Autor: Anton Regenberg
Tu felix Siam ... Meine Zeit im Goethe-Institut Bangkok

Nur einmal während meiner 35-jährigen Dienstzeit hatte mir das Personalreferat des Goethe-Instituts die Wahl zwischen zwei Städten gelassen: São Paulo oder Bangkok. Eine Wahl, die mir nicht schwer fiel. Und so wurde ich für einen vergleichsweise langen Zeitraum (1969-1978) Leiter des Goethe-Instituts in Bangkok, später auch Regionalbeauftragter für Südostasien. Ich kam damals aus einem ziemlich lauten Land - der Vereinten Arabischen Republik Gamal Abdel Nassers, die später wieder Ägypten heißen wird - in ein relativ stilles Land, in dem das dienstliche Hauspersonal lautlos über Teakholzböden huschte, in dem sich Schüler in gebückter Haltung und auf Knien ihrem Ajan näherten, in welchem Traditionen und Privilegien auf einem mir fremden Wertesystem fußten. Es hat eine Zeit gedauert, bis mir bestimmte Klischeevorstellungen vom Tu felix Siam, dem stets lächelnden Thai, suspekt vorkamen: der Bauer, der geduldig seine Felder bestellt, nach dem Motto „Im Wasser sind Fische, auf den Feldern wächst Reis", eine Jugend, die sich kritiklos der Dreieinigkeit von Nation, Religion und König beugt - Klischees, die den Blick für die Realitäten des Alltags verstellten, für die wachsende Unzufriedenheit und Teuerung im Land. Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 1973 fanden in Thailand über 800 Streiks statt, der Reispreis hatte sich verdoppelt, die Zahl der Arbeitslosen war rapide gestiegen.
 
Über diese Probleme wurde natürlich auch in meinen Konversationsstunden gesprochen, an denen Schüler und Studenten, Angestellte, angehende Diplomaten, Künstler und Arbeiter teilnahmen. Die meisten kamen mit dem Bus nach Banglampoo, wo das Goethe-Institut in der Phra Athit Road gut untergebracht war, sie nahmen Anfahrtszeiten von bis zu zwei Stunden in Kauf. Die Gesprächsthemen brachten sie gleich mit: Woher nur dieser mörderische Verkehr in Bangkok? Asphaltstraßen statt Klongs? Hochhäuser statt Holzhäuser? Vom angeborenen oder ererbten Verhalten, Darwin gegen Marx, von Stadt- und Landflucht, von Opiumhandel, Korruption, Prostitution und Sextourismus war die Rede. Wortfelder wurden abgesteckt, Erfahrungen ausgetauscht, Erkenntnisse gesammelt. Natürlich wurden auch Vergleiche gezogen, Analogien hergestellt zwischen Ost und West, zwischen Buddhismus und Christentum, dem homo faber des Westens und dem homo sapiens des Ostens. Die westlich-materialistische Werteordnung wurde von vielen Kursteilnehmern infrage gestellt, Schlüsselbegriffe wie mai pen arai, kraengchai, sanuk und sabaichai wurden auf ihre Sozialfunktionen untersucht. Waren sie noch immer das Maß, mit dem die Thai jahrhundertelang das gesellschaftliche Leben in einer Art sozialem Gleichgewicht gehalten hatten? Das relativ gut funktionierende Nebeneinander von ziviler und militärischer Verwaltung bildete schon damals eine erstaunliche Sonderform der Demokratie à la Thailand. Wie lange ließe sich noch auf diesen Traditionen bauen, sollte man sie weiterverfolgen? Es war für mich die Zeit eines langen Lernprozesses… Vier Jahre später. In den Tagen zwischen dem 6. und 15. Oktober 1973 setzte sich Thailands Jugend ein beachtliches Denkmal der Mündigkeit. Unvergessen der disziplinierte Auszug der 100.000 vom Gelände der Thammasart-Universität am 13. Oktober. Nicht wenige Studenten trugen sonnenschützende Papiermützen, gebastelt aus alten Zeitungen unserer Bibliothek, so kamen Die Zeit, Die FAZ, Die Süddeutsche, Der Spiegel unverhofft zu akademischen Ehren. Unvergessen der Mut, mit dem sich am nächsten Morgen die „Gelben Tiger", vorwiegend Studenten der technischen Colleges, mit ihren safrangelben Stirnbändern den Gewehrläufen einer Eliteeinheit von 600 Mann und 50 Panzern entgegenstellten. Außer Steinen, Stöcken und einigen Molotow-Cocktails hatten sie der gepanzerten Macht wenig entgegenzusetzen. Aber der König war auf ihrer Seite, er ließ die militanten Machthaber außer Landes jagen und berief den moderaten Rektor der Thammasart-Universität zum neuen Premierminister.

