Heimat in der Höhe – Neue deutsche Filme
Heimat – und wie einige Filme aus Deutschland auf einen sehr schwierigen Begriff reagieren

Schwarze Milch
Schwarze Milch | © 2018 Sven Zellner / Agentur Focus

Von Georg Seeßlen

I. (Entgiftung)

Einst war „Heimat“ in der deutschen Sprache eine eher sachliche Zuschreibung: Im Wörterbuch der Brüder Grimm wurde es beschrieben als „der Geburtsort oder ständige Wohnort, das Land oder auch nur der Landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden Aufenthalt hat“. Im süddeutschen Raum ist es noch heute unter den älteren gebräuchlich als Bezeichnung für den Ort, an dem man Unterkunft, Nahrung und Sicherheit hat. Dann erst wurde er aufgeladen, romantisch, folkloristisch, ideologisch, am Ende faschistisch. Heimat wurde zu dem Gift, mit dem sich Kitsch und Gewalt verbinden ließen.
 
Leider ist es oft nicht so einfach, wie es Ernst Bloch einst schrieb: „Ein schädlich gewordener Name soll gewiss nicht mehr verwendet werden. Er erweckt sonst falsche, verwechselnde Meinungen, macht überflüssige Arbeit, diese wegzuschaufeln.“[1] Der Begriff „Heimat“ ist, was die deutsche Sprache und die deutsche Geschichte anbelangt, bar jeder Unschuld; der Ballast, mit dem Nationalismus, Rassismus und Faschismus diesen Begriff befrachteten, ist wirksam noch. Doch die Arbeit, diesen Palast wegzuschaufeln, ist beileibe nicht überflüssig. Denn man kann vielleicht von „Heimat“ schweigen, Die mit ihm verbundene Sehnsucht verdrängen kann man nicht.
 
Dies zuerst: Heimat ist ein Gefühl in erster Person Einzahl. Man kann sie nicht ohne weiteres teilen, so wie man eine Überzeugung oder ein Programm oder gar eine Ideologie teilen kann. Andererseits aber hat niemand „Heimat“ für sich allein. Um es also kühl zu beschreiben: Heimat ist eine subjektive Resonanz einer objektiven Gemeinschaft in einem bestimmten Raum. Keine Gegebenheit, sondern ein Echo. Meine Schwester, die mit mir in der selben Gemeinschaft, im selben Territorium und in der selben Familie aufgewachsen ist, muss deshalb noch lange nicht das gleiche Heimat-Empfinden haben. Allerdings pflegt man es sich gelegentlich gemeinsam zu konstruieren, in Erzählungen, in Bildern, in Begriffen – und in Filmen.
 
Aber eine Heimat ohne das Ich, das ist nur noch Ideologie und Spektakel. Daher ist es verständlich, dass die meisten (überzeugenden) Filme einen ausgeprägt (auto-)biographischen Charakter aufweisen, und dass umgekehrt Filme, die „Heimat“ als Kollektiv-Begriff einsetzen, dazu tendieren, ihn in eine Richtung von Überzeugung, Programm oder gar Ideologie zu verschieben. So gut man Heimat „erzählen“ kann, so schwer (wenn nicht unmöglich) ist es, Heimat zu „erklären“. Etwas geschieht da, zwischen einem utopischen Begriff, wie ihn Ernst Bloch gebrauchte, und einem reaktionär-ideologischen Begriff, wie ihn die Faschisten gebrauchen, und zwischen diesem einzelnen, unverwechselbaren Erfahrungsteil, den jeder Mensch für sich hat, und jenem Begriff auf eine Hoffnung für alle Menschen, dort wo Heimat und Fremde, oder Heimat als eigenes und Heimat als das der anderen gegeneinander gesetzt wird. Ein glücklicher (wenn auch oft ferner) Ort kann Heimat wohl nur sein, wo sich Biographie und Utopie gegen die Inbesitznahme des Begriffs verbünden.
 
Die Verbindung von Biographie und Utopie kann man auch „Kunst“ nennen. Die technisch radikalste Methode dazu ist der Film.

