Durchschnitt einer Gesellschaft  Jessica Normalverbraucherin im Porträt

Eine Mutter mit ihren zwei Töchtern im Arm
Jessica, eine „typische“ Bewohnerin der USA © Monkey Business Images via Canva.com

Gibt es so etwas wie Joe Normalverbraucher oder Joanne Normalverbraucherin in den USA? Eher nicht, denn die US-Gesellschaft ist sehr heterogen. Der Durchschnitt aller soziodemografischen Merkmale zeichnet eine US-Amerikanerin, die eine Ausnahmeerscheinung sein würde. Und dennoch ist es ein lehrreiches Gedankenspiel.

2003 begab sich Kevin O’Keefe auf eine landesweite Suche nach Joe Normalverbraucher, dem „durchschnittlichsten“ US-Amerikaner. Mit einem Notizbuch voller Kriterien bewaffnet, von denen viele widersprüchlich waren, wollte er die Person aufspüren, die alle davon in sich vereinte. Einen Bericht über seine Reise veröffentlichte er in seinem 2005 erschienenen Buch The Average American: The Extraordinary Search for the Nation’s Most Ordinary Citizen (Der durchschnittlicher US-Amerikaner: Die außergewöhnliche Suche nach dem gewöhnlichsten Bürger des Landes).

Die von ihm verwendeten Kriterien hatten ebenso viel mit dem Land an sich wie mit seinen Bewohner*innen zu tun. So suchte O’Keefe beispielsweise nach einer Person, die in einem Umkreis von etwa 150 Kilometern von der Küste und in einem Bundesstaat lebte, der von mindestens einem demokratischen Senator vertreten wurde. „So wie sich der Bericht gestaltet, bekommt man den Eindruck, dass ein Großteil der Bevölkerung unfairerweise nicht berücksichtigt wurde“, schrieb ein Rezensent auf Amazon.

Da hat der Rezensent recht. Wir können Personen generieren, die die Summe der Durchschnittswerte einer Stadt, eines Bundesstaates oder eines Landes repräsentieren. Aber wenn wir all diese Eigenschaften addieren, für wen stehen sie dann eigentlich?

Washington, D. C.

Ashley geht jeden Morgen gegen 7.30 Uhr zur Arbeit. Zuvor macht sie Sport, duscht, stylt sich und trinkt einen Smoothie. Die 34-jährige Schwarze mit Masterabschluss verdient etwa 105.000 Dollar pro Jahr und arbeitet als Portfolio-Managerin einer gemeinnützigen Organisation in Washington, D. C.
Vier Kollegen die sich zusammen freuen und sich ein High-Five geben Ashley, eine „typische“ Bewohnerin der US-Hauptstadt | © Stefan Dahl via Canva.com   Damit entspricht sie in etwa dem Durchschnitt des Bundesdistrikts.  An den meisten der zwei oder drei Tage, an denen sie ins Büro fährt, legt sie den Arbeitsweg in einer halben Stunde zurück. Sie lebt mit ihrem Partner zusammen. Die beiden sind nicht verheiratet und werden es vielleicht auch nie sein – das steht noch nicht fest. Ashley muss nach der Arbeit nicht nach Hause eilen, denn sie und ihr Partner haben keine Kinder – das durchschnittliche Alter der Erstgebärenden in Washington, D. C. liegt zwischen 30 und 35 Jahren.

Wie viele Einwohner*innen des Bundesdistrikts bezeichnet sich Ashley als liberal. Sie befürwortet das Abtreibungsrecht, die gleichgeschlechtliche Ehe und sie ist Mitglied der Demokratischen Partei, der sie im vergangenen Jahr 1.417 Dollar gespendet hat. Bei den Abgeordnetenwahlen in ihrem Wahlbezirk  stimmt sie meistens für die Demokraten. Die Bevölkerung der US-amerikanischen Hauptstadt ist im Kongress jedoch nicht stimmberechtigt vertreten, was Ashley unbedingt ändern möchte.

Ashley ist sowohl eine Ausnahme als auch die Regel für Washington, D. C. Das liegt daran, dass sie sich aus den Durchschnittsdaten für den District of Columbia zusammensetzt, die die US-amerikanische Statistikbehörde und die Verwaltung des Bundesdistrikts erhoben haben. Denen zufolge ist Ashley eine typische Bewohnerin der Hauptstadt und verkörpert die Merkmale der Mehrheit. Schwarze stellen einen etwas höheren Bevölkerungsanteil als Weiße, 53 % der Einwohner*innen sind weiblich mit einem Durchschnittsalter von 34 Jahren.

