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Harun Farocki
Ich sehe was, was Du nicht siehst

Harun Farocki
Harun Farocki | © Hertha Hurnaus

Harun Farocki (1944-2014) war ein Regisseur, dessen scharfsinnige Filmessays die neue Medienwelt analysierten. Mit radikalem Blick versuchte er, den Bildern ihren Eigensinn wiederzugeben, ihre politischen und kulturellen Codierungen freizulegen.

Die Einstellung ist die Einstellung – über vier Jahrzehnte hinweg hat der Filmemacher, Essayist, Medienkünstler und Medientheoretiker Harun Farocki diese Maxime mit seinen Filmen in die Praxis umgesetzt und in der deutschen Kinolandschaft ein monolithisches Werk geschaffen. Mit seinem minimalistischen und zugleich realistischen Stil zählte er zu den profiliertesten Dokumentarfilmern seiner Generation. Der Bildausschnitt, die Position der Kamera, erzählen bei ihm tatsächlich von einer politischen Einstellung oder auch Haltung zur Welt. Da sich diese Welt für Farocki zunehmend in eine mediale verwandelte, eine Welt, die mit Bildern repräsentiert, Macht konstruiert und dekonstruiert, wurde das Sehen selbst sein großes Thema. Oder um den Bilderforscher und -phänomenologen selbst zu zitieren: „Man muss keine neuen Bilder suchen, aber man muss die vorhandenen Bilder in einer Weise bearbeiten, dass sie neu werden.“

Verfremdungsstrategien und neue visuelle Territorien

Was sah Harun Farocki also, was uns entgeht? Und wie führte er uns das übersehene und Ungesehene vor Augen? Schaut man sich seinen 1996 entstandenen Dokumentarfilm Der Aufritt an, wird man zunächst mit Begrifflichkeiten konfrontiert, die sich nicht einordnen lassen. Die Handlung ist zunächst ganz und gar unverständlich: Was meint der junge Mann, den die Kamera ins Visier genommen hat, wenn er von „weichen Faktoren“ spricht, von „Negativszenarien“ oder „Multithematisierungskampagnen“? Ohne Einführung, ohne Kommentar, ohne Vorstellung der sprechenden Person fühlt man sich dem Fachjargon hilflos ausgesetzt. Erst wenn nach einiger Zeit Entwürfe für das Logo „Eyedentity“ eingeblendet werden und das Wort Augenoptiker fällt, stellt sich ein Sinnzusammenhang her. Der Auftritt zeigt die Entwicklung einer Werbekampagne.
Interview mit Harun Farocki, entstanden im Rahmen eines Projektes des Goethe-Instituts Boston, 2013 (Youtube.com)

Irritieren, dekonstruieren, fokussieren, chaotisieren, verunsichern – so lauten die Verfremdungsstrategien von Harun Farocki. Letztlich setzte dieser Filmemacher die Verfremdungsarbeit Bertolt Brechts auf der Leinwand fort. Sein kritischer Blick auf die Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft und seine Skepsis gegenüber etablierten Bildkonventionen führten ihn in immer neue Welten und visuelle Territorien. Farocki sah sich in Manager-Schulungsseminaren und den Schaltstellen des neuen Kapitalismus um, verfolgte Verkaufsgespräche und Verhandlungsstrategien von Bankern (Die Schulung, 1987) und sezierte die neue Bilderpolitik während des Ersten Golfkriegs in Erkennen und Verfolgen (2003).

Die historische Zeugenschaft des Auges

Die für kurze Momente auftrumpfende Musik in Erkennen und Verfolgen könnte aus einem reißerischen Kriegsfilm stammen und betont den propagandistischen Subtext der Nachrichtenbilder, die Anfang der Neunzigerjahre um die Welt gingen. Zum ersten Mal wurden Kameras auf Flugkörper montiert und der Einschlag von Bomben live dokumentiert. Mit Archivmaterial, Wiederholungen und Zeitlupenaufnahmen der Bombenabwürfe sowie in Interviews mit Mitarbeitern moderner Rüstungskonzerne reflektiert Farocki eine neue elektronische Kriegsführung, die nicht neue Waffen einsetzt, aber eine neue Ästhetik des Krieges erschafft. Wo bleibt die historische Zeugenschaft des Auges, wenn Bombe und Berichterstatter eins geworden sind? – So lautet Farockis Frage.