II. (Passage)

WALCHENSEE FOREVER Dies ist einer jener Filme, die man „düstere Heimat-Thriller“ genannt hat, und die davon handeln, dass eine Rückkehr in die Heimat der eigenen Familie nicht ins verlorene Glück sondern zu einer Katastrophe führt. Einmal mehr geht es, und vielleicht ist das nicht so erstaunlich, um ein Schwesternpaar und um eine Rückkehr. Die Geschwister und ihre Beziehung zu Eltern und noch mehr zu Großeltern, das ist ein Topos der deutschen Erinnerungskultur. Und wie bei Heise beginnt auch hier alles mit einem Anklang an das Märchen (als läge darin der Urgrund aller Erinnerung und allen Erzählens). Im Gegensatz zu Thomas Heises Film allerdings beginnt der Film von Jana Ji Wonders nicht mit einer Geste des Widerstands, sondern mit der Erfahrung des Verlustes. Der Großvater kommt als gebrochener und zerstörter Mensch aus dem Krieg zurück, einer (von vielen), denen die Träume schon genommen sind, bevor überhaupt an eine Verwirklichung gedacht werden kann. Und diese Familie wird nicht in die Geschichte und in die großen Diskurse der Zeit eingreifen, sondern (keinesfalls weniger bedeutend) einen Knotenpunkt in der Struktur des Alltagslebens besetzen. Ein Ausflugslokal am See, einen Ort des kleinen Glücks. So wie „Heimat“ bei Thomas Heise in der Weitergabe von Ideen entstehen könnte (und es doch nicht tut), so entsteht „Heimat“ bei Wonders mit der Kontinuität eines Hauses (das doch nicht Bestand haben kann).
Walchensee Forever
Walchensee Forever | © Flare Film Main
Apa, die Großmutter, die uns am Anfang vorgestellt wird. hat viele Jahre das Ausflugscafé am See geleitet, das seit 1920 von der Familie betrieben wird; ihre Tochter Norma wird ihre Nachfolgerin, und da ist es schon mehr familiäres Pflichtgefühl als Lebenstraum. Auch hier besteht das Material aus Familienfilmen, Fotografien und Zeitdokumenten (wie etwa Zeitungsausschnitten), auch hier ist es die Autorinnenstimme, die im Wechsel mit der Mutter Anna die Erzählung bestimmt, und wie bei Thomas Heise ist auch bei Janna Li Wonders ein Tod das Ende, der die Autorin gleichsam allein zurück lässt mit der Aufgabe, der eigenen Zeit und ihrer Gewalt zu begegnen. Es hilft natürlich, dass Anna von Berufung Fotografin ist und als Volksmusikerin mit der Schwester Frauke auf Tournee in den USA ihre Hippie-, Befreiungs- und Drogenerfahrungen sammelte. Wie einst für den Großvater und doch als exaktes Negativ, so wird auch hier die Rückkehr nicht als Erlösung, sondern als endlicher Verlust empfunden. Jetzt nämlich „kommen Männer ins Spiel“, darunter auch Rainer Langhans, einst Mitbegründer der Kommune 1 und stets changierend zwischen Wirklichkeit, Legende und Medien-Projektion. Alle versuchen in diesem Film sich den anderen zu erklären und sich die anderen zu erklären. Aber viel mehr als bei Thomas Heise, in dessen Erinnerungs-Film immer wieder der unbarmherzige Druck von Verhältnissen und Gewaltbeziehungen greif, bleibt vieles undeutlich, vieles rätselhaft, vieles selbst im Fluss der Rede unausgesprochen und unaussprechbar. Die Dekonstruktion des Familienromans ist hier wohl nicht das Ziel. Eher sehen wir dem Märchen bei einer Transformation zu. Das Märchen der deutschen Heimat legt seinen Mantel ab, das Märchen der deutschen Familie vollendet seinen Kreis, mit einem glücklichen Tod und mit einer, vielleicht, glücklichen Geburt.
 
HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT Der Dokumentarfilm „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ führt uns in die klassische biographische Struktur, zunächst jedenfalls. Thomas Heise geht im Jahr 2019 anhand von hauptsächlich privatem Archivmaterial der Geschichte der Familie des Filmemachers über knapp hundert Jahre nach. Zwei Weltkriege, verschiedene politische Systeme und Schauplätze wie Wien, Dresden, Mainz und Berlin bilden Wendemarken; Schlüsselfiguren sind die Großeltern Edith und Wilhelm, die Mutter Rosemarie und der Vater Wolfgang Heise, sowie deren Söhne Andreas und Thomas.
Heimat ist ein Raum aus Zeit
Heimat ist ein Raum aus Zeit | © GMfilms
Die Erzählung des Films beginnt mit dem Ersten Weltkrieg und endet 2014, dem Todesjahr von Rosemarie. In die Filmaufnahmen sind neben Fotografien auch Zeichnungen der Kinder eingefügt, der Regisseur selbst liest dazu mit einer eher distanzierten Stimme aus Briefen, Aufsätzen und Dokumenten vor. Das kann gar nicht immer zusammen passen, in den Zwischenräumen und Widersprüchen zwischen Bild und Ton öffnet sich ein Raum der Interpretationen und Assoziationen. Der Film ist das Material, aus dem sich erst für Zuschauerin und Zuschauer eine Geschichte ergeben. Und nicht anders verhält es sich mit der Beziehung zwischen dem einzelnen Schicksal und der großen Geschichte. Daher ist der Beginn vor allem wie ein Stein, den man ins Wasser wirft: ein Schulaufsatz des damals vierzehnjährigen Großvaters, der sich gegen den Krieg wendet. Es folgt Wilhelms Eintritt in die Kommunistische Partei und damit eine lange Geschichte der Verfolgung und des Widerstands. Eine der bewegendsten Passagen des Films besteht in der Wiedergabe der Listen mit Namen der jüdischen Menschen, die aus Wien deportiert wurden. Wolfgang Heise, dem Vater des Regisseurs, gelingt in den letzten Kriegstagen die Flucht aus dem NS-Gefangenenlager. So wie zuvor zwischen Wien und Berlin ist die Familie nach dem Krieg zwischen Osten und Westen gespalten; in der DDR wird die Familie Heise zu einem Bestandteil der Wissenschafts- und Kunstszene, die auf das sozialistische Projekt setzt, aber sich nicht von der Partei vereinnahmen lässt. Heiner Müller und Christa Wolf gehören dazu, ein Bruch ist unvermeidlich. Doch mit der Wiedervereinigung kommen nicht Freiheit und Glück, am Ende steht Heiner Müllers „Die Küste der Barbaren“ zu den rechtsextremen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen.
 
INTERMEZZO „Dass die hilflosen Asylgesetzdebatten der Politik nur, im Sinne der Karl-Kraus- Definition von Sozialdemokratie, um eine Hühneraugenoperation an einem Krebskranken kreisen, ist eine Binsenweisheit. ‚Das Boot ist vollʻ oder wird es so oder so bald sein, und auf der Tagesordnung steht der Krieg um Schwimmwesten und Plätze in den Rettungsbooten, von denen niemand weiß, wo sie noch landen können, außer an kannibalischen Küsten. Mit der Frage, wie man diese Lage seinem Kind erklärt, ist jeder allein. Und vielleicht ist diese Einsamkeit Hoffnung.“ (Heiner Müller: Die Küste der Barbaren).
 
