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Inklusive Kunst in Südkorea: Eine andere Art des Sehens


Zwei Personen sehen aneinander vorbei, aber ihre Hände sind damit beschäftigt, sich zwischen Kunstmaterialien hin und her zu bewegen und miteinander zu kommunizieren. So sieht oft der künstlerische Prozess bei der Arbeit mit Menschen mit Sehbehinderung aus.

Ich bin Oum Jeongsoon, Künstlerin, Gründerin und Leiterin des Projekts „Another Way of Seeing“, und arbeite hauptsächlich im Bereich der Malerei. Seit 25 Jahren plane und führe ich unterschiedliche Projekte für Menschen mit Sehbehinderung aus. Dabei beschäftigte mich immer die Frage: „Was bedeutet eigentlich Sehen?“. Die Suche von mir als Künstlerin nach einer Existenz jenseits des Sichtbaren führte auf natürliche Weise zu einer Begegnung mit der „unsichtbaren Welt“. Aus der Grundidee heraus, die Frage „Was bedeutet Sehen?“ mit der Welt der Sehbehinderung zu verbinden, gründete ich 1996 das „Another Way of Seeing“-Projekt und eine Organisation, die das Ganze realisiert.

Das Ziel meiner Arbeit ist es, ästhetische Fragen mit Menschen zu lösen, die wenig visuelle Erfahrung haben. Dieser Prozess spielt meiner Meinung nach auch eine wichtige Rolle dabei, die Sicht- und Denkweise der koreanischen Gesellschaft in Bezug auf Menschen mit Sehbehinderung zu verändern. Weg von einer Gesellschaft, die mit Scheu und distanziert auf sie blickt, hin zu einer inklusiven Gesellschaft, in der sich alle gegenseitig inspirieren und austauschen können.

EIN LABOR FÜR DIE SINNE
Der erste Schritt des Projektes war der Besuch einer Förderschule für Menschen mit Sehbehinderung. Ziel war es, diesen Menschen so oft es geht zu begegnen, um ihre Welt verstehen zu können. Als Freiwillige bat ich darum, in der Schule den Kunstunterricht aller Klassen übernehmen zu können, bekam aber nur mit Mühe die Erlaubnis. Mein plötzliches Erscheinen als Fremde erweckte zwangsläufig Verdacht. Drei Jahre lang unterrichtete ich die Schüler*innen mit Sehbehinderung und verbrachte auch außerhalb meines Kunstunterrichtes viel Zeit mit ihnen. Diese drei Jahre waren für mich die Gelegenheit zu lernen, was ich über die künstlerische Zusammenarbeit mit Menschen, die andere physische Voraussetzungen haben, wissen musste.
  Elephant-Kooperationsarbeit© Another way of Seeing Elephant-Kooperationsarbeit© Another way of Seeing

Die meisten Menschen denken, sie brauchen keine Kunst, wenn sie nicht sehen können. Als ich mit dem Projekt anfing, fand zwar in der Förderschule Kunsttheorie statt, jedoch hatten die Schüler*innen kaum Gelegenheit, mit Kunst praktisch in Kontakt zu kommen oder durch eigenes künstlerisches Schaffen zu lernen.

Ich habe aus dem Alltag mit den Schüler*innen etwas Wichtiges gelernt: Genauso wie die Augen von Menschen ohne Sehbehinderung individuell unterschiedlich sind, variiert auch die Sehkraft sehbehinderter Menschen innerhalb eines breiten Sehspektrums (Vision Spectrum).

Vision Spectrum bedeutet also, dass die Menschen mit Sehbehinderung nicht „nicht sehen können“, sondern „anders sehen”. Dieses Wissen war der Punkt für mich, an dem ich mit sehbehinderten Menschen künstlerische Verbindungen aufbauen konnte. Wenn auch zunächst nur eingeschränkt möglich, konnte ich während des Kunstunterrichts an der Förderschule unterschiedliche Programme entwickeln und direkt in der Praxis ausprobieren. Der Kunstunterricht war damals wie eine Art Labor, indem wir die fünf Sinne testen lassen konnten. Zeichnen, Basteln, Fotografieren, die Herstellung von Parfüm, Kochen und Museumsbesuche waren Teil unserer gemeinsamen Aktivitäten.

Die Menschheit hat sich mit dem Fokus auf das Sehen entwickelt. Darüber hinaus basieren die westliche Weltanschauung auf der Vernunft und Erfindungen auf der Grundlage von Vision. Bilder (visuelle Informationen) sind ein wichtiges Kommunikationsmittel. Die Bedeutung von Bildern im 21. Jahrhundert versteht sich von selbst: Farben, Formen und Symbole umgeben uns überall und sind gleichzeitig soziales Engagement, Bildung und Kommunikationssprache. Die Arbeit mit Menschen mit Sehbehinderung, die seit ihrer Kindheit von dieser Art der Kommunikation marginalisiert wurden, hat mich dazu gebracht, mehr Fragen zu Kunst und Bildern zu stellen: Was ist Schönheit? In welcher Art sind Bilder und Sinne verbunden? Was ist das Unsichtbare?