Von Brecht zu Godard

Harun Farocki, als Sohn einer Deutschen und eines indischen Arztes 1944 im sudetendeutschen Neutitschein (heute Nový Jičín in der Tschechischen Republik) geboren, wuchs in Indien und Indonesien auf und zog mit seiner Familie 1958 nach Hamburg. Im Jahr 1962 ging er nach West-Berlin, wo er sein Abitur nachmachte. Dort begann auch sein künstlerischer Werdegang, in einer Zeit, als sich die Kunst politisierte und Jean-Luc Godard seine inzwischen legendäre Forderung stellte: Man müsse nicht politische Filme machen, sondern den Film politisch machen. 1966 gehörte Farocki zum ersten Jahrgang von Studenten an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb). Der gesellschaftliche Umbruch stand vor der Tür, die Bilder des Vietnamkrieges schockierten die Welt. In Berlin übernahmen die Filmstudenten Ideen der Außerparlametarischen Opposition – so radikal und vehement, dass Farocki neben dem späteren RAF-Mitglied Holger Meins, Hartmut Bitomsky und Wolfgang Petersen wegen unerwünschter politischer Aktivitäten die Hochschule verlassen musste.

Es war die Zeit, in der Harun Farocki in einer seiner ersten Arbeiten den eigenen Körper als Anschauungsmaterial benutzte. In Nicht löschbares Feuer (1968) sitzt er im Anzug mit der Haltung eines Nachrichtensprechers an einem Pult und spricht über Napalm. „Wir können Ihnen nur eine schwache Vorstellung davon geben, wie Napalm wirkt“, sagt Farocki. Dann nimmt er eine Zigarette und drückt sie auf seinem linken Unterarm aus. „Eine Zigarette verbrennt bei etwa 400 Grad“, er bewegt die Hand, so dass die Brandwunde sichtbar wird, „Napalm verbrennt mit etwa 3.000 Grad“. Vom Sehen zum Spüren, so könnte man die Bewegung umschreiben, die dieser frühe Farocki-Film durchläuft. Natürlich sieht man die Brandopfer des Vietnam- Krieges plötzlich mit anderen Augen. Und natürlich wecken der Besuch bei einem der Napalm-Hersteller und dessen wissenschaftliche Ausführungen im Film Assoziationen zu Zyklon B, das in deutschen Konzentrationslagern – insbesondere in Auschwitz – zur Ermordung der Insassen eingesetzt wurde.

Bilder, Vor-Bilder, Geschichtsbilder

Harun Farocki realisierte über 90 Filme, er war Autor und Redakteur der 1984 eingestellten Zeitschrift „Filmkritik“, Dramaturg, Theaterregisseur und Filmhochschuldozent. In den letzten Jahren arbeitete er verstärkt für Museen und Galerien, realisierte Medien- und Videoinstallationen, weil das deutsche Kino und Fernsehen wenig Raum für seine essayistischen Arbeiten boten. In den Spielfilmen des Regisseurs Christian Petzold wiederum fanden seine theoretischen Diskurse ihr fiktionales Echo. Bei langen Spaziergängen durch Berlin-Kreuzberg entwickelten sie gemeinsam dessen Drehbücher. Nicht ohne Risiko (2004), Farockis dokumentarische Reflexion über den Heuschreckenkapitalismus, wurde zum Vor-Bild für Petzolds Drama Yella (2007). In Barbara (2012) werfen sie gemeinsam mit der von Nina Hoss gespielten Titelheldin einen überraschend anderen Blick auf die DDR. Seine letzte gemeinsamen Zusammenarbeit mit Petzold, das Nachkriegsdrama Phoenix (2014) erzählt auf erstaunliche Weise von Erinnerung, Identität, Selbst- und Fremdwahrnehmung – und macht noch einmal deutlich, wie sehr die Kinolandschaft Farockis Verfremdungen braucht, um neue Geschichtsbilder zu finden. Dies war seine letzte gemeinsame Zusammenarbeit mit Christian Petzold, am 30. Juli 2014 starb Harun Farocki mit 70 Jahren in der Nähe von Berlin.

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