SCHWARZE MILCH Kann man mehrere Heimaten haben? Es wäre wundervoll für eine kommende Welt, in der, nach Bert Brecht, der Mensch dem Menschen ein Freund ist. Sehr viel wahrscheinlich ist es im Augenblick noch, zwischen den Heimaten zerrissen zu werden. Davon (unter anderem) handelt der Film „Schwarze Milch“ von Uisenma Borchu, zwischen Deutschland, das noch nicht, und der Mongolei, die nicht mehr Heimat sein kann. Eine Fiktion auf einer fast schon radikal biographischen Spur (die Autorin und Regisseurin ist zugleich die führende Figur) und auch wieder ein Essay auf symbolischer Ebene. Borchu selbst spielt Wessi, ihre Cousine Gunsmaa Tsogzol ihre Schwester Ossi, alle anderen Darsteller sind ebenso Freunde und Familie. Es ist, wie man so sagt, ein Reenactment einer Familiengeschichte.
Schwarze Milch
Schwarze Milch | © 2019 Sven Zellner, Zellner & Borchu Film GbR
In jungen Jahren werden die beiden Nomadenschwestern Wessi und Ossi getrennt. Während Ossi in der Mongolei bleibt, kommt Wessi nach Deutschland und wächst dort heran. Als erwachsene Frau beschließt sie, in die Gobi und zu ihrer Schwester zurückzukehren. Aber das stehen sich nun nicht nur zwei innig verbundene Menschen, sondern auch zwei fundamental unterschiedene Welten gegenüber. Erst ist da gegenseitige Bewunderung: Wessi will am Nomadenleben teilnehmen und von der Schwester die traditionellen Lebensweisen lernen, und Ossi fühlt eine Überlegenheit der so selbstbewusst und frei gewordenen Schwester. Dramatisch wird das, als ein Mann Wessis Interesse erweckt, und sie mit ihrem Verständnis von Sexualität und Liebe die vorgefundene Ordnung empfindlich stört.
 
Es ist die dramatische und auch manchmal tragische Umkehr von Blochs Idee einer Heimat, die einem Menschen in die Kindheit schien und die durch eine tätige Veränderung der Welt errichtet werden könnte. Nämlich das Wissen darum, dass jede Rückkehr, jede Revision von Heimat auch eine Krise ist, eine Spaltung vielleicht auch, Denn einerseits ist hier die Beziehung der beiden Schwestern im Mittelpunkt, aber andererseits sind es auch möglicherweise zwei Seelen in einem Menschen, die sich beide nicht wirklich heimatlich fühlen können, eben weil es immer auch um Ordnungs- und Wertesysteme geht. Die biographische Heimat ist nämlich immer dadurch verwundet, dass man sie verlassen muss, um ein freier Mensch zu werden; und das Utopische zu verfehlen liegt nahe in einer Welt, die nur nach eben diesen Ordnungen und Werten funktioniert.
 
Ossis Jurte ist der verdichtete Ort „Heimat“, der Ort, an dem aus Zärtlichkeit Kampf und aus Kampf Transformation wird.

SCHLAF Noch dramatischer vielleicht als die anderen Filme zeigt „Schlaf“ von Michael Venus, dass zumindest in der westlichen Mythologie zwei Begriffe sich untrennbar und oft verhängnisvoll ineinander schieben: Heimat und Familie. Man konstruiert hier Ideologie aus einer Vorstellung von Heimat jenseits des Familienromans, und man konstruiert Tragödie aus einer Vorstellung von Familie ohne Heimat. Und zugleich wird jede Geschichte, die zu Ende gedacht werden kann, zu dem Punkt führen, an dem beides zu einem radikalen Gegensatz wird: Die Familie, die die Heimat verliert, und die Heimat, die die Familie zerstört. Denn beides ist, wie es scheint, um ein dunkles Herz, um einen wunden Punkt, um ein schuldhaftes Geheimnis konstruiert. „Schlaf“ gehört zu den Filmen, die erzählen, was geschieht, wenn der dunkle Punkt erreicht und das Schweigegebot gebrochen wird.
Schlaf
Schlaf | © Junafilm
Drei Generationen von Frauen in einer Dorfgemeinschaft, die von einer Serie von Selbstmorden verstört wird. Ein Traumtagebuch (man könnte auch sagen: Das internalisierte Märchen, so wie man vom Märchen als veräußerlichten Traum sprechen kann) führt die Protagonisten an einen Déjà-vu-Ort: Stainbach. Als Marlene dort erkennt, wie sich Traum und Wirklichkeit zueinander verhalten, erleidet sie einen psychischen Zusammenbruch und verfällt in der Klinik in einen tiefen Schlaf. Den Ungeheuern, die dieser Schlaf gebiert, muss sich die 19jährige Tochter stellen, es sind Gespenster der deutschen Geschichte, die Schuld der Familie in der Zeit des Nationalsozialismus, die Schuld des Dorfes Stainbach, die Schuld, ohne die „Heimat“ in Deutschland nicht zu denken und nicht zu haben ist.
 
