Rosinenpicker | Literatur  Chronik eines Scheiterns

Mitglieder und Kandidaten des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.
Mitglieder und Kandidaten des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Bundesarchiv, Bild 183-G0726-0206-001 / CC-BY-SA 3.0

Christoph Hein präsentiert eine umfassende Chronik der Geschichte der DDR. Darin steuern seine Figuren das von ihm so bezeichnete Narrenschiff des sozialistischen deutschen Staates auf seine letzte Klippe hin. 

Christoph Hein, geboren im Jahre 1944 in Heinzendorf im heutigen Polen, gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Deutschlands und als einer der bedeutendsten Chronisten ostdeutscher Geschichte. Dutzende Theaterstücke, Erzählungen und Romane zieren seine Vita. Jetzt legt er mit Das Narrenschiff ein 750 Seiten starkes, monumentales Alterswerk vor, das sich der Geschichte der DDR widmet – von ihrer Gründung im Jahre 1949 bis zu ihrem Untergang, der 1989 mit der Öffnung der Berliner Mauer besiegelt war. Den Titel hat sich Hein von Sebastian Brant entliehen, dessen spätmittelalterliche Moralsatire gleichen Namens im Jahr 1494 erschienen war. Beide Werke zeigen das Bild eines Gemeinwesens, das sich selbst zunehmend als absurdes, orientierungsloses Konstrukt entlarvt. 
Man darf nie gegen die Partei recht haben, denn sie allein hat immer recht.
Karsten Emser 

Opportunisten und Idealisten

Im Zentrum des Romans stehen zwei Familien, die Goretzkas und die Emsers. Sie kehren nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Exil nach Ostdeutschland zurück, und nehmen zentrale Rollen im Aufbau des neuen Staates ein. Da ist einmal Johannes Goretzka – der für das System allzu typische Opportunist, dem die Wandlung vom Nazi zum Kommunisten keinerlei Kopfzerbrechen beschert, und der die Parteilinie ohne große Reflexion ungefiltert übernimmt. Ihm gegenüber steht Karsten Emser, idealistischer Sozialist und Professor der marxistischen Wirtschaftswissenschaften, dessen tiefe Überzeugung ihn daran hindert, die fatalen Schwächen des sozialistischen Systems zu erkennen. 
 
… was ist aus unseren Hoffnungen und Träumen geworden? Wir wollten ein anderes Land, einen anderen Staat aufbauen, friedlicher, solidarischer und vor allem gerechter.
Karsten Emser 
Ein weiterer wichtiger Protagonist ist der Künstler Benaja Kuckuck, enger Freund von Karsten Emser und wenig systemtreuer Freigeist, dessen Kommentar, die DDR sei wohl „(…) ein Schiff voller Narren“ in einem Gespräch über die Geschehnisse des Prager Frühlings im Jahre 1968 den Titel erläutert. Auch die Biografien der Frauen der Familien, insbesondere die der talentierten und zunächst lebensfrohen, später verzweifelten Yvonne Goretzka und die ihrer Tochter Katharina zeigen die unvermeidbaren Spannungen, die das Leben in einem autoritären Staat mit sich bringt.

Die chronologisch aufgebaute Geschichte ankert an historischen Geschehnissen wie am genannten Prager Frühling, dem Volksaufstand in der DDR von 1953 oder der putschartigen Absetzung Walter Ulbrichts im Jahre 1971. Auch weniger bekannte Einblicke in das politische Leben des ostdeutschen Staates wie die ideologischen Zwangs-Nacherziehung von Menschen, die der Staat wieder auf Linientreue zu bringen trachtete, werden geschickt in der Geschichte verwoben. 

Hein: Das Narrenschiff (Buchcover) © Suhrkamp

Graue Bürokratie

Auffällig ist Christoph Heins knochentrockener Erzählstil, ein eher nüchterner Tatsachenbericht mit der Anmutung einer Aktennotiz. Selbst in den Dialogen bleibt er sich stilistisch treu: Hölzern bis zur Absurdität unternimmt der Autor noch nicht einmal den Versuch, seine Figuren menschlich wirken zu lassen: 
Und außerdem, meine Liebe, hätte ich dann nie ein Fräulein Rita Lewander kennengelernt, sondern nur attraktive oder auch weniger attraktive Chefsekretärinnen. Du bist mir viel zu wichtig, mein Herz. 

Schön zu hören, Liebster. Wenn das ein Professor sagt, muss es ja stimmen.
So viel Distanz zeigt Wirkung. Das Klischee der DDR, ein grauer Bürokratenladen gewesen zu sein, in dem die Vorgaben des Zentralkomitees fraglos und klaglos mit größter Genauigkeit und grenzenloser Spießigkeit durchexerziert wurden, lässt sich kaum besser in Szene setzen, als es Christoph Hein hier in schonungsloser Brutalität durchzieht. Der Staat, der als antifaschistisches Gegenmodell zur Bundesrepublik gegründet worden war, und der bald darauf zunehmend in Repression, Bürokratie und ideologischer Erstarrung versank, ersteht beim Lesen neu. Ebenso klanglos geht er wieder unter – und es wird spürbar, warum das so war: Dem Land fehlte jede Seele. Seine Ideologie war ein von einem Grüppchen älterer, nach Macht gierender Herren vorgegebenes minutiöses Regelwerk, dessen blinde Befolgung der einzige Weg war, in diesem Land zu bestehen. Ideale wie Gerechtigkeit, Solidarität und Antifaschismus wurden im Laufe der Zeit pervertiert – durch ein System, das sich selbst ad absurdum führte. 

Empathische Analyse

Trotzdem ist Das Narrenschiff keine Abrechnung. Die Figuren sind keine Zerrbilder, ihre Motive, Ängste und Hoffnungen bleiben nachvollziehbar. Die „Narren“ sind meist Getriebene, die sich in einem System zurechtfinden müssen, das ihnen kaum Handlungsspielraum lässt. Es stellt sich immer wieder die Frage, wann aus Kompromissen Komplizentum, aus Überzeugung Opportunismus wird. Hein zeigt, wie sich Menschen in einem autoritären System arrangieren – aus Angst, aus Bequemlichkeit oder aus echter Überzeugung. Dabei spart er auch die dunklen Seiten nicht aus: Intrigen, Überwachung, Verrat und die allgegenwärtige Präsenz der Stasi durchziehen das Buch wie ein unsichtbares Netz. 
 
Etwas in diesem Staat war faul, war oberfaul.
Benaja Kuckuck 
Christoph Hein baut mit dem Narrenschiff dem untergegangenen Staat ein literarisches Denkmal, das diesen weder verklärt noch verteufelt, sondern differenziert, empathisch und klug analysiert. Es liest sich flüssig und angenehm, wirkt allerdings sprachlich distanziert und bisweilen unbeholfen. Am Ende bleibt ein tiefes Verständnis dafür, wie der sozialistische deutsche Staat entstanden ist, woran er krankte und warum er von Vornherein dem Untergang geweiht war. Ein großer Roman.
 
Christoph Hein: Das Narrenschiff. Roman
Berlin: Suhrkamp, 2025. 750 S.
ISBN: 978-3-518-43226-6
Diesen finden Sie Titel auch in unserer Onleihe