Interview mit der Künstlerin Monaí de Paula Antunes

Lagos - Berlin Residenzprogramm 2020 Lagos_GUF footprint: from 2012-2014 by Global Urban Footprint

Aufgrund der weltweiten Covid-19-Pandemie konnte die in Berlin arbeitende Künstlerin Monaí de Paula Antunes im Herbst 2020 nicht wie geplant nach Lagos reisen. Deshalb wurde ihr Residenzprojekt digital durchgeführt. In dem Interview spricht sie über ihr Projekt und die Herausforderungen sowie Erfahrungen während ihrer digitalen Residenz im letzten Jahr.

Monai de Paula Antunes 2020 © © Monai de Paula Antunes Monai Antunes 2020 © Monai de Paula Antunes

1. Was sind Ihre wichtigsten Eindrücke Ihres Aufenthaltsorts während dem Residenzprogramm?
 
Nachdem sich meine Residenz auf ein digitales Format umgestellt hatte, passte ich persönlich auch den Zeitrahmen an, da ich wusste, dass der ursprüngliche Zeitraum zwischen dem 16. September und dem 31. Oktober nur Sinn machen würde, wenn ich in Lagos anwesend wäre. Aber von Deutschland aus musste ich mit längeren Reaktionszeiten für meine Impulse mit der Community und mein eigenes Verständnis dessen, was "auf der anderen Seite" geschah, rechnen.
Daher könnte ich sagen, dass mein Aufenthalt bereits weit vor dem offiziellen Anfangstermin begann und nie wirklich geendet hat, da ich immer noch mit den Projektbeteiligten in Kontakt stehe und 16/16 gerne bei den letzten Schritten zur Umsetzung ihres eigenen Community-Radios unterstütze.
Man lernt kaum einen Ort kennen,  ohne jemals dort gewesen zu sein, und ich bin dankbar, dass ich mit einem akustischen Format gearbeitet habe, das mir die Möglichkeit bot, Lagos sensorisch zu erleben, ein bisschen freier von der Konformität der sozialen Medien. Die eindrucksvollste Erfahrung war das Engagement, mit dem einige Leute an dem Projekt teilnahmen. Sie benutzten wirklich ihre Handys, um Teile ihres täglichen Lebens aufzuzeichnen und zu registrieren, von den täglichen Arbeitsstunden bis hin zu den #ENDSARS-Protesten.
 
 
2. Was bedeutet die globale Herausforderung der COVID-19-Pandemie für Ihre Arbeit und was sind Ihre künstlerischen Antworten.
 
Schon immer hielt ich Radio für ein vielseitiges Medium und eine lebendige Materie für Kunst und Kreativität, und die Herausforderungen des Jahres 2020 haben dies für viele Leute noch deutlicher gemacht. Trotz der tragischen Umstände hat die aktuelle Krise meine Arbeit und ihre Relevanz für andere Menschen, Gemeinschaften und Orte erhöht.
 
3. Mit Ihrer Forschung und dem damit verbundenen Experiment scheinen Sie die Lücke füllen zu wollen, die schon immer zwischen den Bereichen Kunst und Wissenschaft bestand. Wenn Sie dieser Pseudo-Disziplin einen Begriff geben sollen, wie könnte dieser lauten?
 
Ich glaube, es gibt bereits einen Begriff dafür: „Arts & Sciences Collaboration“(AS), aber Sie haben Recht, wenn Sie meine Praxis eher als Pseudo-Disziplin bezeichnen. A&S lehnt sich mehr an Technik und Wissenschaften an, die sich für ein praktisches, lösungsorientiertes Ziel treffen. Ich denke, was ich mache, ist viel müßiger. Es ist Wissenschaft, da es um Forschung geht. Es ist Kunst, weil es nicht der wissenschaftlichen Strenge folgt. Es gibt viele Dinge, die ich für wissenschaftliche Experimente halte, die ich aber eigentlich nirgendwo anders machen könnte als in den Bereichen der Kunst. Ich nenne es künstlerische Forschung, und ich sehe den Begriff immer häufiger, auch in der akademischen Welt.
 
 4. Mit Ihrem Projekt wollen Sie das Radio, ein mächtiges Instrument der Informationsverbreitung, dekolonisieren. Wie sehen Sie, mit Blick auf die Entwicklung Ihres Projekts, die Beziehung zwischen Radio und Öffentlichkeit in der nächsten Zukunft?
 