So wird klar, dass man Heimat auch als „Trauma“ übersetzen kann, nicht nur als Traum.  Oder anders gesagt. Es ist ein Märchen-Ereignis, in dem sich ganz direkte Ängste und Wüsche, symbolische Handlungen (von Ablösung und Selbstfindung) und schließlich soziale Ordnungen und Störungen zusammenfinden.

III. (Re-)Konstruktion

Denn ein drittes kommt, nach Biographie und Hoffnung, oder, anders gesagt, nach Nostalgie und Utopie, hinzu, als Erfahrung und Traum, nämlich die Geschichte. „Man kann sich die Geschichte länglich denken. Sie ist aber ein Haufen.“sagt Thomas Heise in seinem Film „Material“. Anders gesagt, je haufenförmiger sich die Geschichte zeigt, desto mehr entspricht sie dem Konstrukt Heimat.
 
Und dies führt uns auf die Spur eines innigen und schwierigen Zusammenhangs, nämlich dem zwischen Heimat und Film. Gewiss kann man, frei nach Peter Handke, behaupten: Im Kino wird auch aus Heimat ein Genre. Und gerade, aber keineswegs nur das deutsche Kino hat Heimat als Genre stets prächtig zu verkaufen gewusst. Aus der faschistischen Mystifizierung wurde da nach dem Zweiten Weltkrieg ein tröstendes Idyll, und noch heute quillt im deutschen Fernsehen, aus Buchhandlungen und Liedtexten dieses Trugbild entgegen: Heimat als das Überschaubare, Geordnete, Menschliche und Natürliche. Man könnte wohl Heimat als audiovisuelles Unterhaltungsangebot als eine „Volksdroge“ bezeichnen.
 
Aber die Beziehungen reichen wesentlich tiefer. Zum einen war (und ist) das Kino (und was an seine Stelle in den Smart Homes unserer Tage trat) ein Ort für die Heimatsuche. Den Ort, an dem die drei Seiten der Heimat, die Biographie (als Identifikation), die Geschichte (als Story) und die Projektion (als Mythos) wieder miteinander zusammen agieren, wenn auch, wie in den ausgewählten Beispielen, nicht auf harmonisch-illusionäre, sondern auf widersprüchlich-poetische Art. Heimat durch die Augen von Künstler*innen gesehen ist meistens nicht besonders „heimelig“. Heimat mag aber auch die fiktive Örtlichkeit sein, an der die drei Dimensionen des Begriffs, das Subjekt, der Raum und die Zeit, zueinander in Beziehung gesetzt werden. Das „Heimatliche“ am Kino ist eine spezielle Gleichung von Raum und Zeit (für das Subjekt, vielleicht auch gegen es), und das bezieht sich nicht allein auf Thomas Heise, der diese Gleichung ja bereits in den Titel rückt. Im Film, hat man (ein wenig platt) gesagt, werde Raum durch Zeit und Zeit durch Raum ausgedrückt, was sofort einleuchtet, wenn man einen Menschen beobachtet, der sich der Kamera nähert oder sich von ihr entfernt. Es geht dabei auch um die Einheit von Blick-Raum, Bewegungs-Raum und Handlungs-Raum (und um das, was an Zeit zwischen ihnen geschieht). In einer schmerzhaften Sequenz zeigt John Ford in seinem Western „The Searchers“, was mit jemandem geschieht, der seinen Handlungs- und Bewegungsraum gleich setzt. Der ursprüngliche Verlust von Heimat ist das Auseinanderfallen von Handlungs-, Bewegungs- und Wahrnehmungsraum. Oder, anders herum, das Auseinanderfallen von subjektiver, gemeinschaftlicher und objektiver Zeit. Wenn in einem deutschen „Heimatfilm“ der fünfziger und sechziger Jahre ein Mensch den Blick- und Wahrnehmungsraum der heimatlichen Idylle verlässt (um zum Beispiel in die Großstadt oder gar ins „Ausland“ zu ziehen), dann kann ihn nur noch reuige Rückkehr vor der biographischen Verdammnis retten. Und die Heimat ist ganz direkt verloren, wenn man eine Uhr zu sehen bekommt, die eine andere Zeit als die der Natur angibt. (In Edgar Reitz grandiosem „Heimat“-Epos ist es, für eine nächste Generation, die Anschaffung eines Fernsehgeräts, die Heimat unwiederbringlich vernichtet.) Kein Wunder, dass sich in den siebziger Jahren im Neuen Deutschen Film eine Form des Anti-Heimatfilms entwickeln musste (inszeniert etwa von Rainer Werner Fassbinder, Reinhard Hauff oder Herbert Achternbusch), der eben diese „Heimat“ nur als Ort des Schreckens und der Gefangenschaft schildern konnten. Wieder eine Generation drauf ist vom „Neo-Heimatfilm“ die Rede, der sich zwischen Idylle und Grauen auf die Ambivalenz des Begriffs einlässt. Wenn man so will, sind die Beispiele dieser Auswahl ein erneuter Schritt der kritischen, poetischen Revision. In diesen Filmen scheint „Heimat“ weder als das Erlösende noch als das Bedrückende und auch nicht als Etwas-von-beidem, sondern in erster Linie als das, was es zu erkunden gilt. Heimat ist die Frage, nicht die Antwort.
 
