Christina Viragh im Gespräch
„Der Text muss furchtlos übersetzt sein“

Der Text muss furchtlos übersetzt sein_Magazin
Brücke Berlin Preis | Foto: Jürgen Keiper

Christina Viragh ist nicht nur eine erfolgreiche Schriftstellerin. Sie zählt auch zu den bedeutendsten Übersetzerinnen der ungarischen Literatur. Für die Übersetzung von Péter Nádas‘ Parallelgeschichten wurde sie dieses Jahr mit drei Preisen gewürdigt, den „Brücke Berlin“-Preis hat sie mit dem Autor gemeinsam erhalten. Christina Viragh hat mit uns über das Schreiben und das Übersetzen gesprochen.

Sie haben sich bereits als Kind entschlossen, Schriftstellerin zu werden – warum hatten Sie gerade diesen Traum?

Vielleicht ahnte ich schon damals, dass ich das Leben nur so würde bewältigen können. 

Gab es bestimmte Autoren oder Werke, die Sie inspiriert oder zum Schreiben angeregt haben?

Alles, was man liest, ist Inspiration und Anregung, auf direkte oder weniger direkte Art. Wer mich ganz besonders angerührt hat und immer noch anrührt, ist Gyula Krúdy.

Hatten Sie einen ‚Meister‘, der Sie am Anfang unterstützt hat?

Ja, Hanno Helbling, damals Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung.

Wie finden Sie den Anstoß für Ihre Romane?

Indem ich mit mir selbst dialogisiere. Schriftlich. Ich stelle mir schriftlich eine Menge Fragen, um herauszufinden, was ich erforschen will. Welches für mich emotional aufgeladene Gebiet. Dass ich es erforschen will, fühle ich, aber was es genau ist, das mich anzieht und herausfordert, finde ich anhand dieses schriftlichen Dialogs heraus.

Warum ist von Ihren fünf Romanen gerade Mutters Buch auf Ungarisch erschienen?

Einfach weil es in dem Moment das aktuellste war.

Darf man damit rechnen, dass Ihre anderen Romane auch bald auf Ungarisch herausgegeben werden?

Ja, Gabriella Hajós hat meinen jüngsten Roman, Im April, gerade fertig übersetzt. Er wird, so hoffe ich, nächstes Jahr erscheinen.

Wie kamen Sie zum Übersetzen?

Das Übersetzen kam zu mir. Ein Verleger hat mich gefragt, ob ich ein bestimmtes Buch übersetzen möchte, und ich habe ja gesagt.

Was waren Ihre ersten Versuche?

Ich habe mit Übersetzungen aus dem Französischen begonnen, zum Beispiel an der Ausgabe von Paul Valérys Cahiers/Hefte mitgearbeitet. Meine erste Übersetzung aus dem Ungarischen war Zwiesprache(Párbeszéd) von Péter Nádas und Richard Swartz, 1992.

Sie haben Werke u.a. von Dezső Kosztolányi, Sándor Márai, Antal Szerb, László Krasznahorkai, Imre Kertész und Péter Nádas übersetzt. Warum haben Sie gerade diese Autoren gewählt?

Auch da muss ich sagen, dass eher die Autoren mich gewählt haben, eben in dem Sinn, dass sie oder, viel häufiger, die Verlage mich angefragt haben, ob ich das in Frage stehende Werk übersetzen möchte. Eine Wahl ist es aber doch, weil ich ja nicht auf alle Anfragen eingehe.

Haben Sie nie daran gedacht, auf Ungarisch zu schreiben?

Nein, dafür bin ich zuwenig lange in die Schule gegangen, in Ungarn, heißt das. Meine Höchstleistung sind Gedichte bei Gesellschaftsspielen.

Betrachten Sie sich in erster Linie als Schriftstellerin oder als Übersetzerin?

In erster und auch in letzter Linie als Schriftstellerin.

Inwiefern ist es anders, den Roman eines noch lebenden Schriftstellers und den eines klassischen Autors zu übersetzen?

Kann man gar nicht so leicht beantworten. Natürlich: mit dem lebenden kann man reden, oder er kann einem dreinreden, aber worauf es wirklich ankommt, ist die Beziehung zwischen mir, der Übersetzerin, und dem Text. Diese Beziehung ist es, nach der man fragen sollte, weil sie von Buch zu Buch verschieden ist, unabhängig davon, ob der Autor lebt oder nicht.

An der Übersetzung von Péter Nádas‘Parallelgeschichten haben Sie vier Jahre lang gearbeitet und während dieser Zeit haben Sie sich mit dem Autor über den Text oft ausgetauscht. Hatten Sie früher ähnliche Erfahrungen?

Ähnliche ja, insofern ich mich auch mit anderen Autoren getroffen, mit ihnen gearbeitet habe, aber nie so lange und so intensiv.

Hatten Sie mit der Übersetzerin Ihrer Romane auch einen intensiven Austausch?