Nimmt man all diese Eigenschaften zusammen, käme eine Person wie Ashley heraus, die jedoch keineswegs durchschnittlich ist. Das Konstrukt kann nicht standhalten, wenn man die einzelnen Merkmale im Detail betrachtet. Ashley mag repräsentativ für den Bundesdistrikt sein, nicht aber für dessen Schwarze oder dessen weibliche Bevölkerung. Dazwischen liegen Welten.

Wohlstandsschere

Wie ein Großteil der Vereinigten Staaten ist auch Washington, D.C. von starken sozialen Unterschieden geprägt. Der Anacostia River, ein Fluss, der die wohlhabenden, überwiegend von Weißen bewohnten Bezirke 1 und 3 von den ökonomisch schwächeren, mehrheitlich von Schwarzen bewohnten Bezirken 7 und 8 trennt, macht diese Kluft im Bundesdistrikt seit jeher geografisch sichtbar.

Die schwarze Bevölkerung verdient mit 36.000 bis 40.000 Dollar ungefähr ein Drittel des mittleren Einkommens der weißen Bevölkerung und hat eine doppelt so hohe Arbeitslosenquote. Die Wahrscheinlichkeit eines Bachelor-Abschlusses ist hier drei Mal, die eines noch höheren Abschlusses vier Mal niedriger. Eine von sieben dieser Familien ist ernährungsgefährdet und daher mehr als doppelt so anfällig für Übergewicht und dreimal anfälliger für Herzinfarkte.

Der Bundesdistrikt weist eines der größten Gefälle in der Vermögensverteilung der USA auf und eine der drastischsten Vermögensungleichheiten. Zudem ist das wie Median-Nettovermögen landesweit das niedrigste. In einem Arbeitspapier der US-amerikanischen Statistikbehörde, Abteilung für Sozial-, Wirtschafts- und Wohnungsstatistik, aus dem Jahr 2016 wird das Median-Nettovermögen der Bevölkerung des Distrikts mit 52.201 Dollar, das Durchschnitts-Nettovermögen hingegen mit 11.153.890 Dollar beziffert. In der Hauptstadt leben Millionär*innen und Milliardär*innen wie etwa die Bezirk-3-Bewohnerin und Schokoriegel-Erbin Jacqueline Mars oder Amazon-Gründer Jeff Bezos.

Mississippi

Drüben in Mississippi ist der 32-jährige Christopher gerade von seinem Nachtjob als Kassierer nach Hause gekommen. Er ist weiß, hat einen Highschool-Abschluss und bezeichnet sich als konservativ. Als tiefgläubiger Protestant geht er jeden Sonntag, wenn er nicht arbeiten muss, zum Gottesdienst. Wie viele weiße Bewohner*innen des Bundesstaates wählt er die Republikaner, vor allem, weil sie seiner Meinung nach seine Werte vertreten. Er ist gegen Abtreibung und glaubt nur an die Ehe zwischen Mann und Frau, auch wenn er nicht verheiratet ist.
Ein Kassierer steht hinter seiner Kasse und grinst Christopher, ein „typischer“ Bewohner Mississippis | © Robert Kneschke via Canva.com Der Durchschnittsmann aus Mississippi lebt von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck. Er wohnt in einer Zweizimmerwohnung im Souterrain eines umgebauten Hauses für etwa 900 Dollar im Monat zur Miete. Die Mietkosten verschlingen einen Großteil seines Jahreseinkommens von 26.807 Dollar auf, das er früher durch einen Nebenjob als Uber-Fahrer aufgebessert hat. Mit etwas Unterstützung von seiner Mutter kann er sich aber über Wasser halten. Sein Verdienst entspricht dem Durchschnittseinkommen des Bundesstaates, dessen Medianeinkommen bei 49.111 Dollar liegt. Mississippi ist der ärmste Bundesstaat in den USA mit einer Armutsquote von fast 19 Prozent. 

Christopher fährt nur 20 Minuten zur Arbeit, was in Ordnung ist, sofern sein Auto funktioniert und er Benzin hat, was beides nicht immer der Fall ist. An schlechten Tagen muss er zur Arbeit laufen. Auf den öffentlichen Nahverkehr ist außerhalb von Jackson und den Küstenregionen von Mississippi kein Verlass, und deshalb greifen die Menschen nur im Notfall darauf zurück. Samstags holt Christopher seinen sechsjährigen Sohn bei seiner Exfreundin ab und verbringt mit ihm das Wochenende.

