Problem Prokrastination

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Die Last des Aufschiebens – und wie wir sie vielleicht doch besiegen

Hans-Werner Rückert, Foto: © Hoffotografen

Ein neues Text-Dokument angelegt, kurz nachgedacht. Einen Satz angefangen, ihn schnell wieder gelöscht. Facebook geöffnet, die Neuigkeiten von oben nach unten überflogen. Den Abwasch erledigt, noch eben eine SMS verfasst – und mich dann endlich wieder zurück ans Schreiben gemacht. Erste Selbstdiagnose: Prokrastination im Anfangsstadium. Doch die Symptome kennt wohl fast jeder.

Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen, so sagt es der Volksmund. Ein prägnanter Warnhinweis in Reinform wie in Reimform. Schon in Jugendtagen werden wir darauf regelmäßig mit erhobenem Zeigefinger hingewiesen. Und dennoch: Der Drang, Aufgaben aufzuschieben, begleitet uns ein Leben lang. Den einen etwas mehr, den anderen weniger.

Hans-Werner Rückert ließ das Phänomen ebenfalls nicht los. Doch nicht die Prokrastination beschäftigt ihn, sondern er sich intensiv mit ihr. Und das freiwillig. Rückert ist Diplom-Psychologe an der Freien Universität Berlin und das menschliche Aufschieben für ihn „ein wunderbares Rätsel“. Eines, das er entschlüsseln wollte: „Mich hat interessiert, welche Mechanismen dahinterstecken.“

Die Wahl des richtigen Zeitpunktes

Ob und wie wir etwas aufschieben, ist nach seinen Erkenntnissen auch eine Frage des Typs. Da gibt es einerseits die „Vermeidungsaufschieber“ – sie gehen von einem Versagen aus, negative Gedanken plagen sie und das hemmt sie letztlich. Andere prokrastinieren aus Erregung, machen alles unter Adrenalinschüben auf den letzten Drücker und sind mit dieser Taktik sogar oft noch erfolgreich.

Überhaupt sei Prokrastination nicht schon per se als negativ einzustufen, sagt Rückert. Sie könne durchaus auch in einem positiven Zusammenhang erfolgen. Als Beispiel nennt der Psychologe ein menschliches Urgefühl: die Liebe. „Die Wahl des richtigen Zeitpunktes ist schon immer ein wichtiges Thema gewesen.“ Auch in Beziehungen (oder auf dem Weg dorthin): „ Ob man ein weiteres Date noch ein bisschen aufschiebt oder nach dem ersten Treffen sagt: ‚Oh, das war so schön! ‘ – um sich gleich wieder zu treffen: Diese Frage stellt sich natürlich auch allen Liebenden.“

Wischmopp statt Seminararbeit

In der Regel steht bei der Prokrastination statt Liebe allerdings eher Aufwendiges oder Lästiges im Vordergrund. Ob es um Abschlussarbeiten an der Uni geht, eine Auto-Inspektion oder das Aufräumen der Wohnung, gerne schieben wir solche beschwerlichen Tätigkeiten auf. Stattdessen tun wir manchmal sogar noch Unangenehmeres. Rückert hat auch dafür eine Erklärung: „Die emotionale Bewertung eines Vorhabens kann sich – in Relation zu anderen Vorhaben – verändern.“ Oder weniger akademisch: Was uns eigentlich gar keinen Spaß macht, scheint plötzlich gar nicht mehr so schlimm zu sein.

So greifen beispielsweise Studenten schließlich doch lieber zum Wischmopp, anstatt sich wissenschaftlichen Themen zu widmen. Einfach – so Rückert – weil man es kann: Die erforderlichen Handgriffe sind gespeichert, die Tätigkeit ist mühelos umsetzbar. Schwierigkeiten: Fehlanzeige. Die größte Gefahr besteht darin, tollpatschig einen Putzeimer umzuschmeißen oder ein Staubkorn zu übersehen.

Prokrastination ist kein Problem einer einzelnen Nation oder Generation. Nach Angaben Rückerts sind weder bestimmte Altersgruppen noch Männer oder Frauen bewiesenermaßen besonders anfällig fürs Aufschieben. Auch die Verlockungen des 21. Jahrhunderts spielen nur bedingt eine Rolle: „Wir unterschätzen die Ablenkungsquellen, die es vielleicht früher gab“, so Rückert. In Zeiten von Smartphones, Emails und iTunes neigten wir aber eben dazu, zu glauben, dass es mehr Ablenkungsmöglichkeiten gebe.

Laster und Luxus

Um aus der Prokrastinations-Falle herauszukommen oder bestenfalls gar nicht erst hinein zu geraten, rät der Experte: „Man sollte Aufgaben in kleinere Einheiten herunter brechen, wann und was genau man machen will, damit man am Ende überprüfen kann, ob man es umsetzen konnte oder nicht.“ Anschließend setzt dann das Belohnungsmanagement ein – und Rückert empfiehlt, großzügig mit sich umgehen „und sich auch mal nur für das Durchhalten am Schreibtisch etwas gönnen“.

Doch dass jeder Mensch anders tickt, gilt auch in Sachen Prokrastination. Während die einen sich sehr gut mit dem Motto arrangieren, wonach Vergnügen und Belohnung erst nach der Arbeit folgen, sind andere auf sofortige „Instant-Befriedigung“ gepolt, wie es Rückert nennt. Dies hänge immer auch von früheren Lebensumständen, Erziehungsstrategien und Vorbildern ab. Wer zu der Gruppe gehört, die zum „Belohnungsaufschub“ fähig ist, hat zwangsläufig weniger Schwierigkeiten.

Prokrastination kann ein ernsthaftes Problem sein, ein krankmachendes sogar. Doch man kann es auch positiv sehen: Wer in der Lage ist, zu prokrastinieren, hat wohl die Zeit und die Möglichkeit, sich Aufgaben frei(er) einzuteilen. Und so versteckt sich hinter dem Laster auch ein Hauch von Luxus.

Matthias Mischo

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Oktober 2012