Drei Jahre dauerte Thailands demokratischer Frühling, er ließ Blütenträume reifen. Plötzlich war sie da, die junge thailändische Literatur, nach der ich so oft gefragt hatte. The Politician and Other Stories des schreibenden Bauern Khamsing Srinawk, gewidmet „To my Mother, who could not read", Erzählungen vom Leben der Menschen auf dem Land, mit ironischem Biss, oft gallenbitter und ohne Konzession an Sentimentalität oder Folklore. Wir besuchten Khamsing auf seiner Farm. Da waren Kurzgeschichten von Suwanee Sukontha, die den Ehrentitel einer thailändischen Françoise Sagan erhalten wird. Pensri Kiengsiri erzählte humorig und mit viel Liebe zum Detail von ihrer Kindheit im Süden Thailands, sie schreibt Skripts für Kurzfilme und Fernsehnovellen, engagierte Lyrik und Protestlieder. Kritisch-realistische Filme lassen aufhorchen, mit Themen über Prostitution in der Stadt (The Angel), oder die bewegende Geschichte vom Schulleiter auf dem Land (Kru Baan Nok), der Opfer einer korrupten Gesellschaft wird. Gorki und Brecht werden übersetzt, die Theatergruppe Crescent Moon aus Chiang Mai wird mit Brechts Lehrstück „Die Ausnahme und die Regel" auf Reisen gehen, das Stück, durch Thai-Szenen (Likay) aktualisiert, in Dorf- tempeln zur Aufführung bringen. Bruce Gaston komponiert eine Thai-Oper, Chuchok, Wolfram Mehring setzt sie in Szene, sie wird nach Singapur und Hongkong, im Sommer 1978 auch nach Berlin zum Dritten Metamusikfestival eingeladen. Überall ist Aufbruchstimmung, Hingabe, Hoffnung, die von jungen Menschen getragen wird. Sie nutzen die Freiräume, die sie sich erstritten haben, engagieren sich total, unterbrechen Studium und Beruf, um die Menschen auf dem Land und in den Fabriken zu informieren, zu unterrichten, aufzuklären, - nur um zu lernen, dass auch hier zuerst das Fressen kommt und dann die Moral. Die von Brotgebern abhängige Bevölkerung wusste nur zu gut um die wahren Machtverhältnisse im Land. Eingeschüchtert durch Drohungen und Gewalt, auch gekauft mit List und Geld, versagten sie den jungen Leuten die Gefolgschaft. Im Goethe-Institut hält unterdessen der Zulauf zu den Deutschkursen an. Während an Wochenenden zusätzlich acht Klassen eingerichtet werden, während sich in der Bibliothek Studenten und Politiker über die deutsche Verfassung und das deutsche Wahlrecht beugen, während Hans-Günther Mommer mit dem Pro Musica-Orchester (mit M.L.Usni Pramoj als Konzertmeister) im Ausstellungssaal probt, bemalen Kinder die weißgetünchte Institutsmauer. Zwanzig Paneele, jedes 1,50 Meter breit, sind zu bemalen, vielleicht in kleine Kunstwerke zu verwandeln. 60 Kinder sind bei der Arbeit, der TV-Kanal 9 wird „Let's paint the wall" in sein Abendprogramm übernehmen. Noch gibt es in Thailand wenige Kinderbücher. Wir lassen einen Kinderbuchautor und -illustrator aus Deutschland kommen, veranstalten Workshops. Unsere Meet-people-Veranstaltungen sind ein Ort der Begegnung, des Gebens und des Nehmens, die Themen weit gespannt, von Künstlerbegegnungen (Thai lachen gern, Cartoonisten sind beliebt) bis hin zu Begegnungen mit M. C. Chatri Chalerm Yugala, dem thailändischen Prinzen und Filmemacher, den Wim Wenders zu den Berliner Filmfestspielen einladen wird, oder mit Phra Chamroon Magsaysay, dem Abt des Klosters Tham Krabok in der Provinz Saraburi, der Drogenabhängigen einen Weg aus dem Teufelskreis von Konsum, Entzug und Rückfall ermöglichen will. Mit der Deutsch- Thailändischen Gesellschaft in Bonn (DTG) organisieren wir erstmals eine Ausstellung von Gemälden und Grafiken thailändischer Künstler, die in sechs deutschen Städten tourniert und Einblick in die moderne Kunst Thailands vermitteln will. Wir laden Khun Prateep Unsongtham ein, die junge Lehrerin, die im Slumviertel Klong Toey eine Schule für „nicht registrierte Kinder" (Kinder ohne amtlich beglaubigtem Geburtsschein) eingerichtet hat, wir unterstützen sie ideell und materiell mit Wandtafeln, Kreide, Schreibpapier und Malstiften. Günter Grass wird Klong Toey besuchen, Terre des Hommes für ein Jahr die Versorgung der Kinder mit Sojamilch sicherstellen.
 
