Aktuelle Musik aus Deutschland  Popcast #3/2025

Popcast #3/2025: Tocotronic © Noel Richter

Mit Musik von: 

Polygonia | Mule Musiq
Ghost Dubs | Pressure
Silvan Strauss | Kabul Fire
Kratzen | 2590573 Records
Tocotronic | Epic Records
Autor und Sprecher (Deutsch): Ralf Summer

 
Warum ist alles so niedrig?
Warum fühle ich nichts mehr?
Mir ist, als wär ich ein Maulwurf
In einem schwarzen Meer
Tocotronic, „Niedrig“
Polygonia

Polygonia | © Lindsey Wang

Gedämpfte verhallte Glöckchen, ein munteres Zwitschern, dubbige Synthtupfer und ein leicht nervöser Breakbeat begrüßen die Hörenden bei Broken Temptation, der letzten Single von Polygonia, dem multidisziplinären Projekt der DJ und visuellen Künstlerin Lindsey Wang aus München. Bekannt wurde sie in den letzten vor allem als Labelbetreiberin und wagemutige Kollaboratorin im Grenzbereich von elektronischer Musik und Jazz. Unter anderem ist sie Teil der Jazz-Techno Band Lyder und hat ein Album mit dem Schlagzeuger Simon Popp aus dem Münchner Squama-Umfeld veröffentlicht. Die verspielten Kompositionen entziehen sich klassischen Kategorien, und das Interesse der Künstlerin an akustischen Instrumenten und kultureller Vielfalt fügen ihren Veröffentlichungen stets überraschende Momente hinzu.
 
Ghost Dubs (Michael Fiedler)

Ghost Dubs (Michael Fiedler) | © Thomas Bieniek

Selten war ein Projektname so deskriptiv wie der des Stuttgarter Klangforschers Michael Fiedler. Unter dem Pseudonym Ghost Dubs hat er auf dem renommierten Pressure-Label ein Album mit wahrlich geisterhaftem Dubtechno herausgebracht, bei dem man deutlich die großen Vorbilder von Basic Channel heraushören kann. Verziert mit klanglichen Experimenten, stellt Michael Fiedler auf seinem Projektdebut Damaged sowohl seine technischen Fertigkeiten als Sounddesigner als auch die bei den Produktionen seiner Avant-Pop-Gruppe Annagemina und dem Reggae-Dub-Projekt Jah Schulz erworbenen Fähigkeiten als Komponist unter Beweis. Aber das soll nicht täuschen: Trotz der vielseitigen Einflüsse ist das Debutalbum von Ghost Dubs ein durchweg homogenes Meisterwerk minimalistischen Dubs geworden, das seinen Spannungsbogen auf Albumlänge hält und sich sehr angenehm durchhören lässt.
Silvan Strauss

Silvan Strauss | © Firas Collin

Kooperation auch über vermeintliche Grenzen hinaus ist das wichtigste musikalische Prinzip für den Hamburger Schlagzeuger und Produzenten Silvan Strauss, was er in bisherigen zahllosen gemeinsamen Arbeiten mit Künstler*innen wie Maria João, Soweto Kinch und Nils Landgren bewiesen hat. Die Mühelosigkeit, mit der er sich in all diesen Kollaborationen leichtfüßig zwischen Jazz und urbaner zeitgenössischer Musik bewegt, ist auch das Markenzeichen seines neuen Sololabums Facing, ein größtenteils instrumentales Album, abgesehen von zwei Tracks mit dem britischen Rapper Oscar #Worldpeace und einem mit dem ghanaischen Sänger Mehdi Qamoum. Die zurückgelehnten HipHop/Urban-Jazz-Kompositionen fließen, unterstützt von den weichen, analogen Beats des Schlagzeugers, unaufgeregt über die überschaubare Albumlänge von einer guten halben Stunde und werden vor allem Fans des Downbeat begeistern, auch wenn die einzelnen Stücke harmonisch vom Jazz gefärbt sind.
Kratzen

Kratzen | © Celina Palenda

So viel wie nötig, aber so wenig wie möglich – dieses Prinzip steht den Arbeiten des Trios Kratzen vor. Sie verstehen sich als moderne Erb*innen des Krautrock und nennen ihren Stil passend „Krautwave“. Ihre Besetzung ist für die im Musikgeschehen übliche Geschlechterverteilung ungewöhnlich – hier sitzt eine Frau am Schlagzeug und es singt (meistens) der einzige Mann. Das jetzt erschienene Album III ist im Vergleich zu den Vorgängern etwas melodischer und fast ein wenig versöhnlich geraten, es wirkt zufrieden – eine Band, die sich musikalisch und inhaltlich gefunden hat. Größere Überraschungen gibt es allerdings nicht, die Band hält an ihrem minimalistischen Prinzip fest. Rhythmisch bis zur Monotonie schnurgerade halten die Drei von der ersten bis zur letzten Note Kurs. Auch wenn mit dem treibenden Opener Reichtum recht gewaltig beginnt, hat das dritte Album der Kölner diesmal auch ausgesprochen ruhige Momente, was ihnen ausgezeichnet steht.
Tocotronic

Tocotronic | © Noel Richter

Die Hamburger Band Tocotronic war 1993 die deutsche Antwort auf die Lo-Fi-Bewegung aus den USA auf Bands wie Pavement und Sebadoh, die ermüdet von den aufregenden Achtzigerjahren ein Zeitalter der philosophierenden Slacker einläuteten. In Cordhosen und jahrzehntealten ausgebeulten T-Shirts gekleidet, ohne jeden Respekt für musikalische Konventionen aber mit einem unvergleichlichen Gespür und einem messerscharfen Blick auf ihre Generation wurden sie durch ihre Weisheit und Schläue zum Sprachrohr einer desillusionierten Jugend, die zwar viel zu sagen hatte, deren privilegierte Situation aber jede Rebellion zur leeren Geste verkommen ließ. Sie waren außerdem eine der zentralen und kommerziell erfolgreichsten Acts der sogenannten Hamburger Schule, einem nur kurzen, aber prägenden Kapitel der deutschen Musikgeschichte. Jetzt, nach über dreißig Jahren Bandgeschichte bringen sie Golden Years, ihr 14. Album heraus. Kaum eine Band ist jemals so würdig gealtert und hat ihrer Generation über die Jahre immer wieder etwas über sich selbst zu erzählen, wie die „Tocos“ es vermögen. Ob bei der antifaschitischen Hymne Denn sie wissen was sie tun oder dem cleveren Abgesang auf die Hauptstadt Bye Bye Berlin, sie kennen all die wichtigen Themen und treffen immer den richtigen Ton.
 

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