Die Entwicklung der zeitgenössischen Kunst von den späten 1950er Jahren bis heute ist für mich die Geschichte, wie Kunst zum öffentlichen Projekt wird, und umgekehrt. Wir haben Phänomene wie die Entwicklung des Kuratierens, der Performance,  der partizipativen und generativen Künste, der Kunst im öffentlichen Raum, und der Landschaftskunst miterlebt...
Für mich sind das alles Wege, auf denen sich Kunst außerhalb der vier Wände von Institutionen weiterentwickelt hat. Das öffentliche Programm ist nach wie vor der kleine Teil des Budgets, welcher der Kulturvermittlung gewidmet ist, während die "ernsten Sachen" immer noch das sind, was in der Ausstellung selbst passiert; aber ich denke, das wird sich bald ändern. Wir sehen bereits mit den 2020er Jahren und den aktuellen Einschränkungen auf öffentlichen Zugang zu Ausstellungsräumen, dass es zu neuen Formen kommen wird. 
Obwohl es enorme Anstrengungen gibt, VR-Umgebungen und Online-Repositorien zu implementieren, die im Wesentlichen Räume und die Kunstwelt, wie wir sie kennen, neu erschaffen, habe ich die Hoffnung, dass sich unter den gegenwärtigen Umständen eine unvermeidliche Emanzipation vollzieht, und das Radio mit seiner komplexen und heterogenen Materialität sowie seinen kulturellen Manifestationen ist ein großartiges Vehikel, um kraftvoll in diesem mächtigen Strom zu fließen.
Workshop Berlin-Lagos Residenz 2020 © © Monai de Paula Antunes Workshop Berlin-Lagos Residenz 2020 © Monai de Paula Antunes

5. Hat die öffentliche Resonanz auf die gemeinsame Schaufensterausstellung mit dem Titel "Transpositioning On Air Processing Archives" bei SAVVY Contemporary Ihre Erwartungen erfüllt, und welche Erwartungen waren das?
 
Ich glaube, „Transpositioning On Air:Processing Archives“ war der Titel der zweiteiligen Radiosendung, die SAVVYZAAR (SAVVYs Radio) ausstrahlte und in der ich und Afope - Savvys Artist-in-Residence (übrigens sehr nett von ihnen, mich mit einzubeziehen) - auftraten. Die Schaufensterausstellung hieß "INSIDE/OUT: Processing Archives". Ich denke, die öffentliche Resonanz war größer als ich erwarten konnte. Der Zeitpunkt und das Format der Ausstellung waren ein echtes Geschenk.   Während der kurzen Zeit der Ausstellung habe ich viele Stunden damit verbracht, den Verlauf der Ausstellung zu dokumentieren und zu beobachten - es war wirklich inspirierend und ich fühlte, dass ich den Ausstellungsbesuchern, die vorbeikamen und sich online vernetzten, etwas bieten konnte, die Klänge und Stimmen aus Lagos in die Straßen Berlins zu tragen.
 
6. Was waren die Herausforderungen bei der Durchführung eines Radioprojekts im Rahmen einer digitalen Residenz? Welche waren Ihre besten Momente und was bedeutet die Distanz für Sie?
 

Da meine Residenz nicht mehr in Lagos - Nigeria stattfand, sondern digital (viel von zu Hause aus mit zwei kleinen Kindern), nahm sie natürlich eine ganz andere Form an, als ich erwartet hatte. Zum Glück ging es bei meinem Projekt von Anfang an um experimentelles Radiomachen, das auch Elemente aus den sozialen Medien mit einbezieht. Die Anpassung an ein Remote-Format war einfach, aber die größte Herausforderung bestand darin, ohne direkten Kontakt die Leute zur Teilnahme zu bewegen. Eine Reihe von Workshops sollte den Teilnehmer*innen den Enthusiasmus für das Projekt und das Radiomachen im Allgemeinen vermitteln. Der schwierigste Teil der Erfahrung war es, mit Menschen zu sprechen und Wissen zu teilen, ohne viel über ihre Interessen und Hintergründe zu wissen, und aufgrund des Online-Formats wenig Interaktion zu haben.
Die Tatsache, dass SAVVY Contemporary in Berlin - die ursprünglich nicht an der Entwicklung meiner Residenz beteiligt war - sich auf meine Umstände und mein Projekt trotzdem einließ, hat die Residenz insgesamt deutlich verbessert. Durch die Möglichkeit, zusammen mit Afopefoluwa Ojo auszustellen, bot mir SAVVY die Chance eines physischen Austauschs und die großartige Gelegenheit, ein "verkörpertes" Ergebnis der in Zusammenarbeit mit 16/16 und den Menschen in Lagos entwickelten Arbeit zu haben.
 
7. Die Zukunft der Archive liegt in der modernen Technologie, da sind wir uns alle - in unterschiedlichem Ausmaß - sicher. Was sind Ihrer Meinung nach die Grenzen dieser Unvermeidbarkeit?

 
Auch wenn die moderne Technologie Prozesse automatisiert, die Zugänglichkeit verbessert, das Gedächtnis erweitert, sollten wir weiterhin darüber nachdenken, wie Informationen durch Erfahrung verbunden werden, und wie manchmal böswillige oder tendenziöse Fundamente der Verbreitung ganze Welten in eine Richtung lenken. Es muss eine Vielfalt an Modellen geben, nach denen Technologie entwickelt wird, sonst vernachlässigen wir weiterhin Geschichten, egal wie ausgefeilt und allumfassend unsere Archive werden.

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