Ja, Gabriella, die auch mehrere kürzere Sachen von mir übersetzt hat, und ich gehen jeweils gemeinsam den Text durch, notfalls per Mail, viel lieber zusammen bei ihr oder mir zu Hause, schon weil wir alte Freundinnen sind.

In einem gemeinsamen Interview mit Ihnen und Péter Nádas hat Herr Nádas gesagt: „Ein/e Übersetzer/in weiß eigentlich über den Autor mehr, als der Autor selbst”. Können Sie sich mit diesem Gedanken identifizieren?

Ich würde eher sagen, dass die Übersetzerin wahrscheinlich mehr über das Buch weiß als der Autor selbst. Sie muss ja unter anderem textanalytisch vorgehen, den Text in allen seinen Aspekten, von seiner Gliederung bis zu seinen Stil-Lagen, erkennen und präsent halten. Der Autor braucht sich das alles nicht unbedingt bewusst zu machen. Wenn man will, kann man aus diesen die Narration betreffenden Erkenntnissen Rückschlüsse auf die Psyche des Autors ziehen. Muss aber nicht sein.

Was macht Ihrer Meinung nach die ‚gute Übersetzung‘ aus?

Furchtlosigkeit. Der Text muss furchtlos übersetzt sein. Damit meine ich, dass die Übersetzerin keine Angst haben darf, die Sätze des Originals fallen zu lassen, ins Gebrodel der Zielsprache hinein, wo sie sich zuerst einmal auflösen. Um dann das herauszufischen, was die ‚gute Übersetzung‘ ist, nämlich ein neues Original.

Inwiefern bedeutet es ein Durchdringen des Originalwerks durch den eigenen Stil des Übersetzers?

Der eigene Stil ist keine feste Einheit, keine Art von literarischem Identitätsausweis. Er variiert je nachdem, was man sagen will. Als Übersetzerin identifiziere ich mich mit dem, was der Autor sagen will, und übernehme damit auch seinen Stil. Natürlich treten in der Wahl von Wörtern und Wendungen meine persönlichen Vorlieben zutage, aber das ist noch lange kein Stil, und von Durchdringen kann erst recht nicht die Rede sein.

Was bedeutet für Sie das Schreiben und was das Übersetzen?

Schreiben ist eine Existenzform, Übersetzen eine Arbeit, bei der man zum Glück die Fähigkeiten, die man sich in seiner Schriftstellerexistenz angeeignet hat, anwenden kann. Und umgekehrt: das Übersetzen fördert die sprachliche Fitness.

In der deutschen Übersetzung der Parallelgeschichten kommen auch einige Helvetismen vor. Könnten Sie einige Beispiele dafür geben?

Ja, jemand hat gesagt, er habe im Text Helvetismen ausgemacht, und ich habe sie bereitwillig zugegeben, weil ich gern zu ihnen stehe, zu bestimmten jedenfalls, da sie eine Bereicherung der deutschen Sprache sind. „Eindunkeln“ und „Einnachten“ zum Beispiel. Aber ich wüsste nicht, wo in der Übersetzung so etwas vorkommt. Ich sage das nicht, um mich zu verteidigen, sondern einfach weil ich mich nicht erinnere. Wie gesagt, ich stehe freudig zu meinem helvetischen Einschlag, natürlich ohne ihn forcieren zu wollen.

In einer Reportage wurden zwischen Ihrem Leben und der Welt des Romans auch Parallelen gezogen: „Reisen und Ankommen, Heimat und Abschied, das sind die zentralen Begriffe im Leben von Christina Viragh. […] Das war 1960, als Christina Viragh in die Schweiz kam. Ihr Vater hatte mit dem ungarischen Aufstand sympathisiert, der 4 Jahre zuvor von russischen Panzern niedergewalzt wurde. Auch in Peter Nadas’ Parallelgeschichten liegen die Gewalttaten des 20. Jahrhunderts wie eine Blaupause unter den Lebensläufen der Figuren. Genauso, wie unter der Biografie von Christina Viragh.“ Was halten Sie von dieser ‚Parallelgeschichte‘?

Trifft völlig zu, was auch kein Zufall ist. Nádas und ich sind Ungarn, ob emigriert oder nicht, der mehr oder weniger gleichen Generation, uns haben dieselben historischen Ereignisse beeinflusst. Ein persönlicher oder biografischer Bezug der Übersetzerin zum Originalwerk oder zur Welt des Originalwerks kann auch die Arbeit an der Übersetzung positiv beeinflussen. Es fällt leichter, etwas, das man selbst erlebt hat, zu einem lebendigen, pulsierenden Text zu machen. Pulsierend ist übrigens ein Wort, das Nádas oft verwendet.

Was bedeuten für Sie die Anerkennung und die Preise, mit denen Sie für die Übersetzung der Parallelgeschichten gewürdigt wurden? 

Schwung, Luft, Lust aufs Weitermachen.

Welche Pläne haben Sie jetzt für die nächste Zeit?

Ich bin dabei, meinen neuen Roman zu schreiben.