Nahezu 50 Prozent aller Kinder in Mississippi leben in einem Alleinerziehenden-Haushalt, der meistens von Schwarzen Müttern geführt wird. Der Durchschnittsmann in Mississippi ist jedoch weiß. Hier beginnt das Konstrukt „Christoph“ zu bröckeln. Auch wenn die Anzahl der Mischehen in den USA insgesamt von 2012 bis 2016 um 0 bis 2,4 Prozent stieg, gehörte der Anstieg von Mischehen im Bundesstaat Mississippi, der historisch gesehen von einer immensen Rassendiskriminierung geprägt ist, zu den niedrigsten im ganzen Land. Um also beide Durchschnittsmerkmale in sich zu vereinen, würde Christoper aus einigen der kennzeichnendsten Normen des Bundesstaates herausfallen.

Ainsi, pour cumuler ces deux caractéristiques moyennes, Christopher devrait se situer en dehors de certaines normes caractéristiques de cette région.

Gesundheit

Christophs Einkommen als Kassierer ist ziemlich gut, liegt aber 400 Dollar über der Einkommensgrenze für den Bezug von Medicaid-Leistungen [Medicaid ist ein Gesundheitsförderprogramm für Menschen mit geringem Einkommen in den USA], auch wenn sein Sohn, wie vorgeschrieben, als sein Unterhaltsberechtigter und nicht der seiner Mutter gilt. Eine Zeitlang fuhr Christopher für Uber, musste den Job aber aufgeben, als sein Auto kaputtging. Eine private Krankenversicherung kann er sich nicht leisten, trotz des Affordable Care Act (ACA) [Der Patient Protection and Affordable Care Act (PPACA), auch als Obamacare bezeichnet, ist ein US-amerikanisches Bundesgesetz, das den Zugang zur Gesundheitsversorgung erschwinglicher machen und vereinfachen soll].

Die Lebenserwartung in den USA beträgt etwas mehr als 77 Jahre, Tendenz sinkend. Zudem wird diese Zahl den Unterschieden in der US-amerikanischen Bevölkerung nicht gerecht. Frauen leben durchschnittlich 80 Jahre, sechs Jahre länger als Männer. Auch zwischen den Ethnien ergibt sich ein ungleiches Bild: Schwarze Männer haben eine Lebenserwartung von 68, hispanische Frauen hingegen von 82 Jahren. Zudem schwankt die Lebenserwartung zwischen den Bundesstaaten: Ein im Jahr 2020 in Mississippi geborener Säugling kann mit einem durchschnittlichen Lebensalter von 71,9 Jahren rechnen, etwa vier Jahre weniger als in D. C. und sechs Jahre weniger als im landesweiten Durchschnitt. 

Die USA sind die einzige wohlhabende Industrienation ohne ein einheitliches staatliches Gesundheitssystem, einem wichtigen Faktor für eine hochwertige Gesundheitsfürsorge. Trotz des Affordable Care Act von 2010 waren 8,3 Prozent der US-Amerikaner*innen 2021 nicht krankenversichert.  Am höchsten war die Quote der Nichtversicherten in Texas mit 16,7 Prozent, dem standen 3,8 Prozent im District of Columbia gegenüber.

Kalifornische Vorstädte

Jessica, verheiratet und Mutter von zwei Kindern, lebt in einer kalifornischen Vorstadt. Morgens weckt die 38-jährige ihre Kinder und hofft, dass die beiden rechtzeitig an der Haltestelle sind, denn Jessica muss zur Arbeit fahren, bevor der Schulbus kommt.
Eine Mutter mit ihren zwei Töchtern im Arm Jessica, eine „typische“ Bewohnerin der USA | © Monkey Business Images via Canva.com Da sie in der Vorstadt wohnt, ist ein Auto für Jessicas Leben unerlässlich. Jeden Morgen braucht sie etwa eine Stunde für die rund 50 Kilometer zum Büro, doppelt so viel Zeit wie Ashley in Washington, DC. Jessica arbeitet als Schulungsleiterin eines lokalen Unternehmens.

Ihre politischen Ansichten beschreibt Jessica als „moderat“. Sie wählt die Demokraten, gehört aber keiner Partei an, unterstützt in den meisten Fällen das Recht auf Abtreibung und hält die Vereinigten Staaten für das großartigste Land der Welt, auch wenn sie anerkennt, dass der Rest der Welt das anders sieht. Sie denkt, dass die Menschen im Allgemeinen ein positives Bild von Vorstädter*innen wie ihr haben. Dass die Demokratie im Land funktioniert, glaubt sie nicht, hat aber noch Hoffnung für die Zukunft.

Wie sich herausstellt, ist ,Joe Normalverbraucher‘ eher eine ,Joanne Normalverbraucherin‘.