Doch Thailands krisenanfällige Demokratie findet im Oktober 1976 in einem blutigen Massaker an der Thammasart-Universität, eben an jenem Ort, von dem vor drei Jahren der Sturz der Militärdiktatur ausgegangen war, ein (vorläufiges?) Ende. Das tyrannical trio hatte sich klammheimlich wieder nach Thailand eingeschlichen, es war den restaurativen Kräften gelungen, einen Keil zwischen die Studenten der Universitäten und der Technischen Institute zu treiben. Aus den mutigen „Gelben Tigern" waren blutrünstige „Rote Büffel" geworden. Die Bilder von den blutig geschlagenen, mit Drahtschlingen an Bäumen auf dem Sanam Luang aufgehängten Studenten verfolgten mich wochenlang in Alpträumen. Rot gegen Gelb? War da nicht was, fragte ich mich, als im Frühjahr 2010 wieder schlimme Bilder über die TV-Schirme liefen? Der Konflikt schwelte schon seit 2006, hieß es. Im Dezember 2008 besetzten Tausende von „Gelbhemden" tagelang den Internationalen Flughafen Don Muang und die prächtige Neuentwicklung Suwannaphum Airport.
 
Noch war der Protest friedlich. Der amtierende Ministerpräsident, dem Haftstrafen wegen Korruption und Amtsmissbrauch drohten, hatte sich (wie gehabt) ins Ausland abgesetzt. Er wurde vor allem von den Bauern aus dem armen Norden und Nordosten unterstützt, die wieder mit Versprechungen, mit List und Geld bestochen worden waren. Im April 2010 gehen Zehntausende von „Rothemden" auf die Straße, sie legen Bangkoks Einkaufzentrum lahm, errichten Barrikaden, legen Feuer. Es gibt Tote und Verletzte, bevor das Militär den Aufstand nach Tagen der Gewalt beenden kann. Ungläubig erfahre ich, dass sich auch Khru Prateep Ungsongtham an der Protestaktion beteiligt habe, sie habe letztlich mitentschieden, die Demonstrationen (eine zeitlang?) aufzulösen, um eine noch größere Katastrophe zu verhindern. Im August 1978 hatte Khun Prateep den mit 30.000 US-Dollar dotierten Ramon-Magsaysay-Preis erhalten, später auch den Rockefeller-Award für ihr engagiertes Baht-a-day- School-Programm. Im November 1998, als die Duang Prateep Foundation in Anwesenheit Ihrer Königlichen Hoheit Prinzessin Galyani Vadhana ihr 20-jähriges Bestehen feierte, war ich zufällig mit dem Vorsitzenden der Stiftung, Dr. Sumet Jumsai, in Klong Toey gewesen, hatte Prateep zu ihren Erfolgen gratuliert. Was war in den Folgejahren in diesem Felix Siam passiert, das seit 1932, dem Jahr der Einführung der parlamentarischen Demokratie, 18 Staatsstreiche erlebt hatte? Und wie groß ist die Hoffnung, dass dieser Akt des Aufruhrs der letzte gewesen ist?
 
 
 

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