gemeinsam gewohnt. Viele zogen dann aus alten Häusern im Zentrum, wo Bad und WC auf dem Gang waren, in die Plattenbausiedlungen am Stadtrand. Deren Wohnbedingungen haben sich also mit dem Umzug in die Platte erheblich verbessert. In den Plattenbauten haben die einzelnen Wohnparteien den Bereich vor den Wohnungstüren verschönert und sich auch um die Umgebung gekümmert. Damals kannten sie sich untereinander besser, weil sie zum Teil auch aus dem selben Dorf stammten. Heute sind die Hochhäuser vollkommen anonym.

Früher kamen zwei Autos auf ein Haus, heute kommen zwei Autos auf eine Familie... Dieser Entwicklung hatten die Siedlungen wenig entgegenzusetzn.

Der Parkplatzmangel ist vermutlich das größte Problem der Plattensiedlungen. Ihr ursprüngliches Konzept in den 60er Jahren war das Wohnen im Park: Große Gebäude, die weit voneinander entfernt standen mit viel Platz dazwischen, also das genaue Gegenteil zu den Stadtzentren mit ihren kleinen, dreckigen Gässchen und dunklen Innenhöfen. Mit einer derartigen Zunahme des Autoverkehrs wie nach der Wende war nicht zu rechnen. Ich will das den Bauherren nicht ankreiden.

Foto: Lukáš Mižoch, CC BY-SA 2.5
Plattenbauten in Mariánské hory / Ostrava (Ostrau), Foto: Lukáš Mižoch, CC BY-SA 2.5

Woher haben Sie Ihre Informationen?

Alles habe ich selbst recherchiert. Schon als ich auf die Mittelschule kam, war ich ein Plattenbauverrückter. Später haben mir Arbeitskollegen Wohnungsgrundrisse und so etwas mitgebracht. Ich sammele einfach alles, was mit Plattenbauten zu tun hat, jedes Mosaiksteinchen ist für mich von Bedeutung. Ich verstehe mich da als eine Art Detektiv. Ich habe aber ein bisschen die Sorge, dass ich das Rätsel eines Tages löse und dann nichts mehr zu tun haben werde.

Wie viel Zeit verschlingt Ihre Leidenschaft für die Plattenbauten?

Viel Zeit. Meistens fahre ich tagsüber durch die Siedlungen, suche nach ursprünglichen Aufzügen und so weiter. Wenn ich drin bin, kontaktiere ich den Hausmeister. Der lässt mich dann oft überall hin, auch auf das Dach. Vorher muss ich aber jedes Mal lange erklären, worum es mir geht, denn das Hobby ist schon ungewöhnlich. Wenn ich dann alle Informationen beisammen habe, veröffentliche ich sie.

Wohin hat Sie die Begeisterung für die Platte schon überall hin geführt?

Städte besuche ich nur der Plattenbauten wegen. Ich nehme dann den Fotoapparat mit und mache Tagesausflüge. Ich war unter anderem in Ostrava, Havířov, Karviná, Frýdek-Místek, Opava, Frenštát pod Radhoštěm, Frýdlant nad Ostravicí, Olomouc, Prag, Brno, Hradec Králové und in weiteren kleineren Städten. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, irgendwo Zeit zu verbringen, fahre ich nicht in die Stadtzentren sondern in die Plattenbausiedlungen.

Wie ist es im internationalen Vergleich um die tschechischen Plattenbauten bestellt?

Ich habe den Vergleich mit der Slowakei und Deutschland. In der Slowakei sind die Plattenbauten wirklich scheußlich. Sie haben keinen wirklichen Stil, kein Motiv. Sie sind denen in der Ukraine oder in Russland recht ähnlich. In ihrer Konstruktion gingen sie aber aus denen in Tschechien hervor, man muss also nicht fürchten, dass sie einfach in sich zusammenfallen. In Deutschland ist mancherorts der äußere Anblick besser. Dort aber ist das große Problem, dass die Zimmerwände aus Pappe sind, aus der deutschen Version unseres Umakart. Der schadet aber meiner Meinung nach dem Haus und ist eine Schande für die Besucher. Unsere Plattenbauten schneiden im Vergleich wirklich gut ab. Ich habe vor, mir auch die polnischen anzusehen, aber große Wunder erwarte ich dort nicht.

Umakart ist ein Werkstoff aus Harzen und Papier und gehört zur Gruppe der HPL (High Pressure Laminate). Umakart wurde in der Tschechoslowakei seit den 1940er Jahren hergestellt und vor allem in der Möbelproduktion und im Bauwesen eingesetzt; in Wohnparzellen von Plattenbauten verbaute man Wände aus Umakart. Der Name Umakart ist eine Abkürzung von umělý karton, auf Deutsch: künstlicher Karton. Quelle: wikipedia
Das Gespräch führte Ondřej Zuntych.
Übersetzung: Patrick Hamouz

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
März 2015

    Marian Lipták

    Marian Lipták (*1990 in Ostrava) lebt im mährisch-schlesischen Havířov. Er absolvierte die Mittelschule für Bauwesen und Holzverarbeitung. Als Handwerker ist er jedoch nicht tätig. Stattdessen arbeitet er für eine Firma, die vor allem Transformatorkerne herstellt. Die Gelegenheit, schöne Möbel für Plattenbauten zu produzieren, würde er allerdings nicht ausschlagen. Neben seiner Begeisterung für Plattenbauten ist ein weiteres großes Hobby von Marian Lipták seine umfangreiche Sammlung an Siemens-Telefonen.

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