Denn so wie Heimat als Projektion in die Vergangenheit eine falsche Erinnerung, eine Illusion sein kann, die vielleicht eine traumatische Erfahrung überdeckt, so kann sie auch ein Trugbild für die Projektion eines Ziels sein, und in der großen Erzählung der Heimkehr steckt stets beides. Ob es nun um Odysseus oder den Helden eines B-Western geht, heimkehrend müssen sie erst eine „alte Ordnung“ wieder herstellen (einen vakanten Platz besetzen, eine Rechnung begleichen) und damit haben wir das „Gitter“ der Heimat-Projektion nicht nur für den Film vervollständigt:
 
SUBJEKT – GESCHICHTE
 
FAMILIE – ORDNUNG
 
TERRITORIUM – UTOPIE
 
Auch das Territorium spielt eine besonders filmische Rolle (im Film und als Film), um noch einmal John Ford zu bemühen: Er benutzte den Begriff „territory“ als das, was seine Figuren und ihre Geschichten prägte und was sie, umgekehrt, in Gang setzt (und was sich am Ende dann doch immer wieder als „Fremde“ zu erkennen gibt). Eine Landschaft wird zum Teil der Seele eines Menschen, und umgekehrt ist die Seele eines Menschen nur in einer Landschaft zu entdecken. (Natürlich gilt das auch für eine architektonische Landschaft, einen Stadtteil etwa.) Das eben (und einige der Filme der Auswahl zeigen das nicht ohne Drastik) ist nicht von vornherein eine glückliche Widerspiegelung. Als dunkle Heimat kann „territory“ auch Verzweiflung, Enge und Abgrund zeigen.
 
Heimat ist eine einfache Frage mit unendlich vielen und komplizierten Antworten, Je näher man sich den Begriff ansieht, desto deutlicher wird die Spaltung zwischen Erfahrung und Projektion, und desto deutlicher auch wird die Gefährdung durch die medialen Trostpflaster, die uns Heimat als einen überschaubaren, wohl geordneten und stets von den rechten Menschen am rechten Ort geretteten Raum vorstellen.
 
Daher sind Filme wie diese so notwendig. Sie brechen den Mythos Heimat auf, um die Suche nach der wirklichen Erfahrung von Heimat zu ermöglichen.
 
Anmerkungen
[1] Ernst Bloch: Atheismus im Christentum. Frankfurt/M 1969. S. 95

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