DER WUNSCH NACH SELBSTAUSDRUCK
Basierend auf diesen Fragen haben wir die unterschiedlichen Programme entwickelt, einschließlich eines Modeworkshops. Denn jeder möchte sich gerne schmücken und durch Mode ausdrücken. Dennoch gestehen viele Menschen mit Sehbehinderung, dass sie sich in ihrem ganzen Leben noch nie selbst Kleidung ausgesucht haben. Sie sind mit Aktivitäten, die für Sehende selbstverständlich sind, noch unvertraut oder müssen sie erst einmal erlernen. Die Perspektive der Menschen mit Sehbehinderung verlieh unerwarteter Weise der bildenden Kunst neue Bedeutung.
  Teilnehmende zeichnen ein Selbstporträt ihres Körpers. ©Another way of Seeing Teilnehmende zeichnen ein Selbstporträt ihres Körpers. ©Another way of Seeing

Im Modeworkshop fangen die Teilnehmenden mit dem Zeichnen ihres Selbstporträts und des eigenen Körpers an. Danach erstellen sie Muster und fertigen die Kleidung an, die sie tragen möchten, und können dadurch ihren eigenen Stil finden. Am Ende des Workshops findet eine Modenschau mit den selbst angefertigten Kleidungsstücken statt. Maler*innen, Bildhauer*innen, Kostümdesigner*innen, Musiker*innen und Modekoordinator*innen werden für die Zusammenarbeit zu jedem Workshop eingeladen.

Die Zusammenarbeit zwischen den Künstler*innen und Teilnehmenden ist wahnsinnig kooperativ. Alle können interaktiv über die Themen diskutieren und sich über ihre Ideen und Gedanken austauschen. Zum Workshop wird jedes Mal auch ein zum jeweiligen Thema passendes Unternehmen eingeladen. Über mehrere Jahre hinweg wurde der Workshop von Samsung C&T, Koreas führendem Bekleidungsunternehmen, unterstützt. Die Sponsoren nutzten teilweise die Ergebnisse des Workshops als Inspirationsquelle für ihre eigenen Kleidungsentwürfe und auch meine Arbeit wurde durch die zyklische Zusammenarbeit stark vorangetrieben.

BEGEGNUNG MIT DEN RIESEN UND SICH SELBST
Neben den Modeworkshops gibt es weitere Projekte wie z. B. das Elefantenprojekt. Es beschäftigt sich vertiefend mit der Frage „Was ist Sehen?“. Das Elefantenprojekt habe ich ins Leben gerufen, um sehbehinderten Menschen die Chance zu bieten, einem der größten Tiere der Erde, dem Elefanten, begegnen zu können. Seit dem Beginn im Jahr 2009 läuft es bereits seit über zehn Jahren. Am Anfang habe ich mit dem Projekt zwölf Förderschulen für Menschen mit Sehbehinderung in Korea besucht. Später habe ich eine Partnerschaft mit dem Elephant Nature Park, einem Elefantencamp in Chiang Mai in Thailand, geschlossen. Seitdem reise ich mit meinem Team, etwa 30 Schüler*innen und Künstler*innen aus Seoul an. Wir verbringen einige Tage im Elefantencamp und fertigen nach der Begegnung mit den Tieren Zeichnungen und Skulpturen an, die die Teilnehmenden durch ihre Augen wahrgenommen haben. Durch die Begegnung mit den Elefanten kann auch ich mir selbst begegnen und für meine Werke und Ausstellungen Inspiration schöpfen.
  Teilnehmende kommen mit Elefanten in Chiang Mai in Berührung. © Another way of Seeing Teilnehmende kommen mit Elefanten in Chiang Mai in Berührung. © Another way of Seeing

Warum aber ausgerechnet Elefanten? In der buddhistischen Schrift Nirvana-Sutra gibt es die Fabel „Die Blinden und der Elefant“. Sie behandelt die Torheit der Menschen zu glauben, dass nur das, was sie sehen, die Wahrheit ist, ohne aber das Ganze sehen zu können. Es ist zwar eine alte Geschichte, aber bis heute wird sie weltweit als Metapher verwendet. Wenn diese Fabel eine Reflexion des Buddhismus darstellt, so kann man das Elefantenprojekt als einen reizvollen künstlerischen Widerstand gegen das bestehende Vorurteil, Kunst sei für Nichtsehende unnötig, verstehen. Gleichzeitig hinterfragt das Projekt, was Sehen eigentlich bedeutet.

Die Begegnung mit den Elefanten in diesem Projekt ist mehr als nur eine einfache Begegnung mit einem Tier. Die Teilnehmenden machen die Erfahrung, durch die Begegnung mit dem großen Lebewesen auch sich selbst zu begegnen und ausdrücken zu können. Ich konnte mich durch dieses Projekt ebenfalls auf natürliche Weise mit aktuellen Themen unserer Gesellschaft beschäftigen, wie beispielsweise Kunst, Sinne, Vielfalt, Ökologie, Behinderung, kreative Bildung und Diaspora. Zudem ermöglicht mir das neue Verständnis, einen umfassenden Ansatz in der Zusammenarbeit zu verfolgen.

Bei jeder Projektplanung und Realisierung ist es mir wichtig, Menschen mit Sehbehinderung mit unserer Gesellschaft zu verbinden. Das Elefantenprojekt ist auch bei Menschen ohne Sehbehinderung beliebt und jeder, der möchte, kann an dem Projekt teilnehmen. Der gegenseitige Austausch zwischen den Welten der Menschen mit Sehbehinderung und bildenden Kunst ermöglicht es uns, einander zu inspirieren und einen neuen Blick auf die gegenwärtige Welt zu bekommen.

Autoreninfo: Jeongsoon Oum arbeitet als Künstlerin und ist Gründerin sowie Leiterin des „Another Way of Seeing“-Projekts.
Weitere Infos zu den Another way of Seeing-Projekten von Oum Jeongsoo unter: www.artblind.or.kr



 

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