Wie sich herausstellt, ist „Joe Normalverbraucher“ eher eine „Joanne Normalverbraucherin“. Jessica repräsentiert die durchschnittliche in den USA lebende Person. Laut der US-amerikanischen Statistikbehörde ist sie eine übergewichtige weiße Frau, etwa 38 Jahre alt, verheiratet, und wohnt mit ihrem Mann und 1,7 Kindern in einem Einfamilienhaus mit vier Zimmern.

Sie fährt allein 26,8 Minuten zur Arbeit und verdient jährlich ca. 67.521 Dollar. Jessica hat eine durchschnittliche Verschuldung von 146.500 Dollar, 122.000 Dollar Eigenkapital und fühlt sich als Teil der Oberschicht. Für ihr Eigenheim im Wert von 244.900 Dollar zahlt sie eine monatliche Hypothekenrate von 1.500 Dollar, sie besitzt zwei Autos, ein Smartphone, eine private Krankenversicherung und erhält eine Rentenzahlung von ca. 20.000 Dollar.

Das ergibt natürlich überhaupt keinen Sinn. Mit 38 Jahren bekommt sie keine Rentenleistungen, darauf haben Frauen erst mit 67 Jahren Anspruch. Bemerkenswerterweise hat Jessica keinen College-Abschluss, verdient aber 26.000 Dollar mehr als ein*e Highschool-Absolvent*in. Das ist nicht unmöglich, aber ist es der Durchschnitt? Die durchschnittliche Bevölkerung der Vororte hat einen College-Abschluss.

Und wie repräsentativ ist Jessica? Obwohl 47 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung im Jahr 2020 verheiratet war, lebte nur ca. 19 Prozent davon unter einem Dach mit Kindern unter 18 Jahren. Demgegenüber wohnte in 30 Prozent aller Haushalte ein unterhaltsberechtigtes Kind oder ein Erwachsener über 65. Jessica hat nichts mit Christopher gemein, dem getrennt lebenden Vater mit gemeinsamem Sorgerecht in Mississippi, und sie hat auch keine Ähnlichkeit mit Ashley, der unverheirateten Schwarzen in Washington, D. C.

Politik

In vielerlei Hinsicht sind die Ansichten der US-Amerikaner*innen ortsabhängig. Etwa 175 Millionen US-Amerikaner*innen wohnen in Vorstädten und kleinen Ballungsgebieten, 98 Millionen hingegen in den städtischen Kernbezirken. Eine Umfrage des Pew Research Center von 2018 ergab, dass mehr Menschen, die mit den Republikanern sympathisieren, in den ländlichen Gebieten ihr Zuhause haben, seine sie Mitglied der Parte oder nicht. Die Mehrheit der US-Amerikaner*innen in den Städten ordnet sich den Demokraten zu oder orientiert sich eher an liberalen Werten. In den vergangenen 20 Jahren, so stellte sich bei der Umfrage heraus, hat sich diese Tendenz noch verstärkt. Die Parteiverbundenheit der durchschnittlichen US-Amerikaner*innen, die wie Jessica in den Vorstädten wohnen, hält sich jedoch in etwa die Waage.

Ende 2021 veröffentlichte das Siena College in New York die Ergebnisse einer Wertestudie, für die mehr als 6.000 US-Amerikaner*innen zu ihren Ansichten befragt wurden. In die Studie wurde eine etwa gleiche Anzahl von Trump- und Biden-Wähler*innen der US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen von 2020 einbezogen. Es zeigte sich, dass sich die US-amerikanische Bevölkerung politisch in fast drei gleichgroße Lager teilt: 35 Prozent links von der Mitte oder eher liberal, 34 Prozent rechts von der Mitte oder eher konservativ und ungefähr 31 Prozent in der Mitte.

Obwohl die Lager gleich verteilt waren, offenbarte die Studie außerdem, dass sich fast alle US-Amerikaner*innen mit einer Reihe zentraler Werte identifizieren: Gleichheit, Freiheit und Fortschritt. Das trifft unabhängig von Ort, politischer Überzeugung, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit und Alter zu.

Unsere drei Durchschnittpersonen aus den USA demonstrieren die beträchtliche Heterogenität im Land im Hinblick auf Familien- und Einkommensverhältnisse, Bildung und Lebenserwartung. Diese statistisch durchschnittlichen Amerikaner*innen repräsentieren einige der Daten, aber keine einzelne Person kann die tiefgreifenden landesweiten Unterschiede abbilden, ganz zu schweigen von der Vielfalt demografischer Merkmale wie Ethnie, Geschlecht und Generation.

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